[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 10, 15. Mai 1895, S. 73 f.]
„Mulier taceat in ecclesia“, die Frau soll in der Gemeinde schweigen, oder wie der Abwechslung halber der ultramontane Herr Bachem zitierte: „Mulier taceat in foro“ die Frau soll auf dem Forum, soll in der Öffentlichkeit schweigen, diese hausbackenste und zopfigste aller Spießbürgerweisheit wurde wieder einmal von der Tribüne des Reichstags herab verkündet. Anlass dazu bot der sozialdemokratische Antrag, der Bundesstaaten Vereins- und Versammlungswesen von Reichs wegen einheitlich und in freiheitlichem Sinne zu regeln; das unbeschränkte Vereins – und Versammlungsrecht, die volle Koalitionsfreiheit auch dem weiblichen Geschlecht einzuräumen. Wie hätte auch angesichts solch frevlen Verlangens der Vulgärpolitiker sich die billige Gelegenheit entschlüpfen lassen, aufs Neue zu bekräftigen, dass er als blinder Hödur den Zeichen der Zeit, gewissen sozialen Notwendigkeiten gegenübersteht, dass er von dem Beispiel so mancher anderen Staaten nichts, aber auch gar nichts gelernt hat! Und so ließ denn der fromme Herr Bachem unter Beifall von rechts und links den alten, ach, gar so alten und vertrauten Ausspruch dem Zaum seiner Zähne entspringen.
Das war vorauszusehen. Das Zitat gehört zur Gattung der Worte, die stets zu rechter Zeit sich einstellen, wenn Begriffe, wenn Beweise fehlen. Es gehört zu dem eisernen Bestand banaler Redensarten, mit denen Philistermoral die Forderung der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts abtun zu können wähnt. Und dadurch, dass das Wort schon so altersgrau ist, hat es nicht an Wahrheit gewonnen, dadurch, dass es wieder und wieder gekäut ward, nahm es an Beweiskraft nicht zu. Umgekehrt: die wirtschaftliche Entwicklung, welche die politischen Rechte der Frau heischt, lässt sich durch Gemeinplätze nicht Halt gebieten. So ist bei jeder Wiederholung das Missverhältnis zwischen Redensart und tatsächlichen Zuständen ein immer größeres und gelangt zur Erkenntnis immer breiterer Kreise.
Beweiskräftiger wurde der Gemeinplatz auch nicht dadurch, dass ihn Herr Bachem, den ahnungsreichen Busen schmerzzerissen, durch den Kassandraruf vervollständigte: „Die Zulassung des Weibes zu politischen Dingen würde Anarchismus sein!“ Und an Güte gewann er auch nicht dadurch, dass ihn der Zentrumsredner durch einen weiteren Gemeinplatz stützte: „Denn es ist gegen die Natur.“
Merkwürdig, dass – wie Bachofen, Morgan und Andere noch unwiderleglich nachgewiesen – die so vielberufene „weibliche Natur“ im Altertum sich prächtig abgefunden hat mit einer wesentlich anderen als der heutigen sozialen Stellung der Frau, mit einer sozialen Stellung, welche dem „schwachen Geschlecht“ nicht bloß eine unbehinderte, sondern eine ausschlaggebende Betätigung im öffentlichen Leben ermöglichte. Merkwürdig auch, dass trotz der viel berufenen allgemeinen „weiblichen Natur“ die Frau sich abfindet: in der Türkei etc. mit dem abgeschlossenen, vegetativen Haremsleben; in England und Schweden, in den meisten der Vereinigten Staaten, in Neuseeland und Südaustralien mit dem Besitz und der Ausübung von mehr oder minder vollständigen politischen Rechten, mit dem Raten und Taten auf den verschiedensten Gebieten kommunalen und staatlichen Lebens.
Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass die vom Philister als waltendes Fatum heraufbeschworene „weibliche Natur“ durchaus nicht das unfassbare, mystische Etwas ist, das, verschleiert von den Weihrauchdämpfen poetischer Verklärung oder von dem prosaischeren Brodem der auf dem häuslichen Herde schmorenden Gerichte, in ewig starrer Unwandelbarkeit über den wogenden Wassern der sozialen Verhältnisse schwebt. Auch für die „weibliche Natur“ gilt die Binsenwahrheit, dass sie nicht schiebt, sondern geschoben wird, dass sie sich ändert mit der Zeit, mit dem Land, mit den Produktionsbedingungen, mit der Klassenzugehörigkeit, kurz durch die Gesamtsumme der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche Entwicklung und Existenz der einzelnen Frau beeinflussen.
Und so sinnenfällig sind die diesbezüglichen Tatsachen, dass sich sogar Herr Bachem – trotz seines frommen Köhlerglaubens an die politische Unbeflecktheit der „weiblichen Natur“ – zu einer Konzession bequemen muss. Er anerkennt die Notwendigkeit, „den Frauen eine gewisse Koalitionsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiete einzuräumen, damit sie ihre wirtschaftlichen Interessen wahren können“. Noch einen Schritt weiter, und Herr Bachem hätte die Notwendigkeit anerkennen müssen, gerade behufs Wahrung wirtschaftlicher Interessen den Frauen die volle Koalitionsfreiheit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete, überhaupt volle politische Rechte zu verleihen. Denn die bürgerliche Frau bedarf dieser Rechte, um mittels ihrer im Kampfe gegen den Mann ihrer Klasse wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erringen und damit die Möglichkeit eines freien Auslebens ihrer Individualität. Die proletarische Frau aber bedarf dieser Rechte, um mittels ihrer zusammen mit dem Mann ihrer Klasse im Kampfe gegen den ausbeutenden Kapitalisten und die kapitalistische Gesellschaft ihre wirtschaftliche Freiheit zu erobern als Vorbedingung einer freien Entfaltung und Betätigung ihres Wesens.
Herr Bachem hat diesen Schritt der Erkenntnis nicht getan. Der Mann, der vom Standpunkte eines mittelalterlichen Kanonikus aus sich den Kopf der Sozialdemokratie über die Fährnisse des „Zukunftsstaates“ zerbricht: hat selbstverständlich weder Augen für das keimende geschichtliche Leben der Gegenwart, noch Ohren für die Reformforderungen, welche die Verhältnisse mit eherner Stimme heischen. Der Standpunkt des reaktionären und seichten Sozialpolitikers Bachem hat uns deshalb nicht überrascht. Dafür hat uns der Standpunkt des Ultramontanen Bachem um so angenehmer belustigt. Man genieße die volle, unfreiwillige Komik folgender Situation: Herr Bachem warnt mit erhobenem Schulmeisterfinger vor der „Zulassung der Frau zu politischen Dingen“. Und Herr Bachem ist Ultramontaner, d. h. ein politischer Vorkämpfer der katholischen Kirche, der Macht, die zu allen Zeiten systematisch und mit unübertroffen feiner Virtuosität die politischen Verhältnisse durch die Frauen beeinflusst hat!
In der Tat, wenn der Herr die Herzen der Gewaltigen und Mächtigen dieser Erde einmal nicht sichtbarlich lenkte wie Wasserbäche in der Richtung einer kirchennützlichen Politik: hat die katholische Kirche allzeit mittels von schönen und klugen Frauen der Vorsehung korrigierend nachgeholfen, und zwar ließ sie in diesem Falle in edlem Gleichheitsdrang und ohne Ansehen der Person sowohl „legitime“ als „illegitime“, pardon! „allerhöchst-illegitime“ Frauen zu politischen Dingen zu. Der Herr bedient sich eben auch „eines sündigen Gefäßes“, um seine Kirche zu schirmen, nicht so, Herr Bachem?
Dass es aber der Klerus auch keineswegs verschmäht, die Masse des Volkes in politischer Hinsicht durch den Einfluss der Frauen zu gängeln, ist ebenso eine allbekannte Tatsache. In so und so vielen katholischen Gegenden marschiert die Bevölkerung in der Gefolgschaft des Zentrums dank des Einflusses, den der Geistliche im Beichtstuhl auf die Frauen und durch die Frauen auch auf die Männer ausübt. Und während die Kirche jederzeit und überall die Frau als politischen Faktor mobilisiert und in die politischen Tageskämpfe schleudert, deklamiert der ultramontane Herr Bachem im Namen der „Natur“ grotesk dagegen, dass die nämliche Frau, ausgerüstet mit politischen Rechten, sich am politischen Leben betätige, nicht mehr im Schatten des Beichtstuhles und Alkovens, sondern im Lichte der Öffentlichkeit, nicht mehr als schleichende Intrigantin, sondern als geschulte Vollbürgerin! „Der Kasus macht mich lachen.“
Übrigens ist Herrn Bachems Haltung in der Frage nicht bloß komisch. Sie beweist vielmehr wieder einmal die alte, ewig junge Wahrheit, dass die Götter mit Blindheit schlagen, wen sie verderben wollen. Die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, seine unbehinderte Anteilnahme am politischen Leben und Kämpfen, wird in absehbarer Zukunft zum einzigen Mittel des Zentrums, sich eine Zeit lang seine politische Machtstellung zu erhalten.
Mehr und mehr politische Aufklärung trägt die Sozialdemokratie in die proletarische Masse der katholischen Wähler, mehr und mehr schwindet der politische Besitzstand der Ultramontanen zusammen. Bei einer normalen Entwicklung der Dinge ist der Zeitpunkt nicht fern, wo das Zentrum auf die politisch durchschnittlich rückständigen und ungeschulten Frauen als auf seine einzige Reserve zurückgreifen muss. Belgien zeigt uns das Beispiel. Nach dem glänzenden Wahlsieg der sozialistischen Partei wurde dort von klerikaler Seite die Forderung erhoben, den Frauen das Wahlrecht zu verleihen, „weil sie noch unter dem Einfluss der Geistlichen ständen, und man in der Folge vermittelst ihrer der sozialistischen Bewegung einen Damm entgegensetzen könne“.
Bei einem gesetzmäßigen Gang der Entwicklung und des Klassenkampfes ist gar nicht ausgeschlossen, dass auch in Deutschland das Zentrum mit der ihm eigenen Wandlungsfähigkeit eines Tages die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts fordert. Allerdings, wenn es zu spät ist, so dass die Umwandlung in Paulus aus Saulus der Partei der Kapläne nicht mehr zu wesentlichem und längerem Nutzen gereicht. Denn die Sozialdemokratie legt unterdes die Hände nicht müßig in den Schoß. Durch ihre politische Existenzberechtigung, durch das Klasseninteresse des kämpfenden Proletariats gezwungen, trägt sie das Evangelium von der Befreiung der Arbeit und der Befreiung der Frau in die entferntesten Winkel. Und wenn das Zentrum eines Tages aufstehen sollte als Vorkämpfer für die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, und wenn dieses politischen Ellbogenraum erhielte: so würde sich bald zeigen, dass die Sozialdemokratie die Ultramontanen im Wettrennen um die arme Frau schlägt, wie sie dieselben im Wettrennen um den armen Mann mehr und mehr überflügelt.
Wir wissen, dass in Deutschland die Frau wahrscheinlich länger als sonst wo warten muss, ehe sie sich als Bürgerin im politischen Leben und innerhalb der öffentlichen Körperschaften betätigen kann. Aber dafür ist sie wenigstens eines Vorteils sicher: dass sie nicht mehr mit Leuten zusammenwirken muss vom Schlage unserer seichten und blöden heutigen Vulgärpolitiker. Der Vorteil mag Vielen gering erscheinen. Wer aber gezwungen ist, von „amtswegen“ gewissenhaft das Raten und Taten unserer bürgerlichen Politiker und Talmistaatsweisen zu verfolgen, der wird sogar ihn nicht allzu gering anschlagen.
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