[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 16, 9. Mai 1910, S. 241 f.]
Ein Zwischenspiel „der Bettleroper“ ist vorüber, die als parlamentarische Behandlung der preußischen Wahlrechtsfrage über die Bühne der Geschichte geht. Es hatte eine andere Szenerie, und andere Spieler agierten auf den Brettern wie bisher. Der Schauplatz war aus dem Dreiklassenhaus in das Herrenhaus verlegt, statt den Erwählten von Geldsacks Gnaden waren es nun die Bevorrechteten des Geburtszufalls oder der Berufung auf Grund eines Amtes, die das Los über des Volkes Recht warfen. Im Wesen blieb das Spiel sich gleich, nur dass es den gewandelten Kulissen und seinen neuen Trägern entsprechend brutaler und zynischer als seither ausfiel. Wer das Wesen und den Zweck der Häuser kennt, in denen die geborenen und berufenen Gesetzgeber ihres Amtes als Rückwärtser walten, der wird davon weder überrascht, noch gar enttäuscht sein. Alles in allem können wir es den Herren nur Dank wissen, dass sie selbst die Aufmerksamkeit der politisch geknebelten Massen wieder und wieder auf die Gemeingefährlichkeit der Institution zwingen, die einem Händchen voll zwiefach Bevorrechteter die Macht verleiht, über die Interessen und Rechte der Millionen zu Gericht zu sitzen. Sie erleichtern uns damit unsere Aufklärungsarbeit und prägen es den Habenichtsen unauslöschlich ins Bewusstsein, dass die Eroberung des demokratischen Wahlrechts in Preußen nur die nächste Etappe im Ringen für die volle politische Demokratie ist, und dass der Kampf um dieses Wahlrecht alle politischen, alle sozialen Gegensätze enthüllt und verschärft, welche die preußisch-deutsche Ordnung in sich birgt.
Man brauchte nicht Prophet zu sein in Israel, um zu wissen, wie das parlamentarische Zwischenspiel vor dem Herrenhaus enden würde: nämlich mit einer weiteren Verhunzung der Wahlrechtsreform, mit einer dreisteren Verhöhnung der Forderungen des Proletariats. Hier, wo die Bevorrechteten gänzlich unter sich sind, wo sie nie mit der „harten Notwendigkeit“ rechnen müssen, der wählenden „Canaille“ Rede und Antwort über ihr Tun und Lassen zu stehen: gab sich der Hass gegen die Demokratie überhaupt, gab sich im besonderen die Todfeindschaft gegen das demokratische Recht der Ausgebeuteten ungeschminkt, maskenlos. Im Handumdrehen haben die Herrenhäusler den Geldsackcharakter des geltenden Dreiklassenwahlrechts noch bösartiger gestaltet. Von „kleinen Geschenken“ abgesehen, welche den politischen Einfluss der Besitzenden stärken und befestigen, dienen diesem erhabenen Zwecke die Maximierung der anzurechnenden Steuerbeträge, die Einführung neuer Kategorien privilegierter Wähler, vor allem aber die Festlegung größerer Bezirke für die Steuerdrittelung. Die ausgeklügelte Rangliste derer, die als „Kulturträger“ aus der dritten in die zweite und aus der zweiten in die erste Wählerklasse versetzt werden sollen, ist so ziemlich das Willkürlichste und Chinesenhafteste, was politischer Widersinn auszuhecken vermag. Aber freilich: dieser Widersinn hat „Methode“. Die „beförderten“ Offiziere, Handelsrichter, unbesoldeten Magistratsmitglieder, Professoren, Doktoren, Pastoren usw. usw. sollen mit dem Schein ihrer Amter und Diplome das schreiende Unrecht vergolden, dass mehr als sechs Millionen Wähler als arme Teufel in der dritten Klasse eingesperrt und durch kaum eine Million „besserer“ Staatsbürger politisch erdrückt werden. Die großen Drittelungsbezirke aber werden fürderhin den Vertretern des klassenbewussten Proletariats den Weg zum Dreiklassenhaus so gut wie vollständig verbarrikadieren. Dieser ihr Zweck wurde offen und mit der Unzweideutigkeit des sich stark fühlenden Straßenräubers ausgesprochen.
Die leitenden Auffassungen, welche von den Herrenhäuslern proklamiert wurden, sind fast noch bedeutsamer als ihre Entscheidungen. Sie zeigen klar, was ist und wohin die Reise gehen soll. Da wurde die Notwendigkeit verkündet, unübersteigliche gesetzliche Schranken gegen die weitere Demokratisierung des Wahlrechts zu errichten. Und der Ministerpräsident gelobte mit erhobenem Schwurfinger, dass seine starke Regierung auch ohne solche gesetzlichen Schranken mit allen Bestrebungen nach Erweiterung des Rechts der Massen fertig werden würde. Dieser Ministerpräsident ist im Nebenamt gleichzeitig Kanzler eines Reiches, zu dessen verfassungsgemäßen Grundlagen ein Parlament gehört, das mittels des allgemeinen Wahlrechts – wenigstens der Männer – zusammengesetzt wird! Freilich: wie ward dieses Wahlrecht geschmäht und gehöhnt, fast ebenso viel wie die Massen selbst, denen es politischen Einfluss verleiht. Es ist das Recht, von dem Herr v. Burgsdorff behauptete, dass es „nach den Leuten auf der Straße auch für die Säuglinge in der Wiege eingeführt werden soll“. Wozu zu bemerken wäre, dass von dem erhabenen Standpunkt dieses Staatsweisen aus der Säugling eines Mannes auf der Straße mindestens den gleichen Anspruch als „geborener“ Gesetzgeber hätte, wie der älteste Mummelgreis aus erlauchtem Geschlecht.
Die schärfsten Angriffe erfuhr jedoch das Reichstagswahlrecht nicht einmal von den preußischen Granden, vielmehr von einer Leuchte der bürgerlichen Intelligenz, von einem Vertreter des bürgerlichen Liberalismus. Es war ausgerechnet ein national-liberaler Professor, Herr Löning-Halle, der am heftigsten mit zäher Tücke gegen das Reichstagswahlrecht hetzte. Seine Bannflüche wider diese „unheilvolle“ Institution gipfelten in der Erklärung: „Vor die Frage gestellt, ob wir in Preußen das allgemeine Wahlrecht einführen sollen oder nicht, sage ich, dass ich dann lieber im Reiche das allgemeine Wahlrecht abschaffen würde.“ Einer Zierde der bürgerlichen Wissenschaft, Professor Hillebrand-Breslau, blieb es vorbehalten, einen Antrag einzubringen, der die Wiederherstellung der öffentlichen Abstimmung forderte, überhaupt haben sich die meisten Männer der Wissenschaft im Herrenhaus als Steigbügelhalter der verstocktesten Arbeiterfeinde erwiesen. Kein einziger aber von ihnen hat seine Stimme für das Recht der Massen auch nur in dem bescheidenen Umfang erhoben, wie es einige Oberbürgermeister großer Städte verteidigt haben. Diese Tatsachen müssen wie Reif in der Frühlingsnacht auf die Blaublümelein der Hoffnungen einiger weniger „Realpolitiker“ fallen, dass die bürgerliche Intelligenz des Herrenhauses das Reformungeheuer des Abgeordnetenhauses etwas reputierlicher zurechtstutzen werde. Diese Hoffnungen sollte schon der Umstand im Keime knicken, dass das Herrenhaus zwar von einem geisteskranken König ins Leben gerufen wurde, aber all diese langen Jahrzehnte mit dem Segen und dem Willen des Bürgertums besteht.
Im Einverständnis mit der Regierung haben die Herrenhäusler das schimmelige, harte Reformbrot des Geldsackparlamentes durch einen bloßen Stein ersetzt. Die letzte Schuld für diese blutige Verhöhnung und Verachtung der Massen liegt im Abgeordnetenhaus, und dort wiederum vor allem beim Zentrum.
In der Tat: hätten die Parteien des Abgeordnetenhauses, die sich grundsätzlich zum Reichstagswahlrecht bekennen, nicht bloß reformfreundlich die Lippen gespitzt, sondern reformfreundlich gepfiffen; hätten sie der Sozialdemokratie gleich im Lande eine Massenbewegung für ihre prinzipielle Forderung in Fluss gebracht: keine Regierung, kein Herrenhaus würde gewagt haben, der Wahlrechtsforderung so frech ins Antlitz zu schlagen, wie es geschehen ist. Am meisten aber gilt dies für das Zentrum.
Es ging hin und verriet beim Kuhhandel mit den Konservativen seinen grundsätzlichen Standpunkt und das Recht der Ausgebeuteten, ehe noch die Hähne in der Kommission dreimal gekräht hatten. Und dies, obgleich es von allen den genannten bürgerlichen Parteien den größten politischen Einfluss für das demokratische Wahlrecht in die Waagschale werfen, die breitesten Massen dafür mobilisieren konnte.
Nach der Lage der Dinge bleibt es für das Proletariat ziemlich gleichgültig, wie zunächst das Zwischenspiel „der Bettleroper“ im Herrenhaus, wie ihr Schlussakt im Dreiklassenparlament ausgehen wird. Es weiß heute schon, dass das Spiel mit einer Prellerei endet, mag diese sich in mehr oder minder anstößige Formen kleiden. Und es zieht die richtige Lehre daraus: nicht in den bürgerlichen Parlamenten, in der Entfaltung und Geltendmachung seiner eigenen Macht liegt die Bürgschaft für den endlichen Sieg im Wahlrechtskampf. Die Parlamente verzeichnen nur, was die politische Macht der Massen außerhalb der Parlamente erzwingt. Kampf für das Wahlrecht bleibt daher die Losung des Proletariats. Die Mittel und Waffen zu diesem Kampfe wählt es entsprechend seiner Klassenlage und seiner historischen Einsicht. Es beachtet bei seiner Marschroute die Bewegungen des Feindes, lässt sie sich jedoch nicht von ihm diktieren. Mit seiner Politik, der die grundsätzliche Auffassung des Sozialismus Ziel und Kompass gibt, nimmt es auch in dem gegenwärtigen Kampfe, mitten in der bürgerlichen Gesellschaft, ein Stück jener menschlichen Freiheit vorweg, „Geschichte zu machen“, deren vollen Genuss erst die sozialistische Ordnung der Menschheit bringt. Dadurch unterscheidet sich seine Politik, sein Kampf von dem grundsatzlosen Fortwursteln der bürgerlichen Parteien. Von ihrer geschichtlichen Erkenntnis beseelt, bereitet die Sozialdemokratie die Massen auf den Gebrauch aller Machtmittel vor, welche die proletarische Klassenlage den Ausgebeuteten in die Hand legt, und deren Anwendung die Not der Stunde gebieten wird. Wenn das Proletariat mit gewaltiger Faust auf die Bühne des öffentlichen Lebens schlägt, werden am Ende alle parlamentarischen und regierenden Puppen der bürgerlichen Welt doch tanzen müssen, wie es will.
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