(eigene Übersetzung des englischen Textes in Socialism Today, Nr. 53, Januar 2001)
Eine besudelte US-Wahl, die vom „republikratischen Duopol der Großkonzerne dominiert wurde, hat eine vergiftete Präsidentschaft hervorgebracht. Bush, der mit falscher Demagogie in den Wahlkampf gezogen ist und das Weiße Haus durch einen Nach-Wahl-Putsch an sich gerissen hat, hat keine Lösungen für den wirtschaftlichen Abschwung und die kommende soziale Unruhe. Der positivste Aspekt der Wahl war Naders radikale Kampagne, die 2,8 Millionen Stimmen gewann. Mehr denn je, schreibt Lynn Walsh, ist eine Massenpartei der Arbeiter*innenklasse notwendig.
„Was sich gerade in Amerika abspielt“, donnerte das „Wall Street Journal“, ‚würde in jeder gewöhnlichen Bananenrepublik als … Versuch eines Staatsstreichs erkannt werden‘. („Wall Street Journal Europe“, 14. November 2000) Laut dieser Stimme der weltgrößten Finanzspekulant*innenbande wurde der Staatsstreich von Al Gore versucht, der die Neuauszählung strittiger Stimmen in Florida forderte. In Wirklichkeit war es Bush, der Busenfreund der Wall Street, der einen entschlossenen Putsch durchsetzte, um das Weiße Haus zu erobern, unterstützt von Floridas Gouverneur, seinem Bruder Jeb Bush.
Die Stimmergebnis war landesweit fast gleich verteilt, 48% zu 48%, Gore 50.996.116 Stimmen, Bush 50.456.169, was Gore eine Mehrheit von 539.946 Stimmen gab. Die Präsidentschaft wird jedoch nicht durch das Stimmergebnis entschieden, sondern durch das Wahlkollegium, in dem jeder Staat für sich den Sieger bestimmt. In dieser archaischen Einrichtung, die von den Gründervätern zusammengeschustert wurde, um sie vor der „Tyrannei der Mehrheit“ zu schützen, erhielt Gore nur 267 Stimmen gegenüber 271 von Bush. Das Wahlkollegium wurde geschaffen, um die politische Hegemonie der Südstaaten zu schützen, die damals eine von Sklav*innenhalter*innen geführte Plantagenwirtschaft waren. Es ist immer noch zugunsten der kleinen, überwiegend weißen und konservativen ländlichen Staaten gewichtet – genau von denen, wo der rechte Bush seine stärkste Unterstützung gewann. Ein Mitglied des Wahlkollegiums im Staat New York vertritt 549.900, in Wyoming aber nur 157.000 Wahlberechtigte. Mit anderen Worten: Ein Bürger von Wyoming ist für das Wahlkollegium 3,44 Kalifornier wert.
Als die Ergebnisse eintrafen, kristallisierte sich Florida mit seinen 25 Wahlkollegiumsstimmen als der entscheidende Staat heraus. Bushs knapper Vorsprung, 327 von sechs Millionen bei der ersten Auszählung (laut Medienberichten), lenkte die Aufmerksamkeit auf die grobe Verzerrung der Wahl- und Auszählungsverfahren in Florida, die auf einen systematische Wahlrechtsentzug von Afroamerikaner*innen, Latin@s und anderen Minderheiten hinauslief. Niemand glaubt im Übrigen, dass Florida einzigartig sei. Landesweit bleiben die Stimmen von 2,8 Millionen Wähler*innen unausgezählt.
Nach der Schlacht um die „Stanzabfälle“ und einer Reihe widersprüchlicher Gerichtsurteile wurde die Präsidentschaft nicht von den Wähler*innen, sondern von der ultrakonservativen, von den Republikaner*innen ernannten Mehrheit des Obersten Gerichtshofs entschieden, und zwar mit völlig fadenscheinigen verfassungsrechtlichen Gründen. Nur wenige bezweifeln, dass Gore, wenn die Neuauszählung fortgesetzt worden wäre, als klarer Sieger in Florida hervorgegangen wäre – und die Präsidentschaft übernommen hätte.
Hätte sich all dies in einem anderen Land ereignet, hätten die USA eine Untersuchungskommission gefordert. So kam es, dass der Sprecher des Außenministeriums, Richard Boucher, allein in der ersten Novemberwoche „zahlreiche Unregelmäßigkeiten“ und „fehlerhafte“ Wahlen in Aserbaidschan, Sansibar und Kirgisistan anprangerte. („Washington Post“/„International Herald Tribune“, 11./12. November 2000)
Der Staatsstreich der Republikaner*innen nach den Wahlen war jedoch bei weitem nicht die einzige „Unregelmäßigkeit“ oder „Unzulänglichkeit“ in der Demokratie im US-Stil.
Die Wahlschlacht wurde wie immer von der Auseinandersetzung zwischen dem dominiert, was in Wirklichkeit zwei Flügeln ein und derselben Großkonzern-Partei. Obwohl es zwischen Republikaner*innen und Demokrat*innen keine grundlegenden ideologischen oder auch nur substanziellen politischen Unterschiede gibt, gaben die beiden Parteien zusammen zwischen 3 und 4 Milliarden Dollar aus dem Geld ihrer Großkonzern-Unterstützer*innen für den Wahlkampf aus. Dies ist nichts weniger als ein institutionalisiertes System der Bestechung und Korruption, das meiste davon legal, einiges davon dem Namen nach illegal.
Der größte Teil des Geldes wurde für nichtssagende Fernsehwerbung ausgegeben, die zwei rivalisierende Marken von falschen Versprechungen verkaufte. In drei inszenierten Debatten verschworen sich Gore und Bush, um echte Themen zu vermeiden, während der radikale Ralph Nader und der reaktionäre Pat Buchanan ausgeschlossen wurden. Weder Gore noch Bush waren in der Lage, genügend Begeisterung zu wecken, um eine entscheidende Mehrheit zu gewinnen.
In New Jersey gelang es dem Demokraten Jon Corzine, einem pensionierten Wall-Street-Manager, für 61 Millionen Dollar aus seinem persönlichen Vermögen einen Senatssitz zu kaufen. In Missouri wurde der ehemalige liberale Gouverneur des Staates, Mel Carnahan, drei Wochen nach seinem Tod in den Senat gewählt, seinen Platz nahm seine Witwe, Jean Carnahan, ein. Der unterlegene Amtsinhaber, der ultrarechte John Ashcroft von der Christlichen Koalition, wurde inzwischen von Bush zum Generalstaatsanwalt ernannt.
Ist es da irgendeine Überraschung, dass wieder einmal fast die Hälfte der Wähler*innen keinen Sinn im Wählen sah? Die Nachwahlbefragungen zeigen, dass die Wähler*innen zunehmend aus den Reihen der Wohlhabendsten kommen. Fünfzehn Prozent der Wähler*innen verfügten über ein Haushaltseinkommen von über 100.000 Dollar, angestiegen von 9% 1996. Der Anteil der Wähler*innen aus Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 50.000 Dollar sank auf weniger als die Hälfte, nämlich 47%, gegenüber 61% im Jahr 1996 (und die Inflation erklärt bei weitem nicht diesen gesamten Rückgang).
Hinter den düsteren Wolken des Wahlhimmels gab es jedoch einen hellen Sonnenstrahl: die Präsidentschaftskampagne Ralph Naders, der für die Grüne Partei antrat. Als radikaler Populist, der unerbittlich auf die großen Konzerne eindrosch, forderte Nader die hydraköpfigen „Republikrat*innen“ heraus und bot der jungen, radikalisierten Schicht, die Ende 1999 aus den Anti-WTO-Protesten in Seattle hervorging, einen Ausdruck auf der Wahlebene und eine Stimme. Nader erhielt 2,8 Millionen Stimmen (3%). Die Unterstützung für Nader ist ein Vorbote einer viel breiteren und tieferen Radikalisierung, die sich in den kommenden Jahren in den USA entwickeln wird.
Bushs Sieg ist besudelt, seine Präsidentschaft wird eine vergiftete Präsidentschaft sein. Er gewann Unterstützung mit Millionen und Abermillionen von Dollars, die er nicht dazu verwendete, seine rückschrittliche Sozial- und Wirtschaftspolitik klar darzustellen, sondern um gegenüber den wohlhabenderen Teilen der Wähler*innenschaft, die die Endphase des Booms der späten 1990er Jahre genossen, zu verschleiern und zu verwirren. Die landesweite Nachwahlbefragung zeigte zum Beispiel, dass die Wähler*innen, die Sachfragen (wie Bildung, medizinische Versorgung mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, Schutz der sozialen Sicherheit) für am wichtigsten hielten (und nicht die Persönlichkeiten der Kandidaten), mit 55% zu 40% für Gore stimmten. Bushs reaktionäres, großkonzernfreundliches Programm wird ihn bald mit weiten Teilen seiner Wähler*innenschaft kollidieren lassen, darunter auch mit Millionen, die ihn im Jahr 2000 gewählt haben.
Am 7. November gab es keinen großen Rechtsruck. Abgesehen von der Präsidentschaft änderte sich sehr wenig. Im Senat gewannen die Demokrat*innen vier Sitze hinzu und erreichten damit eine 50:50-Teilung. Im Repräsentant*innenhaus gewannen die Demokrat*innen drei Sitze hinzu, so dass es nun 221 Republikaner*innen, 212 Demokrat*innen und zwei Unabhängige gibt. Obwohl es den Anschein hatte, dass es zu einem heftigen parteipolitischen Wettstreit gekommen war, verloren nur acht amtierende Abgeordnete ihren Sitz. Mehr als drei Viertel der 435 Abgeordneten im Repräsentant*innenhaus gewannen ihre Sitze mit großem Vorsprung.
In den Bundesstaaten gibt es jetzt 29 republikanische, 19 demokratische und zwei unabhängige Gouverneur*innen. Die Demokrat*innen kontrollieren nun 49 der 98 bundesstaatlichen Parlamente, während die Republikaner*innen 45 kontrollieren, wobei es in vier Staaten ein Unentschieden gibt.
In einer Reihe von Bundesstaaten lehnten die Wähler*innen bei Wahlinitiativen, die eine klare Entscheidung zu einem einzigen Thema ermöglichen, rechte Politiken mehrheitlich ab und unterstützten fortschrittlichere Positionen. In Kalifornien und Michigan lehnten die Wähler*innen Schulgutscheine ab, die eine Ausweitung der privaten Bildung bedeuten würden. In Kalifornien stimmte eine große Mehrheit gegen die Politik von „Einsperren und den Schlüssel Wegwerfen“ im Drogenkrieg und befürworteten Behandlung statt Gefängnis für Personen, die wegen des Besitzes illegaler Drogen verurteilt wurden. In den „waffenfreundlichen“ Bundesstaaten Oregon und Colorado stimmten die Wähler*innen mehrheitlich für Waffenkontrolle.
Jacke wie Hose – alles eine Soße
Sowohl Bush als auch Gore zielten mit ihren Kampagnen auf die „Mitte“ ab und konzentrierten sich auf die wohlhabenderen Wähler*innen in den Vorstädten der „Wechselwähler*innenstaaten“. Keiner von beiden wies auf die zunehmenden Ungleichheiten in der US-Gesellschaft hin, warnte vor dem bevorstehenden Abschwung, stellte die zunehmende rassistisch voreingenommene Anwendung der Todesstrafe in Frage oder unterstützte ein universelles Gesundheitssystem. Ihre Kampagnen bestätigten Naders Bemerkung in hohem Maße: „Die beiden Parteien haben sich zu einer einzigen Konzernpartei mit zwei unterschiedlich geschminkten Köpfen verschmolzen“.
Ist es da verwunderlich, dass die Demokrat*innen und die Republikaner*innen mit ihren sich überschneidenden Politiken die „Mitte“ genau in der Mitte spalten? Auf der rechten Seite der Partei stehend konnte Gore nicht einmal die Kernanhänger*innen der Demokratischen Partei begeistern, von denen die meisten eher gegen Bush als für Gore gestimmt haben. Gore profitierte auch nicht von den üblichen Vorteilen, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Regierung ergeben, die in einer Periode außerordentlichen Wirtschaftswachstums im Amt war. Trotz der annähernden Vollbeschäftigung und der jüngsten Einkommenszuwächse erleben die meisten Erwerbstätigen einen zunehmenden Druck in ihrem Leben und machen sich Sorgen um ihre Zukunft.
Vor dem Parteitag der Demokrat*innen im August lag Gore in den Umfragen weit hinter Bush zurück. Auf dem Parteitag schwenkte Gore – zweifellos unter dem Einfluss von Naders Kampagne – kurzzeitig auf eine populistischere, agitatorische Rhetorik um. Gore verkündete, dass er sich auf die „arbeitenden Familien“ konzentriere, und griff die „mächtigen Interessen“ an, die ihnen im Wege stünden, wobei er Tabakkonzerne, Ölkonzerne, die Pharmakonzerne und die HMOs (Health Maintenance Organizations, die die Gesundheitsversorgung für die großen Versicherungsgesellschaften verwalten) besonders hervorhob. Er versprach, die Sozialversicherung (Renten) zu verteidigen, Medicare um verschreibungspflichtige Medikamente zu erweitern, HMOs zu regulieren, öffentliche Schulen zu modernisieren und vieles mehr.
Gore wurde sofort von den Medienpäpsten angeprangert, weil er einen „Klassenkrieg“ entfachte. Meinungsumfragen zeigten jedoch, dass über drei Viertel der Öffentlichkeit Gore in den von ihm angesprochenen Fragen unterstützten. Gore schloss in den Umfragen rasch zu Bush auf. Doch nach dem Parteitag verblasste Gores Radikalität rasch, und er kehrte zu „gemäßigten“ Appellen an die „Mitte“ zurück.
Bush reagierte darauf mit einer verdeckten Taktik der Verwirrung der Themen. Genauso wie Clinton 1992 und 1996 die Politik der Republikaner*innen gestohlen hatte, übernahm Bush demagogisch die Melodien Gores. Auch er hatte einen „Plan“ für verschreibungspflichtige Medikamente, einen „Plan“ zur Rettung der Sozialversicherung, einen „Plan“ für das Bildungswesen und so weiter. Während die Clinton/Gore-Regierung viele der politischen Maßnahmen der Republikaner*innen umsetzte, hat Bush nicht die Absicht, auch nur eine der von Gore versprochenen Reformen durchzuführen. Seine wirkliche Politik zeigt sich darin, dass er immer wieder die „große Regierung“ (d. h. die Sozialausgaben) anprangert und eine Steuersenkung in Höhe von 1,3 Billionen Dollar verspricht (von der überwiegend die Hyperreichen profitieren).
In den Wochen vor der Wahl lag Gore in den Meinungsumfragen erneut zurück. Doch am 7. November erreichte Gore eine Mehrheit von 500 000 Stimmen in der Bevölkerung. Woher kam Gores Vorsprung am Ende? Die entscheidende Unterstützung kam eindeutig von der traditionellen Wähler*innenbasis der Demokrat*innen unter den gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen (etwa ein Viertel der Wähler*innen), Afroamerikaner*innen, Latin@s und Frauen. Laut der Nachwahlbefragung des Voter News Service unterstützten Afroamerikaner*innen Gore mit 90% zu 8% gegenüber Bush, während Latin@s Gore mit 67% zu 31% unterstützten. Mitglieder von Gewerkschaftshaushalten stimmten mit 59% zu 37% für Gore (ein geringerer Vorsprung als bei der Clinton-Dole-Wahl von 1996). Gore erreichte auch einen großen Vorsprung bei den gut ausgebildeten, besser gestellten weißen Frauen.
Ausschlaggebend dafür, dass Gore landesweit keine entscheidende Mehrheit gewinnen konnte, war jedoch, dass es ihm nicht gelang, wichtige Teile der weißen Arbeiter*innenklasse, insbesondere männliche Arbeiter, für sich zu gewinnen. Bush gewann entscheidende Mehrheiten sowohl in den besser als auch in den schlechter bezahlten Schichten der weißen, männlichen Arbeiter – obwohl Umfragen zeigten, dass eine Mehrheit dieser Schicht die Politik der Demokrat*innen in wichtigen sozialen Fragen befürwortete. Auf der Grundlage des Status quo in der US-Gesellschaft empfanden sie Bush als einen beruhigenderen Kandidaten. Gore sprach zwar einige wichtige soziale Fragen an, versuchte aber, mit Bush zu konkurrieren, indem er konservative, „traditionelle Werte“ verteidigte. Er präsentierte in keiner Weise eine Vision für eine bessere Zukunft, geschweige denn ein kohärentes Programm für den sozialen Wandel.
Der republikanische Putsch
Bald nach dem 7. November wurde klar, dass es landesweit praktisch ein Patt zwischen Bush und Gore gab – und dass Florida mit seinen 25 Wahlkollegiumsstimmen entscheidend war. Sofort begannen die Republikaner*innen einen rücksichtslosen politischen Kampf, um den Staat für George W. zu sichern.
Die Neuauszählung Tausender „unterzähliger Stimmen“ (Stimmzettel, auf denen die Zählmaschinen keine Präsidentschaftsstimme erkannten) war das Schlüsselthema. Die Bush-Anhänger*innen wussten sehr wohl, dass die Auszählungsmethoden systematisch die ärmeren Wahlbezirke mit einem höheren Anteil an Afroamerikaner*innen und Latin@s benachteiligten, die in noch nie dagewesener Zahl gegen die beiden Bushs gestimmt hatten. Natürlich forderte das Gore-Lager Nachzählungen in vier Bezirken (Palm Beach, Dade, Broward und Volusia). Die Republikaner*innen stürzten sich daraufhin in einen Kreuzzug, um die Nachzählungen mit allen Mitteln zu verhindern. Sie warfen Gore vor, er habe versucht, die Stimmen in Florida zu „stehlen“ und „die wahren Absichten der Wähler*innen neu zu erfinden und falsch auszuzählen“. Doch die Prämisse für ihren Nach-Wahl-Blitzkrieg war offensichtlich: Je mehr Stimmen nachgezählt wurden, desto wahrscheinlicher war es, dass Gore Florida gewinnen würde.
Beide Seiten schickten Teams von Anwält*innen und Wahlkampfmitarbeiter*innen nach Florida und gaben schätzungsweise 26 Millionen Dollar für den Kampf nach der Wahl aus. Eine Reihe von Gerichtsverfahren war bald im Gange. Bush profitierte von mehreren günstigen Urteilen durch von Republikaner*innen ernannter Richter*innen wie N. Sanders Sauls, der dreist urteilte, dass der Vizepräsident nicht nachgewiesen habe, dass die Nachzählung der Stimmen per Hand irgendeinen Einfluss auf das Ergebnis haben würde. Bush wurde auch durch das vorsichtige, zögerliche Entscheiden des Obersten Gerichtshofs von Florida begünstigt, der schließlich zugunsten der Nachzählungen entschied.
Bush konnte sich auf die tatkräftige, parteiische Unterstützung der republikanischen Beamt*innen Floridas stützen, von seinem Bruder, dem Gouverneur, über Katherine Harris, die Staatsministerin, bis hin zu einem Heer von Beamt*innen der unteren Ebenen. Schon früh kündigte Harris an, dass sie die Frist für die Bestätigung des Ergebnisses nicht über den 14. November hinaus verlängern würde, unabhängig davon, wie weit die Nachzählungen gediehen waren. In der Folge war sie aufgrund von Gerichtsentscheidungen gezwungen, die Bestätigung des Ergebnisses zu verschieben, doch erklärte sie Bush am 26. November, dem Tag, an dem die Frist des Obersten Gerichtshofs von Florida ablief, offiziell mit 537 Stimmen zum Sieger und weigerte sich, den Abschluss der Nachzählung in Palm Beach abzuwarten.
Als der Oberste Gerichtshof von Florida am 21. November die Fortsetzung der vier Nachzählungen anordnete, sah es für einen Moment so aus, als sei Gore wieder im Rennen und hätte eine Chance zu gewinnen. Diese Entscheidung löste jedoch eine Intensivierung der Kampagne der Republikaner*innen aus. Der republikanische Fraktionsvorsitzende im Repräsentant*innenhaus und Anführer der Amtsenthebungskampagne gegen Clinton, Tom DeLay, behauptete, die Wahl in Florida sei „nichts weniger als ein gerade stattfindender Diebstahl“. Ein Sprecher des Sprechers des Repräsentant*innenhauses, Dennis Hastert, bezeichnete die Richter*innen des Obersten Gerichtshofs von Florida als „parteiische Schreiberlinge“, während Jim Baker, ehemaliger Außenminister unter George W.s Vater und Bushs Florida-Manager, die Entscheidung des Gerichts als „inakzeptabel“ bezeichnete.
Gleichzeitig organisierten führende Vertreter*innen der Republikaner*innen (mit DeLays Berater Tom Pyle an der Spitze) eine direkte Aktion, indem sie das Bezirksgebäude von Miami-Dade lautstark blockierten, um die Neuauszählung zu verhindern. Über drei Stunden lang wurde die Auszählung in Miami-Dade von einer Meute republikanischer Demonstrant*innen belagert, die in die Gänge vor dem Auszählungsraum stürmten, sich mit der Polizei prügelten und die Auszählungsbeamt*innen anschrieen. Diese Aktion (am 22. November, dem Mittwoch vor dem Thanksgiving-Wochenende) war keineswegs spontan, sondern wurde vom republikanischen Kongressabgeordneten für New York, John Sweeney, angeführt und von republikanischen Kongressmitarbeiter*innen und Bush-Agent*innen unterstützt. Sie stoppten erfolgreich die Neuauszählung, die am nächsten Tag abgebrochen wurde.
Nachdem sie die Auszählung in Miami-Dade gestoppt hatten, wurde die republikanischen bezahlten Krawallmacher*innen mit Bussen nach Fort Lauderdale, dem Amtssitz des Bezirks Broward, gebracht, wo sich ihnen eine Bande hochrangiger republikanischer Politiker*innen anschloss, darunter der Gouverneur von New Jersey, Todd Whitman, und die Gouverneure von Montana und Oklahoma.
In der Zwischenzeit begann die von den Republikaner*innen dominierte Legislative in Florida, Maßnahmen zu ergreifen, um eine Liste von Wahlleuten für Bush auszuwählen, unabhängig davon, was die Gerichte in Florida urteilen würden. In Washington DC begannen DeLay und andere führende republikanische Vertreter*innen damit, den Boden dafür zu bereiten, dass das Repräsentant*innenhaus die Bestimmung der 25 Wahlkollegiumstimmen Floridas übernehmen würde, falls die Wahl in Florida Bush nicht bestätigen sollte.
Im Unterschied zum Vorstoß der Republikaner*innen waren die Demokrat*innen schwach. Einige prominente Demokrat*innen begannen recht früh, einen „Schluss“ [der Auszählung] zu fordern. Obwohl die meisten demokratischen Politiker*innen Gore unterstützten, war ihre Nachwahlkampagne dem Putsch der Republikaner*innen nicht gewachsen. Es gab große Wut unter Afroamerikaner*innen und Gewerkschaften in Florida. Die Demokratische Führung unternahm jedoch keinerlei Versuch, irgendeine Form des öffentlichen Protests zu mobilisieren.
Gore, so wurde berichtet, „entmutigte Jesse Jackson, der in Florida einen Protest veranstaltete und Fragen zu den Vorwürfen der rassistischen Einschüchterung am Wahltag stellte. ,Gore sagte Jackson, er solle den Staat verlassen, und er sagte den Arbeitern, sie sollten nicht organisieren‘, so ein Mitarbeiter Jacksons. Er schickte die Demokraten zu einem Zeitpunkt heim, als sich Bush und seine Leute gerade mächtig ins Zeug legten. Gore dachte, er hätte die Stimmen“. (David Corn, Can Dems Hang Tough? [Können die Demokraten dran bleiben?] „The Nation“, 18. Dezember)
„Unsere Botschaft ist Geduld“, sagten Sprecher der demokratischen Führung im Repräsentant*innenhaus. „Wir müssen Vernunft verkörpern. Wir haben das Gefühl, dass wir Stimmen haben und das Gesetz auf unserer Seite ist, und dass die Taktik und Vehemenz der Republikaner*innen nach hinten losgehen wird… Wir glauben, dass dies funktionieren kann“.
Aber es hat nicht funktioniert. Die Nachwahlkampagne der Republikaner*innen, ein politischer Staatsstreich, der vom Obersten Gerichtshof unterstützt wurde, hatte Erfolg. Infolgedessen (wie DeLay triumphierend verkündete) haben die Republikaner*innen zum ersten Mal seit 40 Jahren die Präsidentschaft und beide Häuser des Kongresses inne, zusammen (wie wir hinzufügen sollten) mit der höheren Gerichtsbarkeit.
Der Oberste Gerichtshof: Demokratie auf dem Prüfstand
Der letzte Schlag des republikanischen Staatsstreichs wurde von der rechten Mehrheit des Obersten Gerichtshofs ausgeführt. In der Anfangsphase der gerichtlichen Nach-Wahl-Auseinandersetzungen schien der Oberste Gerichtshof nur zögerlich einzugreifen und wartete ab, bis der Oberste Gerichtshof von Florida den Weg für die Neuauszählung der Stimmen frei machte – dann schritten sie ein und stoppten die Auszählung.
Die meisten Kommentator*innen, einschließlich der meisten Rechtsexperten, nahmen die Position ein, dass der Streit um die Wahlzettel – Gore drängte auf Nachzählungen, Bush lehnte sie vehement ab – voll und ganz in die Zuständigkeit der Gerichte des Bundesstaates und letztlich des Obersten Gerichtshofs Floridas fiel. „Der Oberste Gerichtshof Floridas hat nach den elementarsten Grundsätzen des Verfassungsrechts die letzte Autorität bei der Auslegung der Gesetze seines eigenen Bundesstaates, solange seine Auslegung nicht absurd ist“, kommentiert Richard Dwarking, Rechtsprofessor an der New York University („New York Review of Books“, 11. Januar).
Es ging nicht um eine „Bundesfrage“. Dennoch hatte der Oberste Gerichtshof am 24. November zugestimmt, Bushs Anfechtung der Nachzählungen anzuhören. Zuvor hatte sich die Mehrheit dieser neun Richter*innen konsequent eine „Einmischung“ des Bundes in die Angelegenheiten der Bundesstaaten abgelehnt. Am 1. Dezember hörte der Oberste Gerichtshof zum ersten Mal in der Geschichte die Argumente der Anwält*innen Bushs und Gores, die direkt über den Ausgang der Präsidentschaftswahlen entscheiden konnten.
Die erste Entscheidung des Gerichts war eine Verzögerungstaktik, indem es die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Florida „aufhob“ (für ungültig erklärte), die die Frist für die manuelle Nachzählung verlängert hatte. In einem Akt juristischer Einschüchterung forderte der Oberste Gerichtshof die Richter*innen in Florida auf, ihre Entscheidung zu begründen.
In der Zwischenzeit wurden die Nachzählungen auch durch Entscheidungen der Gerichte in Florida verzögert. Kaum hatte der Oberste Gerichtshof Floridas entschieden (8. Dezember), dass die manuellen Nachzählungen fortgesetzt werden sollten, schaltete sich der Oberste Gerichtshof der USA ein (9. Dezember) und entschied mit einer Mehrheit von fünf zu vier Stimmen, dass die bereits begonnenen Nachzählungen gestoppt werden sollten, bis sie den Fall anhören konnten, was für den 11. Dezember angesetzt war.
Drei Wochen lang hatten die Republikaner*innen erfolglos darum gekämpft, die Nachzählungen zu stoppen: jetzt kam ihnen der Oberste Gerichtshof zu Hilfe. Obwohl es sich technisch gesehen um eine „vorläufige“ Entscheidung bis zur vollständigen Anhörung handelte, war die Aussetzung der Nachzählungen in der Praxis fatal für Gore. Selbst wenn der Oberste Gerichtshof später zu Gunsten Gores entschieden hätte, wäre es zu diesem Zeitpunkt zu spät gewesen, um den Termin am 12. Dezember einzuhalten. Wie sich später herausstellte, war dies die von der Mehrheit der Richter*innen gesetzte Frist.
Tatsächlich war der 12. Dezember die optionale Frist für Bundesstaaten, die das Bundesgesetz über den „sicheren Hafen“ in Anspruch nehmen, das den Bundesstaaten bei der Bestätigung von Präsidentschaftswahlkollegiumsmitglieder Immunität vor Anfechtungen durch den Kongress garantiert. Die von den Republikaner*innen dominierte Legislative Floridas wollte diese „sicherer Hafen“-Regelung sicherlich in Anspruch nehmen. Laut Verfassung hatte Florida jedoch noch sechs Tage Zeit, bis zum 18. Dezember, bis das Wahlkollegium zusammentreten würde, um seine Wahlleute zu wählen.
Die Mehrheit der Richter*innen war klar entschlossen, den Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen, bevor ein unliebsames Ergebnis herauskommen konnte. Die Begründung von Richter Scalia, der von Reagan für das Gericht nominiert und kürzlich von George W. Bush gelobt wurde, war eindeutig parteiisch. In einem Minderheitsvotum argumentierte Richter Stephens, der von den Richtern Breyer, Ginsberg und Suter unterstützt wurde, dass die Entscheidung der Mehrheit in der Sache einer Entscheidung für Bush „gleichkomme“ und Gore „irreparablen Schaden“ zugefügt habe. Die Einstellung der Stimmenauszählung, so Stephens, „wird unweigerlich die Legitimität der Wahl in Zweifel ziehen“.
Scalia gab unverfroren zu, dass „der Erlass der Aussetzung darauf hindeutet, dass eine Mehrheit des Gerichts … der Meinung ist, dass Bush eine erhebliche Erfolgswahrscheinlichkeit hat“. „Die Auszählung von Stimmen, die von fragwürdiger Rechtmäßigkeit sind“, so Scalia, „droht meines Erachtens dem Antragsteller [Bush] und dem Land einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen, indem sie die von ihm behauptete Legitimität seiner Wahl in Zweifel zieht“. Mit anderen Worten: Scalia, Rehnquist und Co. hatten schon vor der Anhörung der Argumente entschieden, dass Bush der eigentliche Gewinner ist – oder sein sollte – und dass jede Nachzählung, die seine knappe Mehrheit zu gefährden drohte, „dem Land“ schaden würde. Scalia hatte praktisch entschieden, dass Bush in Florida gewonnen hatte – genau die Frage, die durch die Nachzählung entschieden werden sollte.
Nach Anhörung der Argumente Bushs und Gores erließ der Oberste Gerichtshof am späten Dienstag, dem 12. Dezember, eine nicht unterzeichnete Entscheidung mit sieben zu zwei Stimmen, mit der die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Floridas, die Nachzählung per Hand zuzulassen, aufgehoben wurde. Der juristische Vorwand, den die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs für ihr Eingreifen in eine bundesstaatliche Angelegenheit anführte, war die Behauptung, dass das Fehlen eines einheitlichen, landesweiten Standards für die Nachzählungen bedeute, dass die derzeitigen manuellen Nachzählungen in Florida gegen den vierzehnten Verfassungszusatz verstießen, der allen Bürger*innen „gleichen Schutz“ garantiere. Bush werde seiner Rechte aus dem vierzehnten Verfassungszusatz beraubt.
Die Argumentation der Mehrheit ist bizarr und grotesk. Erstens sind Nachzählungen bei US-Wahlen üblich, auch in Florida, wo sie durch das Wahlgesetz vorgeschrieben sind. Wie kann es dann einheitliche Standards für Nachzählungen geben, wenn es zwischen den einzelnen Bezirken große Unterschiede bei den Methoden der Erstauszählung gibt? In einigen Bezirken wurden die alten Lochkarten-Wahlmaschinen verwendet, in anderen die neuesten optischen Scanner. In jedem Fall, wenn man akzeptiert, dass es bei Nachzählungen Unzulänglichkeiten gibt, wie der Rechtsprofessor Akhil Amar von der Yale University schreibt: „Die zugrunde liegende Auszählung selbst war wahrscheinlich mit viel größeren Ungleichheiten behaftet – Ungleichheiten, die sich tatsächlich ungleich auf die Hautfarben auswirkten und Menschen in armen Wahlbezirken unverhältnismäßig stark benachteiligten“. („Black Democrats Angered By Supreme Court Ruling“ [Schwarze Demokraten verärgert über Urteil des Obersten Gerichtshofs], CNN.com, 13. Dezember)
Sieben Richter*innen stimmten (in einer nicht unterzeichneten Entscheidung) darin überein, dass es „verfassungsrechtliche Probleme mit der vom Obersten Gerichtshof Floridas angeordneten Neuauszählung“ gebe, aber es gebe „Uneinigkeit … über die Abhilfe“. Die Mehrheit entschied, dass „die Formulierung einheitlicher Regeln zur Bestimmung der Absicht [der Wähler*innen] … praktikabel und, wie wir feststellen, notwendig ist“. Aber: „Da es offensichtlich ist, dass jede Nachzählung, die den 12. Dezember einhalten soll, verfassungswidrig sein wird, heben wir das Urteil des Obersten Gerichtshofs Floridas auf, das eine Nachzählung anordnet“. Aufgrund der vom Obersten Gerichtshof gesetzten Frist und der eigenen Verzögerung des Gerichts blieb keine Zeit, einen „einheitlichen Standard“ zu entwickeln und die Nachzählung von vorne zu beginnen.
Eine Frage der Legitimität
Unter den Richter*innen des Obersten Gerichtshofs herrschte eindeutig eine tiefe Spaltung. Fünf (Rehnquist, Scalia, Thomas, O’Connor und Kennedy) sprachen sich gegen eine Neuauszählung aus, wobei drei von ihnen (Rehnquist, Scalia und Thomas) eine übereinstimmende Stellungnahme unterzeichneten. Die Richter*innen Breyer, Ginsburg, Suter und Stephens verfassten abweichende Stellungnahmen und bildeten damit eine Minderheit von vier Richter*innen. Ihre Kommentare waren verheerend. Richter John Paul Stephens argumentierte, dass die Entscheidung über die Neuauszählung der Stimmen dem Obersten Gerichtshof von Florida hätte überlassen werden sollen. Selbst wenn eine „Verletzung des gleichen Schutzes“ vorgelegen hätte, hätten Wege gefunden werden müssen, „um diese Verletzung zu beheben, ohne den Wähler*innen in Florida ihr Recht auf Auszählung ihrer Stimmen zu nehmen“.
„Eines ist sicher“, sagte Stephens: „Auch wenn wir vielleicht nie mit völliger Sicherheit wissen werden, wer der Gewinner der diesjährigen Präsidentschaftswahlen ist, ist die Identität des Verlierers völlig klar. Es ist das Vertrauen der Nation in den Richter als unparteiischen Hüter der Rechtsstaatlichkeit“. Richter Stephen Breyer schrieb, der Oberste Gerichtshof der USA hätte sich nie mit dem Fall befassen dürfen: „Was es heute tut, hätte das Gericht nicht tun dürfen… Die politischen Auswirkungen dieses Falles auf das Land sind bedeutsam“.
Die aus fünf Richter*innen bestehende Mehrheit ließ jeden Anschein politischer Unparteilichkeit fallen und widersprach schamlos ihrer eigenen langjährigen konservativen Rechtsauffassung in Verfassungsfragen. Normalerweise sind die rechten Richter*innen eifrig dabei, das Recht der einzelstaatlichen Gerichte zu schützen, ihre eigenen Urteile zu fällen, ohne dass sie von Bundesgerichten überprüft oder aufgehoben werden, insbesondere wenn konservative Staaten ihr Gebiet gegen progressive Bundesgesetze verteidigen. Nur selten haben sie den vierzehnten Verfassungszusatz herangezogen, um reaktionäre Entscheidungen der staatlichen Gesetzgeber und Gerichte aufzuheben.
Angesichts ihres politischen Hintergrunds ist es kaum überraschend, dass die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs zu Bushs Gunsten interveniert hat. Sieben der neun Richter wurden von republikanischen Präsidenten ernannt. Der Oberste Richter Rehnquist wurde von Nixon nominiert. Scalia wurde von Reagan nominiert. Clarence Thomas, ein Afroamerikaner, wurde 1991 von George Bush nominiert (die Frau von Clarence Thomas, Virginia Lamp-Thomas, hat enge Verbindungen zur Republikanischen Partei und arbeitet für die rechte Heritage Foundation). Sie alle lehnen fortschrittliche Sozialgesetze wie das Recht auf Abtreibung und positive Diskriminierung ab und befürworten die Todesstrafe nachdrücklich.
Die Entscheidung der Mehrheit war nicht nur politisch voreingenommen, sondern auch aus Eigeninteresse: Die konservativen Richter*innen hatten ein persönliches Interesse am Ausgang der Präsidentschaftswahlen. Die Zukunft des Obersten Gerichtshofs war selbst ein Thema im Wahlkampf. Das Gleichgewicht zwischen den konservativen und den „gemäßigten“ (d.h. etwas weniger konservativen) Fraktionen würde wahrscheinlich durch Gores Nominierungen in die eine und durch Bushs Nominierungen in die andere Richtung gekippt werden. Indem die Mehrheit für Bush entschied, sicherte sie die konservative Vorherrschaft am Gericht.
Einige Strateg*innen der herrschenden Klasse sind beunruhigt, dass der Oberste Gerichtshof durch eine so offenkundig parteiische Haltung zugunsten Bushs die Autorität des Gerichts ernsthaft untergraben hat. Zweifellos ist der Oberste Gerichtshof letztlich ein Instrument der herrschenden Klasse und wird in entscheidenden Fragen immer zugunsten der Großkonzerne und des Staatsapparats entscheiden. Aber die Wahl zwischen Bush und Gore war keine Frage von Leben und Tod. Und durch ihr politisch voreingenommenes und eigennütziges Verhalten haben sie ihre Hauptaufgabe für die herrschende Klasse untergraben, die darin besteht, den politischen Prozess und die entscheidenden Entscheidungen des Staates zu legitimieren. Sie haben den Anschein von Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und juristischer Konsistenz, der für die rechtliche Absicherung der Regierungsgewalt erforderlich ist, ernsthaft beschädigt.
In der Vergangenheit haben selbst konservative Richter erkannt, dass der Oberste Gerichtshof es vermeiden muss, die öffentliche Meinung in wichtigen Fragen brutal zu verärgern. So lehnten es 1992 die Richter*innen O’Connor, Kennedy und Suter, allesamt von republikanischen Präsident*innen ernannte Konservative, ab, sich Rehnquist anzuschließen und das bahnbrechende Urteil des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Roe gegen Wade, das das Recht auf Abtreibung sicherte, aufzuheben. In diesem berühmten Fall aus dem Jahr 1973 berief sich die Mehrheit auf die Bestimmungen des vierzehnten Verfassungszusatzes zum Recht auf Privatsphäre, um staatliche Gesetze zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen außer Kraft zu setzen.
In ihrer gemeinsamen Stellungnahme von 1992 in der Rechtssache Planned Parenthood gegen Casey schrieben die drei Richter*innen, dass die einzige wirkliche Macht des Gerichts „in seiner Legitimität liegt, einem Produkt aus Substanz und Wahrnehmung, das sich darin zeigt, dass das Volk die Justiz als geeignet akzeptiert, zu bestimmen, was das Gesetz der Nation bedeutet und zu erklären, was es verlangt“.
„Die Legitimität des Gerichts“, so schrieben sie, „hängt davon ab, dass es rechtlich fundierte Entscheidungen unter Umständen trifft, deren prinzipieller Charakter hinreichend plausibel ist, um von der Nation akzeptiert zu werden“. Die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade würde der Legitimität des Gerichts „tiefgreifenden und unnötigen Schaden zufügen“. „Das Gericht kümmert sich um die Legitimität nicht um des Gerichts willen, sondern um der Nation willen, der es verantwortlich ist“ – also um der herrschenden Klasse willen.
Indem es Bush einen besudelten Sieg bescherte, hat das Gericht seine Legitimität eindeutig beschädigt. Für die herrschende Klasse ist es nun eine stumpfe Waffe. „Dies wird lange als eine Wahl in Erinnerung bleiben, die von einem konservativen Obersten Gerichtshof zugunsten eines konservativen Kandidaten entschieden wurde, während die Stimmzettel, die ein anderes Ergebnis hätten bringen können, in Florida nicht ausgezählt wurden.“ (Leitartikel der „New York Times“/„International Herald Tribune“, 14. Dezember 2000)
„Das Vertrauen der USA in die Richter sinkt“, berichtete die „Washington Post“ („International Herald Tribune“, 13. Dezember). Auf die Frage einer „Washington Post“/ABC-Umfrage, ob sie mehr oder weniger Vertrauen in das Gerichtssystem hätten, politische Fälle fair und unvoreingenommen zu behandeln, sagten 63%, sie hätten weniger Vertrauen, während mehr als ein Drittel der Befragten (35%) sagte, sie hätten sehr viel weniger Vertrauen.
Afroamerikaner*innen und Latin@s des Wahlrechts beraubt
Ist es nicht eine bittere Ironie, dass der Oberste Gerichtshof die Bestimmungen des Vierzehnten Verfassungszusatzes zum „gleichen Schutz“ als Vorwand für sein Eingreifen in Florida nutzte? Der Zusatzartikel wurde nach dem Bürger*innenkrieg verabschiedet, angeblich um den befreiten Sklav*innen ihre Bürger*innenrechte zu sichern. Die Nachwahlanfechtung in Florida hat jedoch eine skandalöse Voreingenommenheit offenbart, die weitaus schwerwiegender ist als „Schmetterlings“-Wahlzettel oder unvollkommene „Stanzabfälle“, aber von den fünf Richter*innen, die die Mehrheitsentscheidung getroffen haben, völlig ignoriert wurde. Das Schlaglicht auf Florida hat den Skandal des systematischen Wahlrechtsraub an einem großen Teils der Afroamerikaner*innen, Latin@s und armer Minderheiten aufgedeckt.
Zunächst einmal gibt es in Florida ein System der rigorosen „strafrechtlichen Entrechtung“. Es ist einer von vierzehn Staaten, in denen jeder, der wegen eines Verbrechens verurteilt wurde, lebenslang vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Mit 647.000 ausgeschlossenen ehemaligen Straftätern liegt Florida sogar noch vor Texas. In Anbetracht der umgekehrten Politik der positiven Diskriminierung, die von Floridas Polizei und Justiz betrieben wird, bedeutet dies, dass etwa 30% der afroamerikanischen Männer des Staates ihres Wahlrechts beraubt wurden. In den USA verbieten alle 50 Bundesstaaten Häftlingen (1,2 Millionen) das Wählen. Zweiunddreißig verbieten es denjenigen, die auf Bewährung sind (453.000), 29 verbieten es denjenigen, deren Strafe ausgesetzt ist, während 14 Staaten ein lebenslanges Verbot verhängen (1,4 Millionen).
Da afroamerikanische Männer vorrangig in Gefängnisse gesteckt werden, haben in neun Staaten (Alabama, Connecticut, Florida, Iowa, Mississippi, New Mexiko, Texas, Washington und Wyoming) mindestens ein Fünftel von ihnen das Wahlrecht verloren. (When the Penal State Excludes Four Million Voters [Wenn der strafende Staat vier Millionen Wähler ausschließt], „Le Monde Diplomatique“, Dezember 2000)
Alarmiert durch die Aussicht auf eine Rekordwahlbeteiligung von Afroamerikaner*innen und Latin@s gegen sie, organisierten die Republikaner*innen eine spezielle Bereinigung der Wähler*innenverzeichnisse in Florida. Der Staat beauftragte ein privates Unternehmen, ChoicePoint, mit engen Verbindungen zur Republikanischen Partei, die Wähler*innenverzeichnisse des Staates zu „bereinigen“. „Würde es irgendjemanden irgendwo überraschen“, fragte der Reporter der „New York Times“, Bob Herbert, „wenn er erfährt, dass es dem Bereinigungsprozess irgendwie gelungen ist, eine große Zahl afroamerikanischer Wähler unzulässigerweise von der Teilnahme an der Präsidentschaftswahl abzuhalten?“ („International Herald Tribune“, 9. Dezember)
ChoicePoint erstellte eine Bereinigungsliste mit 58.000 „möglichen Straftätern“, deren Namen anschließend von den Staatsbeamten aus den Wähler*innenverzeichnissen entfernt wurden. Später musste ChoicePoint zugeben, dass 8.000 der „Schwerverbrecher“ in Wirklichkeit nur „Vergehen“ begangen hatten, also weniger schwere Straftaten, die ihr Wahlrecht nicht beeinträchtigen sollten.
„Schwarze haben in diesem Jahr in Florida in Rekordzahl gewählt, aber eine große Zahl wurde systematisch aus einem fadenscheinigen Grund nach dem anderen abgewiesen“. („New York Times“-„International Herald Tribune“, 9. Dezember) Ein Bericht des „Los Angeles Times Service“ („International Herald Tribune“, 13. November) berichtet von einem ganzen Katalog von Behinderungen. In der Stadt Plantation wurde ein Wahllokal drei Wochen vor dem Wahltag abgerissen, aber die Wähler*innen wurden nicht über den neuen Standort informiert. In Miami-Dade County verweigerten die Wahlhelfer*innen vielen Wähler*innen die Stimmabgabe trotz gültiger Registrierungskarten. In anderen Wahllokalen wurden bereits ausgefüllte Stimmzettel auf Tische gestreut oder an ankommende Wähler*innen ausgegeben. In mehreren Fällen verschwanden volle, verschlossene Wahlurnen, eine davon wurde drei Tage nach der Wahl im Sheraton Hotel in Miami entdeckt. Innerhalb weniger Tage nach dem 7. November gingen über 6.000 formelle Beschwerden von Wähler*innen in Florida ein.
Es gab auch Berichte über polizeiliche Schikanen in oder in der Nähe der Wahllokale, darunter mindestens eine Straßensperre, bei der die Polizei beschloss, in der Nähe eines Wahllokals Stichproben bei Autofahrern durchzuführen.
Richter Scalia und Co. behaupten, sie seien besorgt über mögliche Ungereimtheiten bei der manuellen Nachzählung von 180.000 Stimmzetteln, die bei der ersten maschinellen Auszählung als ungültig eingestuft wurden. Sie äußerten sich jedoch nicht zu den groben Verzerrungen bei der ersten Auszählung. Eine von der „Washington Post“ durchgeführte Analyse der einzelnen Wahlbezirke ergab, dass „stark demokratisch geprägte und afroamerikanische Viertel in Florida aufgrund veralteter Wahlmaschinen und grassierender Verwirrung über die Stimmzettel viel mehr Präsidentschaftsstimmen verloren haben als andere Gebiete…“ („Washington Post“/„Guardian Weekly“, 7.-13. Dezember)
Etwa 40% der schwarzen Wähler*innen in diesem Bundesstaat waren Neuwähler*innen, die durch komplizierte, schlecht gestaltete Wahlzettel eher verwirrt wurden. In überwiegend weißen Vierteln war die Wahrscheinlichkeit, dass Wähler*innen, denen ein Fehler unterlief, von den Behörden eine zweite Chance bekamen, einen gültigen Stimmzettel abzugeben, wesentlich größer. Die Post fand zum Beispiel heraus, dass in Duval County in Nordflorida, das mit 58% zu 41% von Bush gewonnen wurde, die ungültigen Stimmzettel überwiegend in afro-amerikanischen Vierteln der Innenstadt von Jacksonville zu finden waren. „In den überwiegend weißen Bezirken fiel etwa einer von vierzehn Stimmzetteln durch, aber in den überwiegend schwarzen Bezirken war mehr als einer von fünf Stimmzetteln ungültig – und in einigen schwarzen Bezirken war es fast ein Drittel.
Florida ist bei weitem kein Einzelfall, was die Diskriminierung von Afroamerikaner*innen und anderen Minderheiten betrifft. Aus Berichten geht hervor, dass es in Cook County (zu dem Chicago gehört), Illinois, genau dieselbe Art von grober Diskriminierung gab. Einer von zwölf Stimmzetteln wurde in Bezirken mit einem Anteil von über 70% Afroamerikaner*innen für ungültig erklärt, während es in Bezirken mit einem Anteil von weniger als 30% Afroamerikaner*innen nur einer von 20 war. In der Stadt Chicago gab es 51 Wahlbezirke, in denen mindestens einer von sechs Stimmzetteln keine gültige Präsidentschaftsstimme enthielt – 90% ihrer Einwohner*innen sind schwarz oder lateinamerikanisch. („Washington Post“, 27. Dezember) Nach Angaben des Committee for the Study of the American Electorate wurden schätzungsweise 2,1 bis 2,8 Millionen Stimmzettel in allen 50 Bundesstaaten nicht ausgezählt. („Financial Times“, 29. November)
Aber in Florida waren die Republikaner*innen entschlossen, alles zu tun, um Afroamerikaner*innen von den Wahlkabinen fernzuhalten. Sie rechneten eindeutig mit einer Rekordbeteiligung in den Minderheitenbezirken und erkannten, dass diese überwiegend an Gore und die Demokrat*innen gehen würde. Dies war weniger eine Stimme für Gore als vielmehr eine Stimme gegen den Gouverneur von Florida, Jeb Bush. Letztes Jahr hatte Gouverneur Bush die Abschaffung der positiven Diskriminierung bei der Hochschulzulassung zugunsten einer rassistischen, so genannten „Ein Florida“-Politik beschlossen. Es war auch ein Votum gegen die Kandidatur von George W., dessen reaktionäre Bilanz in Texas wohlbekannt ist (die groteske Zahl der Hinrichtungen; ein staatlicher Mindestlohn von 3,15 Dollar pro Stunde).
Die National Association for Colored People (NAACP), die 10 Millionen Dollar für eine landesweite Wähler*innenregistrierungskampagne ausgab, nahm insbesondere Florida ins Visier. Während die Wahlbeteiligung der Schwarzen landesweit weitgehend unverändert blieb, stieg sie in Florida sprunghaft an: „Der Anteil der Schwarzen an der Gesamtwahl stieg von 10% im Jahr 1996 auf 15% im Jahr 2000, also um 50%. Darüber hinaus stimmten die Afroamerikaner*innen in diesem Bundesstaat den Nachwahlbefragungen zufolge mit 93% zu 7% für Mr. Gore und nicht für Mr. Bush. („Washington Post Service“/„International Herald Tribune“, 13. Dezember)
Während der Auseinandersetzungen nach den Wahlen sprach Jesse Jackson auf einigen Versammlungen in Florida, aber die Führung der Demokratischen Partei unternahm nichts, um Proteste zu mobilisieren, da sie offensichtlich jede Aktion auf der Straße fürchtete. Dennoch wird die Wut über den weitgehenden Raub des Wahlrechts vor allem unter den Afroamerikaner*innen groß bleiben. Sie werden sich nicht davon beeindrucken lassen, dass George W. Gestalten wie Colin Powell und Condoleezza Rice in seine Regierung berufen hat. Sie werden Jeb Bushs Rolle beim Nachwahlputsch der Republikaner*innen nicht vergessen. Ein führender Republikaner aus Florida gab zu, dass sie „einen heiligen Krieg in Florida im Jahr 2002 erwarten“, wenn Jeb Bush zur Wahl stehen wird.
Folge dem Geld
Auch wenn es 36 Tage gedauert hat, bis das neue Gesicht der Präsidentschaft feststand, so stand doch die Identität des eigentliche Gewinners nie in Frage: die Großkonzerne. Die Großkonzerne und wohlhabenden Investor*innen zahlten für die Wahl, mit einer Gesamtsumme zwischen 3 und 4 Milliarden Dollar für alle nationalen und lokalen Wahlen. An mehr als einem Drittel (151) der 435 Kongresswahlen am 7. November war mindestens ein*e Kandidat*in beteiligt, der/die 1 Million Dollar oder mehr ausgab. Die Zahl der Kandidat*innen für das Repräsentant*innenhaus, die mindestens 2 Millionen Dollar aufbrachten, stieg von acht im Jahr 1996 auf 34 im Jahr 2000. („US Today“, 26. Dezember) Das nationale republikanische Kongresskomitee nahm 140 Millionen Dollar ein, während das demokratische Kongresswahlkampfkomitee 94 Millionen Dollar sammelte.
Einige Kandidat*innen finanzieren ihre Wahlkämpfe aus ihrem eigenen Vermögen. Die meisten Wahlkampfgelder kommen jedoch von den großen Unternehmen. Gore wurde von Occidental Petroleum, Bell South (Telekommunikation), Hollywood Studios und der Lobby der Prozessanwälte begünstigt. Bush wird vor allem von der Rüstungsindustrie, den Versicherungsgesellschaften und dem Immobiliensektor begünstigt. Viele der Unternehmenslobbys unterstützen sowohl die Kandidat*innen der Demokrat*innen als auch der Republikaner*innen. Amoco-Vorstandschef John Browne erklärte: „Wir begrüßen einen Sieg der einen oder anderen Partei sehr“. („Le Monde Diplomatique“, Dezember 2000)
Geld spricht zweifellos: 92% der Abgeordneten und 88% der Senator*innen, die im November gewählt wurden, waren die Kandidat*innen, die am meisten Geld ausgegeben haben. In vielen Fällen ergibt sich ihr finanzieller Vorteil aus der Tatsache, dass es sich um die Amtsinhaber*innen handelt, die in 95% der Sitze wiedergewählt werden. Die Beiträge zu ihren Wahlkampffonds sind in Wirklichkeit Zahlungen für bereits geleistete Dienste.
Etwa eine halbe Million wohlhabender Individuen (etwa zwei Zehntel eines Prozents der US-Bevölkerung) spenden 1.000 Dollar oder mehr an die beiden Parteien. Diese Gruppe entspricht in etwa der herrschenden Klasse der USA, den in den Vorstandsetagen sitzenden und Lobbyisten beschäftigenden Superreichen, die ihre wirtschaftliche Macht nutzen, um gewählte Vertreter*innen zu kaufen und die politische Agenda Washingtons zu bestimmen.
Sie wählen die Kandidat*innen durch die Finanzierung der Vorwahlen aus. Sie legen die Agenda der Kandidat*innen fest – und wenn die Kandidat*innen ihr Amt antreten, erwarten die Geldgeber*innen ihre Rückzahlung in Form von Steuererleichterungen, Deregulierung von Geschäftsaktivitäten, Subventionen, Regierungsverträgen und Günstlingsjobs. Dies ist nichts weniger als das weltweit größte System von institutionalisierter, mehr oder weniger legaler Bestechung.
Frühere Versuche, Wahlkampfgelder einzuschränken und zu regulieren, insbesondere die Maßnahmen, die nach der Nixon-Watergate-Krise eingeführt wurden, haben insgesamt keine Wirkung gezeigt. Beschränkungen für „hartes Geld“, d. h. Mittel, die direkt in die Wahlkämpfe der Kandidat*innen fließen, führten zu einer Zunahme von „weichem Geld“, d.h. Mitteln, die für die Wähler*innenregistrierung potenzieller Unterstützer*innen oder für „Themen“-Werbung verwendet werden können, die bestimmte Kandidat*innen nicht so subtil begünstigt.
Die Vorteile der massiven politischen Finanzierung liegen natürlich nicht nur auf einer Seite. Die Großkonzerne erwartet natürlich eine Gegenleistung für ihre Beiträge, aber wie jeder, der eine mächtige Schutzgelderpressung betreibt, erwarten auch die Politiker*innen ihren Anteil an der Beute. Ein Sprecher des neuen Konglomerats AOL-Time-Warner erklärte dazu: „Washington hat wiederholt diejenigen begünstigt, die zahlen, auf Kosten derer, die nicht zahlen“. („Time Magazine“, 7. Februar 2000)
Während sie zweifellos die Macht wollen, politische Entscheidungen zu bestimmen, beklagen sich viele führe Unternehmensvertreter*innen in letzter Zeit über den Druck, politische Spenden zu leisten. Laut einer Umfrage des CED vom Oktober letzten Jahres gaben 74% der Führungskräfte an, dass sie „nachteilige Folgen für sich oder ihre Branche befürchten, wenn sie Spendenaufrufe ablehnen“. („American Prospect“, 18. Dezember 2000)
Die republikanischen und demokratischen Politiker*innen der sind die bezahlten Diener*innen der Großkonzerne. Zugleich sind sie Diener*innen, die den opulenten Lebensstil und die Sichtweise ihrer Zahlmeister*innen teilen. Viele sind selbst reiche Kapitalist*innen, andere nutzen ihre Positionen, um durch ihre politischen Verbindungen zu Großkonzernen Reichtum anzuhäufen. Die meisten sind sehr gierig geworden. Auf Bundes-, Bundesstaats- und Stadtebene haben sie enorme Günstlings-Befugnisse. Insgesamt sind Zehntausende von Stellen mit Freund*innen, Familienangehörigen und Gefolgsleuten gewählter Amtsinhaber*innen besetzt. Während sie für die Interessen der Großkonzerne arbeiten, haben sie ihr eigenes, Sektoren-Interesse an Prestige, Macht, Patronage und Vergünstigungen. Hinter der Rivalität zwischen Republikaner*innen und Demokrat*innen steht der erbitterte Konkurrenzkampf um die Beute des Amtes, nicht irgendwelche grundlegenden politischen Differenzen.
Nader: was nun?
Nader hat seinen Kampf gegen das Duopol mit nur 8 Millionen Dollar angetreten, die er durch eine Vielzahl von Kleinspenden gesammelt hat. Er stellte radikale Forderungen, zu denen Bush und Gore überparteilich schwiegen: ein Mindestlohn von 10 Dollar pro Stunde, die Aufhebung repressiver gewerkschaftsfeindlicher Gesetze, ein allgemeines Gesundheitswesen, die Abschaffung der Todesstrafe usw. Seine Botschaft war konsequent und kühn konzernfeindlich, wenn auch nicht eindeutig antikapitalistisch. (Siehe unsere früheren Berichte in Socialism Today, Nr. 47 und 50).
Nader ist ein radikaler Populist, kein Sozialist, aber die fortschrittliche Bedeutung seines Wahlkampfs war seine Herausforderung der beiden Großkonzern-Parteien, die die US-Politik weitgehend monopolisiert haben. „Der einzige Unterschied zwischen Al Gore und George W. Bush“, so Nader wiederholt und zutreffend, ‚ist die Geschwindigkeit, mit der ihre Knie den Boden berühren, wenn die Konzerne anklopfen“. Naders Kampagne ging von der richtigen Voraussetzung aus, dass die Demokratische Partei in keiner Weise als fortschrittliches Vehikel für soziale Reformen, geschweige denn für radikale gesellschaftliche Veränderungen angesehen werden könne.
Naders Kampagne spiegelte die Entstehung der radikalen Schicht vor allem studentischer Jugendlicher wider, die mit den Anti-WTO-Protesten in Seattle im November 1999 auf die politische Bühne platzte. Wie seine Massenkundgebungen zeigten, an denen bei größeren Veranstaltungen zehn- bis fünfzehntausend Menschen begeistert teilnahmen, verstärkte Nader die radikale Welle von Seattle über die Proteste gegen den IWF in Washington DC und bei den Parteitagen der Republikaner*innen und Demokrat*innen. Naders Anti-Konzern-Slogans entsprachen der Stimmung dieser Schicht, die sich aus verschiedenen Elementen mit einem recht unterschiedlichen Bewusstsein zusammensetzt. Während sich manche Teile der jungen Menschen immer noch in erster Linie mit einzelnen Themen beschäftigen – Umwelt, Sweatshop-Arbeit in unterentwickelten Ländern usw. – bewegen sich andere zu einer antikapitalistischen Position und sind offen für sozialistische Ideen.
In der Schlussphase des Wahlkampfs war Nader das Ziel einer intensiven und äußerst bösartigen Kampagne der Führung der Demokrat*innen und ihrer Anhänger*innen in den Medien. Die „New York Times“, die Gore als verantwortungsvolleren und zuverlässigeren Präsidentschaftskandidaten als Bush favorisierte, denunzierte Nader als „Abrissbirne“. Führende Vertreter*innen der Linken in der Demokratischen Partei waren besonders giftig. Einige Umweltschützer*innen, wie der Sierra Club, schlossen sich der Kampagne „Eine Stimme für Nader ist eine Stimme für Bush“ an. John Sweeney, Präsident der AFL-CIO, nannte Naders Kampagne „verwerflich“ und warf ihm vor, an einer „Kinderkrankheit“ zu erliegen.
Nader beantwortete diese Kritik entschlossen mit sehr treffenden Argumenten. Die organisierte Arbeiter*innenbewegung unterstütze die Demokrat*innen massiv, so Nader, aber die Clinton/Gore-Regierung gab ihnen NAFTA und China-Handelsgesetze, während sie sich weigerten, das arbeiter*innenfeindliche Taft-Hartley-Gesetz abzuschaffen oder eine allgemeine Gesundheitsversorgung einzuführen. In der Schlussphase des Wahlkampfs, als klar war, dass das Ergebnis knapp ausfallen würde, kehrte ein großer Teil von Naders Unterstützung zu den Demokrat*innen zurück. Infolgedessen lag Naders Stimmenanteil auf nationaler Ebene unter 5%, der Schwelle für die Gewährung von Bundeswahlkampfmitteln bei künftigen Wahlen. Dennoch erhielt Nader in elf Staaten (und Washington DC) mehr als 5% der Stimmen und in sieben weiteren mehr als 4%.
Nader erhielt in Florida weniger als 2% der Stimmen, d.h. nur 97.000 Stimmen, aber mehr als der Vorsprung, mit dem Bush den Staat gewann. Dies löste eine wütende Breitseite des demokratischen Establishments und der Gewerkschaftsbürokratie aus, die damit drohen, Nader aus der Washingtoner Politik auszuschließen und allen mit ihm verbundenen Kampagnen den Geldhahn zuzudrehen. „Nun“, antwortet Nader mit Blick auf das Washingtoner Establishment, ‚sie haben die fortschrittliche Zivilgesellschaft schon vor langer Zeit ausgeschlossen“.
Es ist möglich, dass eine Gore-Regierung geringfügig weniger reaktionär gewesen wäre, als es die Bush-Regierung wahrscheinlich sein wird, insbesondere in sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Aber jeder Vorteil eines „kleineren Übels“ wird durch die Notwendigkeit, die politisch bewussteren Teile der jungen Menschen, der Minderheiten und der Arbeiter*innen aus der Umklammerung der Demokrat*innen zu befreien und die Grundlage für eine unabhängige linke Massenpartei zu schaffen, völlig aufgewogen. Naders Kampagne war, ungeachtet ihrer Grenzen, ein Schritt in diese Richtung.
Dominiert von Naders Persönlichkeit und mit bescheidenen Mitteln, beschämte seine Kampagne dennoch die führenden Vertreter*innen der Gewerkschaften, die Millionen von Dollar in den Wahlkampf für die Demokrat*innen steckten und Heerscharen von Hauptamtlichen für ihre Kampagne abstellten. Sie beschämte auch die Führung der jungen Labor Party, die vor kurzem eine Wahlpolitik beschlossen hatte, aber keine Anstalten machte, bei den Wahlen 2000 eigene Kandidat*innen aufzustellen.
Im Zuge der Kampagne für eine Nader-Stimmabgabe und der führenden Rolle beim Aufbau der Koalition „Nader for President“ in einer Reihe von Gebieten hat Socialist Alternative (CWI-Gruppe in den USA) die Frage aufgeworfen, ob Nader nach der Wahl eine Konferenz einberufen sollte, um die an der Kampagne beteiligten Kräfte zusammenzubringen, und auch an die Gewerkschaften, Minderheitenorganisationen, Communitykampagnen usw. appelliert, um die Gründung einer unabhängigen Partei zu diskutieren, die sich auf die Interessen der Arbeiter*innenklasse stützen würde.
Obwohl sein Wahlkampf dazu beigetragen hat, den Boden für eine solche Entwicklung zu bereiten, hat Nader bedauerlicherweise keine Schritte in diese Richtung unternommen. Nader hat keine Perspektive für die Gründung einer neuen, unabhängigen Partei aufgezeigt. Berichten zufolge will er nun das Wachstum der Grünen Partei fördern und sie mit Bürger*innenbewegungen im ganzen Land zusammenbringen. (Siehe David Corn: Nader, Is There Life After Crucifixion? [Nader, Gibt es ein Leben nach der Kreuzigung?] „The Nation“, 4. Dezember 2000) Er stellt sich die Gründung neuer, mit den Grünen verbundener Organisationen: eine gemeinnützige Bildungsgruppe, einen Lobbying-Arm und ein politisches Aktionskomitee, parallel zur Grünen Partei vor. Berichten zufolge will er die Gründung von Ortsgruppen der Grünen Partei an Universitäten fördern und Beratungsstellen der Grünen Partei in armen Gegenden einrichten.
Die Grünen und andere Organisationen werden, glaubt Nader, eine „Wachhundrolle“ gegenüber der Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung spielen. Er beabsichtigt, eine „oder sonst“-Beziehung zur Führung der Demokrat*innen in Washington aufzubauen und Senator*innen oder Abgeordnete, die von den Grünen als wählbar eingeschätzt werden, anzusprechen. Wenn sie keine grün-freundlichen Positionen einnehmen, so wird ihnen gesagt, werden sie bei den Wahlen 2002 und danach von den Grünen herausgefordert werden.
Dies ist keine gangbare Strategie für den Aufbau einer neuen Partei. Zunächst einmal ähneln die Grünen nicht einmal im Entferntesten auch nur dem embryonalen Kern einer Massenpartei. Sie sind seit langem in zwei verschiedene Gebilde gespalten, die Association of State Green Parties und die kleinere, radikalere Green Party USA. Berichten zufolge steht Naders Wahlkampfteam der Rolle der Grünen sehr kritisch gegenüber. Einem ungenannten „engen Nader-Berater“ zufolge, schreibt Corn, „konzentrierten sich [die Grünen] vielerorts kaum auf den Präsidentschaftswahlkampf, sondern interessierten sich eher für lokale Themen wie Tierrechte oder Stromleitungen… Die Superkundgebungen waren trotz der Grünen ein Erfolg… In vielen Orten haben sie den Übergang von einem Debattierklub zu einer politischen Partei nicht geschafft“.
Viele führende Grüne haben zudem nicht entschieden mit den Demokrat*innen gebrochen. In der Schlussphase des Wahlkampfs sind viele eingeknickt und haben zu einer Stimmabgabe für Gore aufgerufen. Vor allem aber haben die Grünen mit ihrem derzeitigen Erscheinungsbild und ihren Mitgliedern aus der Mittelschicht keine Möglichkeit, die Unterstützung von Organisationen der Arbeiter*innenklasse, der Gewerkschaftslinken, von Afroamerikaner*innen, Latin@s oder anderen Minderheiten zu gewinnen.
Etwas Don-Quixote-artig sieht sich Nader offenbar als de facto „Parteichef“ der Grünen, obwohl er nicht Mitglied der Partei ist (er ist Mitglied der Labor Party, die sich weigerte, seinen Wahlkampf zu unterstützen). „Ich stehe außen und dehne die Grüne Partei aus“, sagt Nader laut Corn, ‚während diejenigen, die drinnen sind, sie intensivieren‘.
Naders vorgeschlagene „oder sonst“-Offensive gegen die Politiker*innen in Washington mag ein Ärgernis sein und sie vielleicht sogar hier und da ein paar Sitze kosten, aber der einzige Weg, das demokratische „linke“ Gesicht der der Großkonzerne ernsthaft herauszufordern, ist durch die Organisation einer Massenpartei mit einer Basis in der Arbeiter*innenklasse und einer radikalen antikapitalistischen Politik.
Die Wahlen im Jahr 2000 haben einmal mehr diese schreiende Notwendigkeit gezeigt. Nur eine solche Partei könnte den beiden Großkonzern-Parteien wirksam entgegentreten und Teile der organisierten Arbeiter*innen, der Afroamerikaner*innen usw. von ihrer traditionellen, aber politisch vergeblichen Loyalität zu den Demokrat*innen lösen. Eine Arbeiter*innenmassenpartei ist dringend nötig, um die Interessen der arbeitenden Menschen zu verteidigen und den Kämpfen von Arbeiter*innen, Minderheiten, Immigranten ohne Papiere, Frauen, jungen Menschen usw., die sich in den nächsten Jahren entwickeln werden, eine politische Stimme zu verleihen.
Eine Arbeiter*innenpartei müsste ein Programm mit demokratischen Forderungen vorantreiben, um der Korruption des kapitalistischen Wahlsystems entgegenzuwirken. Sie würde die institutionalisierte Bestechung durch die Großkonzerne aufdecken, die jetzt wirksam ist, und die Abschaffung von Anachronismen aus dem 18. Jahrhundert fordern, wie z. B. des Wahlkollegiums, und vor allem die Hindernisse aus dem Weg räumen, die dritten oder unabhängigen Kandidat*innen den Weg auf den Wahlzettel versperren.
Eine Arbeiter*innenpartei würde sowohl auf der Wahlebene als auch durch betriebliche und kommunale Kampagnen für soziale Themen kämpfen, die für die Arbeiter*innen von größter Bedeutung sind: für einen auskömmlichen Lohn, gegen repressive Gewerkschaftsgesetze, für ein universelles Gesundheitssystem, für ein Ende der Todesstrafe, Dokumente für alle Einwanderer*innen und vieles, vieles mehr. Jede Arbeiter*innenpartei, die in der nächsten Periode entsteht, wird zwangsläufig konzernfeindlich sein, aber ihr Programm müsste von einem sozialistischen Standpunkt aus viel weiter gehen, das kapitalistische System in Frage stellen und für eine sozialistische Wirtschaft auf der Grundlage demokratischer Planung eintreten.
Die Bildung einer neuen Arbeiter*innenpartei wäre trotz der unvermeidlichen Einschränkungen und Besonderheiten in der ersten Phase ihres Bestehens ein gewaltiger Schritt vorwärts für die Arbeiter*innenklasse. Sie würde die Rolle eines politischen Katalysators spielen, der das bewusste Element liefert, das für die Entstehung der amerikanischen Arbeiter*innenklasse – die trotz aller Leugnungen von allen Seiten eine mächtige wirtschaftliche und soziale Kraft ist – als mächtige politische Kraft notwendig ist.
Die unmittelbaren, greifbaren Ergebnisse von Naders Kampagne mögen leider sehr begrenzt sein. Dennoch mobilisierte und begeisterte Nader im Jahr 2000 eine radikale Schicht junger Menschen, zu der sich auch einige ältere Arbeiter*innen gesellten, in einer Bewegung, die die viel breitere und tiefere Radikalisierung vorwegnimmt, die in den kommenden Jahren stattfinden wird.
George W’s Pech
„Es ist nicht so wichtig, wer gewinnt“, erklärte Daniel Patrick Moynihan, Senator aus New York, erfahrener Staatsmann und Sprecher der bürgerlichen Ordnung. „Das Wichtigste ist die Legitimität des Systems“. Es stimmt, dass die weitsichtigeren Strateg*innen der herrschenden Klasse (für die die Leitartikel der „New York Times“ und der „Washington Post“ sprachen) Gore als eine ausgewogenere, verantwortungsvollere Führungspersönlichkeit favorisierten, insbesondere angesichts der Aussicht auf einen wirtschaftlichen Abschwung und zunehmende soziale Spannungen. Aber sie können mit einer Bush-Präsidentschaft leben. Schwerwiegender ist die Aushöhlung der Legitimität, die durch den Streit um Florida noch verschärft wird, aber aus einem tiefen Zynismus, aus einer Massenverdrossenheit gegenüber dem gesamten politischen System resultiert.
Unter der Überschrift „Politische Dekadenz“ beklagte ein Leitartikel der „Washington Post“: „Die Politik Amerikas befindet sich in einem Zustand ernster Verwahrlosung“. („International Herald Tribune“, 27. November) „Die Täuschung der Wähler ist zu einer akzeptierten Taktik geworden … die Abhängigkeit von Fernsehbildern und die geringe Wertschätzung der Wahrheit führen zu einer Art Demagogie, die zum Hintergrundgeräusch der Wahlkämpfe geworden ist. Die Glaubwürdigkeit der Politiker hat abgenommen, ebenso wie … der Glaube der Öffentlichkeit an und ihr Vertrauen in die staatlichen Institutionen“.
„Der Kongress selbst ist in einen Zustand der Ohnmacht und des parteipolitischen Getues verfallen. Beschränkungen für den Einsatz von Geld, um politische Ämter und Gunst zu kaufen, sind zusammengebrochen. Interessengruppen – Industrieverbände und Gewerkschaften, Umweltverbände, Lebensrechtsorganisationen [d.h. radikale Abtreibungsgegner*innen], Schützenvereine und zahllose andere Organisationen, die sich nur mit einem Thema befassen – verfügen inzwischen über noch größere Summen und eine noch größere Intensität als die politischen Parteien. Die Politik war noch nie ein unschuldiger Beruf, aber dies ist anders als früher“.
Die „Post“ verteidigt immer noch das „republikratische“ System und behauptet (gegen Nader), dass es „bedeutsame Unterschiede“ zwischen den Demokrat*innen und den Republikaner*innen gebe, auch wenn „sie nicht radikal sind“. „Aber das Land ist in eine Art von Söldner-, von verbrannte-Erde-Politik abgedriftet, bei der es oft um den Gewinn der Macht zu gehen scheint, ohne Rücksicht auf deren möglichen Nutzen“. Mit Blick auf den Kampf nach den Wahlen in Florida kommentiert die „Post“: „Das Land ist zum Gefangenen einer Art von politischem Faustkampf geworden, der ihm großen Schaden zufügt. Die Kandidaten könnten beginnen, eine andere Richtung einzuschlagen, haben es aber nicht getan, ebenso wenig wie die erfahrenen Staatsmänner der Parteien…“
Historisch gesehen hat das Zweiparteiensystem der herrschenden Klasse gut gedient. Der parteipolitische Kampf zwischen Republikaner*innen und Demokrat*innen um ein Amt vermittelte die Illusion einer Wahl und verschleierte das Fehlen echter Alternativen. Andere Parteien wurden durch massiven finanziellen Einfluss und tausendundeine Hürde auf dem Weg zum Wahlzettel ausgeschlossen. Aber bei der Abwesenheit selbst einer sozialdemokratischen Partei europäischen Typs, die den Druck der Arbeiter*innenklasse widerspiegelt, hat das „republikratische“ System groteske Auswüchse entwickelt. Diese untergraben die Rolle des Wahlprozesses im Kapitalismus: die Auswahl und Prüfung kompetenter Führungspersönlichkeiten durch öffentliche Debatten, um den Staat und die Wirtschaft im Interesse der herrschenden Klasse zu verwalten, und die Rolle der kapitalistischen Regierung in den Augen der nicht-kapitalistischen Mehrheit zu legitimieren. Dennoch ist das letzte, was sie wollen, die Entwicklung einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei, obwohl die Ereignisse der nächsten Jahre alle Bedingungen für das Entstehen einer solchen Partei schaffen werden.
Das System hat dieses Mal einen „zutiefst seichten“ Kandidaten ins Weiße Haus gebracht. Er wird, wie schon Reagan vor ihm, als eine Art Theaterdirektor für ein Team von rechten Kapitalist*innen und Bürokrat*innen dienen, wenn auch ohne den Vorteil von Reagans schauspielerischen Fähigkeiten. Vizepräsident Cheney und andere Veteran*innen der Bush-I-Regierung werden zusammen mit Finanzminister Paul O’Neill (einem Freund Greenspans), John Ashcroft, dem rechten Generalstaatsanwalt, und anderen das Drehbuch schreiben: George W. wird sein Bestes tun, um es durchzunuscheln. Nichtsdestotrotz wird das kapitalistische Establishment über Bushs Kabinett und hochrangige Berater*innen versuchen, die Präsidentschaft zu schulen und sie nach seinen aktuellen Bedürfnissen zu formen. Es gibt jedoch das Problem, dass die herrschende Klasse der USA in viele Fraktionen zersplittert ist, die unterschiedliche wirtschaftliche und regionale Interessen widerspiegeln, und nie die soziale oder ideologische Kohärenz der Bourgeoisie der großen europäischen Mächte erreicht hat.
Die Präsidentschaft wird einem gespaltenen Kongress gegenüber stehen, ein Rezept für anhaltenden Stillstand. Das eigentliche Problem der Bush-Regierung ist jedoch nicht die Arithmetik des Kongresses, sondern das Fehlen einer durchdachten Politik zur Bewältigung des kommenden Abschwungs und der sozialen Unruhen, die er erzeugen wird. Die scheinbare politische Selbstgefälligkeit der letzten Periode, die nur ein oberflächlicher Deckmantel für die zunehmenden Spannungen im Inneren ist, wird durch den Ausbruch politischer Missstände in allen Teilen der Gesellschaft zunichte gemacht werden.
Der Hauptfaktor wird der Abschwung der amerikanischen Wirtschaft sein. Bush hat bereits versucht, sich mit Greenspan zu verbünden, aber die Greenspan-Magie wird sich in den kommenden Monaten verflüchtigen. Bush hat auch versucht, jeder Schuld an dem Abschwung vorzubeugen, indem er die Wirtschaft vor seiner Amtseinführung „herunter redete“. Dies wird ihn in den Augen der arbeitenden „Mittelschicht“ nicht von der Verantwortung befreien, wenn sie von der bösartigen Rache für die Spekulationsblase der späten 1990er Jahre getroffen werden wird. Bush wird nicht den Überschuss des Bundeshaushalts in Form von massiven Steuersenkungen für die Reichen verschenken können, weil der Überschuss durch den Abschwung bald wieder ausradiert sein wird.
George W., so wird behauptet, sei von dem Ehrgeiz getrieben, seinen Vater zu rächen, den Sieger des Golfkriegs von 1990-91 und Architekten der Neuen Weltordnung, dessen Wiederwahlkampagne 1992 durch die damalige Rezession torpediert wurde, wie es der Zufall wollte. Nach Ansicht der Republikaner*innen wurde Bush senior zu Unrecht von Clinton verdrängt (mit der verräterischen Hilfe von Ross Perot), der sogar ihre politische Kleidung gestohlen hatte. George W’s „Glück“ wird jedoch noch schlimmer sein. Ihm steht nun ein Abschwung bevor, der wahrscheinlich viel tiefer sein wird als 1990-91, mit weitaus schwerwiegenderen Auswirkungen innerhalb der USA. Darüber hinaus wird er mit Sicherheit mit noch größeren und hartnäckigeren Problemen für den US-Imperialismus auf der Weltbühne konfrontiert sein.
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