[eigene Übersetzung des englischen Textes in The Socialist, Nr. 404 11. August 2005]
Hiroshima, 6. August 1945, 8 Uhr morgens. Die Entwarnung erklang und signalisierte das Ende eines Luftangriffs durch US-Bomber. Arbeiter*innen und Schulkinder verließen ihre Häuser, löschten Brände, räumten Schäden auf und gingen zur Arbeit. Um 8.45 Uhr flog ein einzelner US-Bomber über die Stadt und warf eine Atombombe ab, die über der Stadt explodierte. Die Bombe tötete über 100.000 Menschen und verletzte weitere 80.000.
Lynn Walsh
Die alliierten Mächte hatten bereits massenhaft Tod und Zerstörung über deutsche und japanische Städte gebracht, aber die Atombombe war qualitativ anders – eine einzige Waffe tötete so viele Menschen wie zahlreiche Wellen konventioneller Bomber.
Am 9. August wurde eine zweite Atombombe auf Nagasaki abgeworfen, die mehr als 70.000 Menschen tötete und eine ähnliche Zahl oder mehr verletzte. Die Atombomben hinterließen auch ein schreckliches Erbe an traumatischen sozialen Schäden und genetischen Deformationen.
Der US-Imperialismus hatte mit Unterstützung Großbritanniens und anderer kapitalistischer Mächte eine neue Ära der Massenvernichtungswaffen eingeläutet. Totalitäre Regime – Deutschland, Italien und Japan -, die mit den Westmächten und der Sowjetunion in Konflikt gerieten, verübten die barbarischsten Verbrechen gegen die Menschheit, einschließlich Völkermord.
Nichtsdestotrotz war die Strategie des Massenterrors gegen die Zivilbevölkerungen, die von den Westmächten insbesondere in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs (1939-45) ausgeführt wurde, auch ein monströses Verbrechen gegen die Menschheit.
Warum haben die USA Japan mit Atomwaffen angegriffen?
US-Präsident Truman und seine hochrangigen Beamt*innen und militärischen Befehlshaber argumentierten, dass der Einsatz von Atomwaffen unerlässlich sei, um den Krieg gegen Japan schnell zu beenden. Sie behaupteten, dies könne das Leben von einer Million US-Soldaten retten. Angesichts der hohen Verluste, die die USA bei der Eroberung der japanischen Inseln Iwo Jima und Okinawa zu beklagen hatten, war es nicht verwunderlich, dass dies bei den meisten Amerikaner*innen auf große Zustimmung stieß. Sie enthüllten jedoch nicht die geheimdienstlichen Einschätzungen, die vorhersagten, dass das japanische Regime bald kapitulieren werde. Der offizielle US Strategic Bombing Survey folgerte später: „Es ist die Meinung des Surveys, dass Japan mit Sicherheit vor dem 31. Dezember 1945 und aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem 1. November 1945 kapituliert hätte, selbst wenn die Atombomben nicht abgeworfen worden wären, selbst wenn Russland nicht in den Krieg eingetreten wäre und selbst wenn keine Invasion geplant oder in Erwägung gezogen worden wäre.“
Die japanische Militärmaschinerie ging in die Brüche. Im März 1945 bombardierte die US-Luftwaffe Tokio mit Brandbomben und tötete 80.000 Menschen.
Teile des Regimes sondierten mit den westlichen Verbündeten die Bedingungen für eine Kapitulation, insbesondere durch Gespräche mit der sowjetischen Regierung. Die USA forderten die bedingungslose Kapitulation.
Die japanische herrschende Klasse wollte die Zusicherung, dass Kaiser Hirohito nicht als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werde und unter der US-Besatzung Kaiser bleiben dürfe. Truman lehnte diese Bedingung ab, obwohl die USA sie später bereitwillig akzeptierten – nachdem sie zwei Atombomben abgeworfen hatten.
Warum war der US-Imperialismus so entschlossen, Atomwaffen zu verwenden? Der Historiker Herbert Feis fasst es zusammen. Das Drängen, die Bomben einzusetzen, nur einen Monat nach dem ersten Test in der Wüste von New Mexico, wurde angetrieben durch „den Schwung der Kampfanstrengungen und -pläne, den Impuls zu bestrafen, die Neigung zu demonstrieren, wie überragend die [amerikanische] Macht war…“.
Die Demonstration der US-Macht richtete sich insbesondere gegen die Sowjetunion. Gemäß den früheren Vereinbarungen zwischen den Alliierten in Jalta im Februar 1945 hatte sich Stalin verpflichtet, am 8. August eine Militäroffensive gegen Japan zu starten.
Mitte 1945 traten jedoch die grundlegenden Gegensätze zwischen den „Verbündeten“ an die Oberfläche. Bedroht von den faschistischen Todfeinden Deutschland, Italien und Japan, war der US-amerikanisch-britische Imperialismus gezwungen, sich auf die die Sowjetunion bezüglich militärischer Unterstützung zu stützen.
Am Ende des europäischen Krieges jedoch besetzte das stalinistische Regime – eine bürokratische Diktatur, die über eine zentrale Planwirtschaft herrschte – Mittel- und Osteuropa und bildete ein massives Gegengewicht zu Macht und Einfluss des westlichen Kapitalismus.
Das Letzte, was Truman und Churchill wollten, war die Besetzung Japans durch sowjetische Streitkräfte. Sie waren entschlossen, Stalins Militäroffensive zuvorzukommen, indem sie die erste Atombombe am 6. August und eine zweite am 16. August [?] abwarfen. Dies ermöglichte es den US-Streitkräften unter General MacArthur, Japan zu besetzen.
Ein ehemaliger wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung, PMS Blackett, kommentierte später: „… der Abwurf der Atombomben war nicht so sehr der letzte militärische Akt des Zweiten Weltkrieges, sondern der erste Akt des diplomatischen kalten Krieges mit Russland, der jetzt im Gange ist.“
Führende kapitalistische Vertreter*innen rechtfertigen weiterhin den Einsatz von Atomwaffen gegen Japan im Jahr 1945. Aber die historische Bilanz ist eindeutig. Hiroshima und Nagasaki waren für den US-Imperialismus nicht notwendig, um eine schnelle Niederlage des japanischen Faschismus herbeizuführen. Die Atombomben, Massenvernichtungswaffen eines völlig neuen Ausmaßes, wurden nur eingesetzt, um die US-Macht zu demonstrieren.
Atomares Wettrüsten
Die Mehrheit der führenden Wissenschaftler*innen (124 von 150), die am „Manhattan-Projekt“, den massiven wissenschaftlich-industriellen Bemühungen der USA zur Entwicklung von Atomwaffen, mitarbeiteten, sprach sich gegen den Einsatz einer Atombombe gegen Japan aus. Viele sprachen sich für eine öffentliche, demonstrative Explosion aus, um der japanischen Regierung Zeit zur Kapitulation zu geben.
Während man glaubte, dass Hitler Atomwaffen vorbereiten könnte, hielten es die Wissenschaftler*innen für gerechtfertigt, an einer US-Bombe zu arbeiten.
Nach der Niederlage Deutschlands waren sie jedoch der Ansicht, dass Atomwaffen moralisch nicht mehr zu rechtfertigen seien. Die politischen Vertreter*innen der herrschenden Klasse der USA setzten sich über diese Skrupel hinweg.
In einem Brief an Truman warnte eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, darunter James Franck und Leo Szilard, dass der Einsatz der Atombombe einen unbegrenzten Wettlauf um die atomare Aufrüstung auslösen würde. Ihre Warnung hat sich reichlich bestätigt.
Als Reaktion auf die Entwicklung der noch zerstörerischeren Wasserstoffbombe und der Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen durch die USA entwickelte die Sowjetunion ihr eigenes massives Atomwaffenarsenal.
Kleinere Mächte wie Großbritannien, Frankreich und China folgten auf dem Fuß. Die Mächte sammelten genug atomare Sprengköpfe an, um den gesamten Planeten mehrmals auszulöschen. Diese Waffen verschlangen einen großen Teil der verfügbaren Ressourcen für Wissenschaft und Technologie, die für gesellschaftlich nützliche Projekte hätten eingesetzt werden können.
Als Versuch, Atomwaffen zu rechtfertigen, argumentierten die führenden westlichen Vertreter*innen, dass das Gleichgewicht der Atommächte mit der gegenseitig gesicherten Zerstörung einen Krieg ausschließe. Doch obwohl Atomwaffen einen Weltkrieg zwischen den Supermächten ausschlossen, der zu einer gegenseitigen Zerstörung geführt hätte, verhinderten sie nicht eine endlose Reihe von „kleinen“ Kriegen, die von den Mächten oft für ihre eigenen Zwecke manipuliert wurden. Zwischen 1950 und 1989 forderten diese Kriege zwischen 20 und 30 Millionen Menschenleben.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach 1989 behaupteten die führenden westlichen Vertreter*innen, dass es eine „Friedensdividende“ geben würde, indem die Atomwaffenbestände und die Rüstungsausgaben generell reduziert würden. Es stimmt, die Zahl der Atomsprengköpfe wurde reduziert. Aber es gibt immer noch rund 27.600 Sprengköpfe (2.500 in Alarmbereitschaft) mit einer Zerstörungskraft von 5.000 Megatonnen (entspricht 5.000 Millionen Tonnen TNT).
Und während der Kalte Krieg eine relativ stabile Beziehung zwischen zwei Supermächten erzeugte, die rivalisierende Blöcke von Regionalmächten und Klientelstaaten beherrschten, ist die Situation heute viel instabiler und gefährlicher.
Über 40 Staaten haben Atomwaffen oder die Fähigkeit, schnell Atomwaffen herzustellen. Supermächte mögen Atomwaffen als das absolut letzte Mittel betrachten. Aber kann es völlig ausgeschlossen werden, dass Regime wie Nordkorea oder Pakistan angesichts regionaler Konflikte und interner Unruhen zu einem Atomschlag gegen ihre Feinde greifen würden?
Die großen Mächte behaupten, sie seien der Rüstungsreduzierung und der Nichtverbreitung von Atomwaffen verpflichtet. Doch das ist völlig heuchlerisch. Schon jetzt entwickeln die USA eine neue Generation taktischer Atomwaffen, und in Großbritannien bereitet Blair insgeheim das Ersetzen der alternden Trident-Atomwaffe vor – zu geschätzten Kosten von mindestens 15 Milliarden Pfund.
Im Jahr 1945 warnten Franck, Szilard und andere Wissenschaftler*innen des Manhattan-Projekts: „Der Schutz vor dem zerstörerischen Einsatz der Stomkraft kann nur durch die politische Organisation der Welt erfolgen.“ Sechzig Jahre später zeigt das Versagen der Vereinten Nationen und zahlreicher internationaler „Rüstungskontroll“-Verträge, die Verbreitung von Atomwaffen zu stoppen, dass dies im Kapitalismus eine Utopie ist. Das Konkurrenzstreben der kapitalistischen Nationalstaaten nach immer mehr Reichtum und Macht macht die Anhäufung von Waffen und Kriege unvermeidlich.
Die „politische Organisation der Welt“ erfordert eine weltweite Veränderung des Gesellschaftssystems: Demokratische Wirtschaftsplanung statt der Anarchie des Marktes. Sozialistische Demokratie anstelle der räuberischen Herrschaft der Kapitalist*innen und Großgrundbesitzer*innen. Nur die demokratische Kontrolle der Gesellschaft durch die Arbeiter*innenklasse kann die Grundlage für eine wirkliche internationale Zusammenarbeit und globale Planung bilden.
Hiroshima und Nagasaki sind eine ständige Erinnerung an das barbarische, zerstörerische Potenzial des Kapitalismus. Heute ist die Welt infolge der sich verschärfenden globalen Krise ein viel unbeständigerer und gefährlicherer Ort geworden. Die alarmierende Verbreitung von Atomwaffen macht sozialistische Veränderung noch dringlicher.
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