[veröffentlicht am 8. Juni 1934 , eigene Übersetzung des französischen Textes in Œuvres 4, Avril 1934 – Décembre 1934, verglichen mit der englischen Übersetzung in Writings of Leon Trotsky, Bd. 6, dort unter dem Titel „Arguments and rebuttals“, „Argumente und Widerlegungen“]
Argumente und Widerlegungen
„Die Einheit der Partei“.
Cachin und Thorez beschuldigten Doriot, die Einheitsfront innerhalb der Partei zu zerschlagen. In ähnlicher Weise verlangten Blum und Paul Faure vom linken Flügel ihrer Partei, die Einheit der Partei über die Einheitsfront des Proletariats zu stellen. Die Analogie ist frappierend. Beide Bürokratien verteidigen sich gegen die historischen Notwendigkeiten, die sie bedrohen. Bei ihrer Verteidigung jonglieren Paul Faure und Thorez mit der Idee der Einheitsfront wie Zirkusclowns, die sich gegenseitig Kugeln auf die1 Nase werfen.
Von einer „Einheitsfront“ innerhalb der Partei zu sprechen, ist absurd. Die Partei ist keine vorübergehende Koalition divergierender Gruppen, und Einheitsfront kann keinen anderen Sinn haben, als dass sich verschiedene und sogar divergierende Organisationen auf ein bestimmtes gemeinsames Ziel einigen. Wenn zwingende Notwendigkeiten zu einer Spaltung innerhalb der Partei führen, und wenn diese Spaltung immer tiefer und unversöhnlicher wird, nützt es nichts, zur Einheitsfront innerhalb der Partei aufzurufen: Die Politik der Partei selbst, ihr konkreter Inhalt, muss unter die Lupe genommen werden. Wenn sich herausstellt, dass die Strategie der Partei im Widerspruch zu den historischen Notwendigkeiten der Klasse steht, wird die Spaltung nicht nur zu einem Recht, sondern zu einer Pflicht. Liebknecht trat allein2 gegen eine mächtige Partei an, ohne sich um die Einheitsfront innerhalb der Partei zu kümmern, und er hatte Recht.
Wie kann man ein Ziel nicht erreichen
Die Falschheit der Politik der französischen Stalinisten hat nun einen fast mathematischen Ausdruck und Beweis gefunden. Schauen wir uns das genauer an. Das höchste Ziel der Stalinisten ist die Untergrabung der Sozialdemokratie. Diese befindet sich in einer historischen Sackgasse. Sie ist gespalten und zerreißt sich unter dem Druck der Ereignisse und ihrer inneren Widersprüche. Eine Fraktion zugunsten einer Annäherung an Moskau hat sich herausgebildet.
Aber die stalinistische Leitung hat es geschafft, eine Spaltung in der sogenannten Kommunistischen Partei herbeizuführen und den linken Flügel der Sozialistischen Partei in Richtung Blum und Paul Faure zurückzudrängen! Es ist die Sozialistische Partei, die jahrelang – und zu Recht – schreckliche Angst vor der Einheitsfront hatte, die nun diese Losung aufgreift und es schafft, sie als Keil3 zur Zersetzung der stalinistischen Partei zu benutzen! Im Namen der Einheitsfront bricht die Doriot-Gruppe mit der Partei, und es ist Doriots Erfahrung, die die linken Elemente der SFIO dazu bringt, mit ihrem Vorschlag, nach Moskau zu gehen, zu zögern: in ihren Augen kann diese Reise im Grunde genommen nicht viel nützen!
So kommt die stalinistische Partei, indem sie den trotz ihrer Unnachgiebigkeit eher eingebildeten Kampf gegen die „Sozialfaschisten“ über die historische Realität des Klassenkampfes stellt, zu einem Ergebnis, das dem Ziel, das sie sich gesetzt hatte, absolut entgegengesetzt ist.
Sektiererische Politik?
Diese Politik der sogenannten kommunistischen Partei wird selbst von unseren Freunden oft als sektiererisch bezeichnet. Das Wort ist falsch4. Sektierertum setzt eine enge und homogene Gruppe voraus, die innerlich durch eine tiefe und unerschütterliche Überzeugung verbunden ist, ungeachtet der Widersprüche zwischen dieser Überzeugung und der historischen Entwicklung.
Die stalinistische Bürokratie in Frankreich hat keine Überzeugung. Sie ist nicht geneigt, ihre Ideen zu verteidigen, und sie ist auch nicht in der Lage, dies gegen egal wen5 zu tun. Im Gegenteil, sie ist jederzeit bereit, sich dem aus Moskau empfangenen Befehl zu beugen, wo die Politik von den Anliegen der mächtigen nationalen Bürokratie diktiert wird. Das ist kein Sektierertum, das ist reiner und ungetrübter6 Bürokratismus.
Notwendigkeit einer Partei
Saint-Denis beugt sich nicht vor der kriminellen Bürokratie. Wir können eine solche Haltung nicht missbilligen. Aber welche Bedeutung wird diese neue Spaltung in den Augen der Massen haben, die von Saint-Denis beeinflusst werden? Man kann nicht mit den Stalinisten marschieren, ihre Partei ist unfähig, die Arbeiterklasse zu leiten. Wenn man es dabei belässt, unterstützt man zumindest indirekt die Autorität der Sozialistischen Partei. Wenn man aber erklärt, dass diese bankrott ist, wird der Arbeiter daraus schließen, dass man ohne eine Partei auskommt, was darauf hinauslaufen würde, die sterilsten syndikalistischen Vorurteile wiederzubeleben.
Die Welt der Politik verabscheut wie die Natur ein Vakuum. Sie braucht Kontinuität im politischen Denken und Handeln. Wenn man den Kampf gegen die Stalinisten bis zum Bruch führt, ohne seinen Willen, die Reformisten und Zentristen zu bekämpfen, zu schwächen, kommt man um diese Schlussfolgerung nicht herum: Die Gründung einer neuen revolutionären Partei wird dringend auf die Tagesordnung gesetzt.
„Alles, aber nicht das!“, riefen einige verzweifelte Geister. „Wir Realisten sind7 nicht die Macher von Parteien und Internationalen. Nur der Gang der Ereignisse, der Vorstoß der Massen, ihre eigenen Erfahrungen können zu einer neuen Partei führen!“
Welche Weisheit! Welche Tiefe! Aber was bedeutet dieser „Gang der Ereignisse“? Sind wir davon ausgeschlossen? Wie wird die Erfahrung der Massen gemacht8? Haben wir nichts damit zu tun? Sind wir unfähig, uns in den Lauf der Ereignisse einzufügen und die Erfahrung der Massen zu befruchten?
Der weise Taktiker wendet ein: „Die Masse will keine neue Partei: Sie will Einheit, und darauf muss man aufbauen.“ Es ist die Idee der Einheitsfront, der Arbeiterallianz, der Embryo der Sowjets, die diesem Wunsch nach Einheit der Massen entspricht. Aber wenn man es dabei belässt, führt das nur zu noch mehr Verwirrung. Es genügt nicht, die Einheit zu wollen, man muss sie auch zu verwirklichen wissen. Nur die Partei kann den Massen den rechten Weg weisen. Gerade weil die Masse9 als Ganzes nur vage, summarische und verwirrende Vorstellungen hat, ist die Auswahl der Avantgarde notwendig. Für einen Marxisten drückt die politische Formel nicht die Mentalität der Massen heute aus, sondern die Dynamik dieser Mentalität, wie sie durch den Klassenkampf bestimmt wird und bestimmt werden muss.
Gerade aus der Erfahrung der Massen heraus sind wir zu der unerschütterlichen Schlussfolgerung gelangt, dass die beiden Internationalen sehr wohl Bankrott gemacht haben. Sind wir Auguren10, die ihre Überzeugung für den okkulten Gebrauch aufbewahren? Nein, wir sind Revolutionäre, die verpflichtet sind, den Massen ihre eigenen Erfahrungen zu erklären. Dies ist der Beginn des marxistischen Realismus.
Der „Gang der Ereignisse“ kann die Entwicklung der neuen Partei erleichtern oder verzögern. Aber die günstigste Situation wird ungenutzt vergehen, wenn die Elemente der Avantgarde nicht ihre Pflicht gegenüber den Massen erfüllen, selbst in der ungünstigsten Situation.
Der Hinweis auf den Verlauf der Ereignisse ist eine völlig hohle Abstraktion. Man könnte mit der gleichen scheinbaren Weisheit sagen, dass es nicht „der Moment“ ist, mit Thorez zu brechen. Der Gang der Ereignisse müsse einen solchen Bruch erzwingen. Man könnte noch weiter gehen und sagen, dass es für die marxistische Doktrin, für das kommunistische Programm nicht „der richtige Moment“ ist. Nur die Erfahrung der Massen kann sie zu ihrer Befreiung führen.
Aber den Marxismus oder das kommunistische Programm gegen die Erfahrung der Massen auszuspielen, bedeutet, die gesamte historische Erfahrung der Arbeiterklasse im Namen der „Erfahrung“ dieser oder jener bürokratischen Gruppe mit Füßen zu treten.
Die marxistische Lehre und das kommunistische Programm können weder wie der Heilige Geist über dem Chaos schweben, noch sich in den Gehirnen einiger Auguren einnisten. Sie müssen ihren Körper haben, d.h. die Organisation der Arbeiteravantgarde. Ihre Entwicklung mag von vielen Faktoren und historischen Umständen abhängen, die wir bei weitem nicht beherrschen. Aber wenn wir den Bankrott der beiden Internationalen verkünden, appellieren wir damit an die bewusstesten, entschlossensten und hingebungsvollsten Arbeiter, sich um die neue Partei und die neue Internationale zu scharen.
1In der englischen Übersetzung: „mit der“
2In der englischen Übersetzung fehlt „allein“ zu Recht.
3In der englischen Übersetzung: „Schrei“
4In der englischen Übersetzung eingefügt: „verwendet“
5In der englischen Übersetzung eingefügt: „oder was“
6In der französischen Fassung: „gesetzloser“
7In der englischen Übersetzung: „Das ist nicht die richtige Zeit. Wir sind Realisten und“
8In der englischen Übersetzung: „kommt die Erfahrung der Massen zustande“
9In der englischen Übersetzung: „Klasse“
10In der englischen Übersetzung hier und etwas später: „Propheten“
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