[eigene Übersetzung des russischen Textes, Korrekturen von russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen]
An die Belgische Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga (Bolschewiki-Leninisten)
Werte Genossen!
Es ist nicht notwendig, Ihnen zu sagen, dass ich in den letzten Tagen mit größter Aufmerksamkeit die Zeitungen, Zeitschriften, Protokolle, Briefe usw. studiert habe, die Sie mir geschickt haben. Dank der ausgezeichneten Auswahl des Materials hatte ich die Möglichkeit, mich in vergleichsweise kurzer Zeit sowohl mit der Frage in Gänze als auch mit dem Wesen der Differenzen vertraut zu machen, die in Ihrer Organisation aufgetreten sind. Der streng prinzipielle und von jeglicher persönlicher Bitterkeit freie Charakter Ihrer Diskussion vermittelt einen sehr positiven Eindruck vom allgemeinen Geist Ihrer Organisation, von ihrem moralisch-politischen Niveau. Es bleibt mir nur noch den heißen Wunsch zum Ausdruck zu bringen, dass dieser Geist nicht nur in der belgischen Sektion bewahrt wird und festen Fuß fasst, sondern in allen unseren Sektionen ohne Ausnahme vorherrscht.
Die Erwägungen, welche ich zum Inhalt der strittigen Frage noch aussprechen will, können weder Vollständigkeit noch Endgültigkeit beanspruchen. Ich bin vom Schauplatz des Geschehens entfernt. Ein so wichtiger Faktor wie die Stimmung der Massen kann nicht allein aus Zeitungen und Dokumenten entnommen werden: man muss den Puls der Arbeiterversammlungen fühlen, der mir leider unzugänglich ist. In dem Maße, in dem es sich um allgemeine prinzipielle Ratschläge handelt, kann die Lage eines Beobachters von der Seite auch manche Vorteile haben, denn sie gibt einem die Möglichkeit, von den Details abzusehen und sich auf die Hauptsache zu konzentrieren.
Ich komme nun zum Kern der Sache.
Zuallererst – und das halte ich für den zentralen Punkt – sehe ich keinen Grund, der uns zwingen würde, die Losung abzulehnen: „Die belgische Arbeiterpartei soll die Macht übernehmen!“ Als wir diese Losung zum ersten Mal aufstellten, gaben wir uns natürlich alle klar Rechenschaft über den Charakter der belgischen Sozialdemokratie, die nicht kämpfen will und nicht kämpfen kann, die seit Jahrzehnten gewohnt ist, die Rolle einer bürgerlichen Bremse auf der proletarischen Lokomotive zu spielen, die die Macht außerhalb der Koalition fürchtet, weil ein bürgerlicher Alliierter für sie erforderlich ist, um die Forderungen der Arbeiter zurückweisen zu können. All dies wussten wir. Aber wir wussten auch, dass nicht nur das kapitalistische Regime als Ganzes, sondern auch seine parlamentarische Staatsmaschinerie in ein Stadium scharfer Krise eingetreten war, das sowohl die Möglichkeit eines (vergleichsweise) raschen Stimmungswandels der Massen als auch eines raschen Wechsels von Parlaments- und Regierungskombinationen in sich trägt. Wenn man in Betracht zieht, dass die belgische Sozialdemokratie zusammen mit den reformistischen Gewerkschaften im Proletariat unbedingt vorherrscht, bei völliger Bedeutungslosigkeit der belgischen Sektion der Komintern und bei äußerster Schwäche des revolutionären Flügels, dann ist es vollkommen klar, dass die gesamte politische Lage dem Proletariat den Gedanken an eine sozialdemokratische Regierung nahelegen muss.
Wir waren im Voraus der Meinung, dass die Schaffung dieser Regierung ein unzweifelhafter Schritt vorwärts wäre. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass die Regierung von Vandervelde, de Man und Co. fähig wäre, eine progressive Rolle bei der Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus zu spielen, aber in jenem Sinne, dass die Erfahrung einer sozialdemokratischen Regierung unter den gegebenen Bedingungen eine sehr progressive Bedeutung für die Entwicklung des revolutionären Bewusstseins des Proletariats haben würde. Die Losung einer sozialdemokratischen Regierung ist also nicht auf irgendeine außergewöhnliche Konjunktur, sondern auf eine mehr oder weniger nachhaltige politische Periode berechnet. Wir könnten diese Losung nur in dem Falle ablehnen, wenn die Sozialdemokratie – bevor sie an die Macht kommt – schnell zu erlahmen beginnt und ihren Einfluss an die revolutionäre Partei abgibt; aber leider ist eine solche Perspektive heute rein theoretisch. Weder die allgemeine politische Lage noch das Kräfteverhältnis innerhalb des Proletariats rechtfertigen irgendwie die Aufgabe der Losung – die Macht der Sozialdemokratie!
In jedem Fall kann uns nicht der Plan de Man, der hochtrabend „Plan der Arbeit“ genannt wird (richtiger wäre die Bezeichnung: der Plan zum Betrug an den Produzierenden) antreiben, die zentrale politische Losung der Periode aufzugeben. Der „Plan der Arbeit“ soll ein neues (oder erneuertes) Werkzeug des bürgerlich-demokratischen (oder zumindest halb-demokratischen) Konservatismus sein. Aber der ganze Kern ist, dass die außerordentliche Schärfe der Lage, das äußerste Herannahen von Gefahren, die die Existenz der Sozialdemokratie selbst bedrohen, sie gegen ihren Willen zwingen, zu einer zweischneidigen Waffe zu greifen, die aus dem Blickwinkel des demokratischen Konservatismus sehr gewagt ist.
Der Kapitalismus hat das dynamische Gleichgewicht für immer eingebüßt. Das Gleichgewicht des parlamentarischen Systems bekommt Risse und bricht zusammen. Und schließlich – ein Glied in derselben Kette – gerät das konservative Gleichgewicht des Reformismus ins Wanken, der gezwungen ist, dem bürgerlichen Regime öffentlich abzuschwören, um es zu retten. Diese Lage birgt große revolutionäre Möglichkeiten (neben Gefahren). Wir dürfen die Losung der Macht für die Sozialdemokratie nicht aufgeben, sondern müssen ihr im Gegenteil einen möglichst kämpferischen und scharfen Charakter geben.
Es ist nicht nötig, in unserer Mitte zu sagen, dass in der Agitation für diese Losung nicht ein Schatten von Falschheit, Verstellung, Abmilderung von Widersprüchen, Diplomatiesieren, falschem oder bedingtem Vertrauen sein darf. Überlassen wir es den linken Sozialdemokraten, Öl und Honig (im Geiste Spaaks) fließen zu lassen. Wir werden nach wie vor Essig und Pfeffer verwenden.
In dem mir zugesandten Material begegnet man der Meinung, dass die Arbeitermassen dem „Plan der Arbeit“ gegenüber völlig gleichgültig seien, dass sie sich im Allgemeinen in einem Stadium der Unterdrückung befinden und dass unter diesen Bedingungen die Losung „Macht den Sozialdemokraten“ nur fähig sei, Illusionen zu erzeugen und später Enttäuschung hervorzurufen. Ich habe nicht die Möglichkeit, mir von hier aus persönlich ein klares Bild von der Stimmung des belgischen Proletariats in seinen verschiedenen Schichten und Gruppen machen können, aber ich räume die Möglichkeit einer bestimmten Nervenermüdung und Passivität der Arbeiter ein. Aber erstens ist diese Stimmung selbst nicht endgültig: sie muss eher einen abwartenden als einen hoffnungslosen Charakter haben. Natürlich glaubt niemand in unserer Mitte, dass das belgische Proletariat schon auf Jahren unfähig zum Kampf ist. Die Stimmungen der Bitterkeit, des Hasses, der Verbitterung haben sich in seiner Mitte in großer Zahl angesammelt, und sie suchen nach einem Ausweg. Um sich vor dem Tod zu retten, braucht die Sozialdemokratie selbst eine Bewegung der Arbeiter. Sie muss die Bourgeoisie erschrecken, um sie nachgiebiger zu machen. Sie hat natürlich Todesangst, dass ihr die Bewegung über den Kopf wächst. Aber angesichts der völligen Bedeutungslosigkeit der Komintern und der Schwäche der revolutionären Gruppen erwartet die Sozialdemokratie unter dem frischen Einfluss der deutschen Erfahrungen eine unmittelbare Gefahr von rechts, nicht von links. Ohne diese Voraussetzungen hätte die Losung „Die Macht der Sozialdemokratie“ allgemein keine Bedeutung.
Dass der de-Man-Plan und die damit verbundene Agitation der Sozialdemokratie Illusionen sät und Enttäuschungen hervorruft, daran kann für uns alle kein Zweifel bestehen. Aber die Sozialdemokratie, ihr Einfluss im Proletariat und ihr Plan, ihr Weihnachtsparteitag, ihre Agitation sind objektive Fakten: Wir können sie weder beseitigen noch überspringen. Unsere Aufgabe ist eine doppelte: erstens, den fortgeschrittenen Arbeitern die politische Bedeutung des „Plans“ zu erklären, d.h. die Manöver der Sozialdemokratie in allen Etappen zu dechiffrieren; zweitens, den breitesten Kreisen der Arbeiter in der Praxis zu zeigen, dass wir, da die Bourgeoisie versucht, die Durchführung des Plans zu behindern, Hand in Hand mit ihnen kämpfen, um ihnen zu helfen, die Erfahrung zu machen. Wir teilen alle Schwierigkeiten des Kampfes, aber nicht seine Illusionen. Unsere Kritik an den Illusionen darf jedoch weder die Passivität der Arbeiter verfestigen, noch ihr eine scheinbare theoretische Rechtfertigung geben, sondern muss umgekehrt die Arbeiter vorwärts drängen. Unter diesen Bedingungen wird die unvermeidliche Desillusionierung über den „Plan der Arbeit“ nicht eine Vertiefung der Passivität bedeuten, sondern umgekehrt einen Übergang der Arbeiter auf den revolutionären Weg.
Dem „Plan“ selbst möchte ich in den nächsten Tagen einen besonderen Artikel widmen. Hier beschränke ich mich wegen des überaus dringlichen Charakters dieses Briefes notgedrungen auf wenige Worte. Zuallererst halte ich es für falsch, diesen Plan in die Nähe der Wirtschaftspolitik des Faschismus zu rücken. Die Nationalisierung des Kredits und gewisser Zweige der Schwer- und Energieindustrie schließt in sich nichts Faschistisches ein. In dem Maße, in dem der Faschismus (bis zur Eroberung der Macht!) Losungen der Nationalisierung zum Zwecke des Kampfs gegen den „Superkapitalismus“ ausgibt, raubt er einfach die Phraseologie des sozialistischen Programms. In de Mans Plan haben wir – bei dem bürgerlichen Charakter der Sozialdemokratie – ein Programm des Staatskapitalismus, das die Sozialdemokratie selbst aber als den Beginn des Sozialismus ausgibt und das tatsächlich in den Beginn des Sozialismus verwandelt werden kann – gegen die Sozialdemokratie.
Innerhalb des Wirtschaftsprogramms selbst („Plan der Arbeit“) müssen wir nach meiner Meinung drei Punkte an die erste Stelle stellen:
a) Über die Ablösesumme. In der abstrakten Betrachtung schließt die sozialistische Revolution nicht jede Art der Ablösesumme des kapitalistischen Eigentums aus. Marx hat sich einmal in dem Sinne ausgedrückt, dass es gut wäre, „die ganze Bande“ (die Kapitalisten) auszukaufen. Vor dem Weltkrieg war dies noch mehr oder weniger möglich. Aber wenn wir die derzeitige Desorganisation des Wirtschaftssystems, national und weltweit, und die Verarmung der Volksmassen in Betracht ziehen, dann scheint eine Ablösesumme eine verderbliche Operation zu sein, die dem neuen Regime zunächst die Kräfte völlig übersteigende Lasten aufbürden dürfte. Das können und müssen wir – mit Zahlen in der Hand – jedem Arbeiter verständlich machen.
b) Neben der Expropriation ohne Ablösesumme müssen wir die Losung der Arbeiterkontrolle aufstellen. Ungeachtet de Mans (siehe Le Mouvement Syndical Belge, 1933, Nr. 11, S. 297), schließen Nationalisierung und Arbeiterkontrolle einander ganz und gar nicht aus. Selbst wenn die Regierung erzlinks und voller bester Absichten wäre, werden wir für die Arbeiterkontrolle über die Produktion und die Zirkulation stehen: wir wollen keine bürokratische Verwaltung der nationalisierten Industrie, wir fordern eine direkte Beteiligung der Arbeiter selbst an der Kontrolle und Verwaltung durch Betriebskomitees, Gewerkschaftsverbände und so weiter. Nur so werden wir im Rahmen des Staatskapitalismus die stützende Basis für die proletarische Diktatur in der Wirtschaft schaffen.
c) Der Plan sagt nichts über den Grundbesitz als solchen. Hier ist eine Losung erforderlich, die sich an die Landarbeiter und die ärmsten Bauern richtet. Über diese verwickelte Frage werde ich jedoch versuchen, mich besonders zu äußern.
Jetzt muss man zur politischen Seite des Plans übergehen. Hier stellen sich natürlich zwei Fragen: a) die Methoden des Kampfes für die Durchführung des Plans (insbesondere die Frage der Legalität und Illegalität) und b) die Beziehung zum Kleinbürgertum in Stadt und Dorf.
In seiner Programmrede, die in dem Gewerkschaftsorgan abgedruckt ist, lehnt de Man den revolutionären Kampf (Generalstreik und Aufstand) kategorisch ab. Ja, und kann man von diesen Leuten etwas anderes erwarten? Ungeachtet der einzelnen Vorbehalte und Änderungen, die hauptsächlich zum Trost für die Einfaltspinsel der Linken sind, bleibt die offizielle Position der Partei die des parlamentarischen Kretinismus. Entlang dieser Linie müssen die Hauptschläge unserer Kritik gerichtet werden – nicht nur an der Partei als Ganzes, sondern auch an ihrem linken Flügel (siehe unten).
Diese Seite der Frage – über die Methoden des Kampfes für die Nationalisierung – wird von beiden Seiten in Ihrer Diskussion gleichermaßen scharf und richtig hervorgehoben, so dass ich mich nicht weiter damit aufzuhalten brauche.
Ich werde nur einen „kleinen“ Punkt anmerken. Können diese Leute im Ernst an einen revolutionären Kampf denken, wenn sie in der Seele … Monarchisten sind? Es ist ein großer Fehler zu glauben, dass die königliche Macht in Belgien eine Fiktion sei. Erstens kostet diese „Fiktion“ Geld und hätte schon aus wirtschaftlichen Gründen abgeschafft werden müssen. Aber das ist nicht die Hauptseite der Sache. In Epochen sozialer Krisen nehmen die Geister oft Fleisch und Blut an. Die Rolle, die in Deutschland vor unseren Augen Hindenburg, der Steigbügelhalter Hitlers, gespielt hat, kann in Belgien vom König übernommen werden, nach dem Vorbild und Muster seines italienischen Kollegen. Eine Reihe von Gesten des belgischen Königs in der letzten Zeit zeigen deutlich diesen Weg. Wer den Faschismus bekämpfen will, muss mit dem Kampf für die Liquidierung der Monarchie beginnen. Man darf nicht zulassen, dass die Sozialdemokratie sich in dieser Frage hinter verschiedenen Kniffen und Ausflüchten versteckt.
Die revolutionäre Stellung von Fragen der Strategie und Taktik bedeutet aber ganz und gar nicht, dass unsere Kritik nicht der Sozialdemokratie in ihre parlamentarisches Schlupfwinkel folgen darf. Neuwahlen stehen erst 1936 an: Bis dahin kann die kapitalistische Reaktion im Bündnis mit dem Hunger der Arbeiterklasse dreimal das Genick brechen. Diese Frage muss den sozialdemokratischen Arbeitern mit ganzer Schärfe gestellt werden. Um Neuwahlen zu beschleunigen, gibt es nur einen Weg: durch eine schroffe Opposition, die in parlamentarische Obstruktion übergeht, das Funktionieren des derzeitigen Parlaments unmöglich zu machen. Vandervelde, de Man und Co müssen nicht nur dafür gegeißelt werden, dass sie keinen revolutionären außerparlamentarischen Kampf entwickeln, sondern auch dafür, dass ihre parlamentarische Tätigkeit in keiner Weise der Vorbereitung, dem Ansatz und der Umsetzung ihres eigenen „Plans der Arbeit“ dient. Der Widerspruch und Betrug in diesem Bereich wird dem durchschnittlichen sozialdemokratischen Arbeiter, der die Methoden der proletarischen Revolution noch nicht verstanden hat, sehr deutlich sein.
Die Frage der Beziehung zu den Übergangsklassen hat nicht weniger Bedeutung. Es wäre komisch, den Reformisten vorzuwerfen, sie wollten das Kleinbürgertum erobern und damit „auf den Weg des Faschismus“ kommen. Auch wir wollen das Kleinbürgertum erobern. Das ist eine der wichtigen Bedingungen für den vollständigen Erfolg der proletarischen Revolution. Aber… il y a fagots et fagots [zwischen Holz und Holz ist ein Unterschied], wie Molière sagt. Der Straßenverkäufer oder arme Bauer ist ein Kleinbürger. Aber der Professor, der mittlere Tschinownik mit einem Orden, der mittlere Ingenieur ist gleichfalls Kleinbürger. Man muss zwischen ihnen wählen. Der kapitalistische Parlamentarismus (und einen anderen Parlamentarismus gibt es nicht) hat dazu geführt, dass die Herren Advokaten, Bürokraten, Journalisten als patentierte Vertreter der hungernden Handwerker, Straßenverkäufer, kleinen Beamten und halb proletarischen Bauern auftreten. Und das Finanzkapital führt die Parlamentarier aus den Reihen der kleinbürgerlichen Anwälte, Beamten und Journalisten an der Nase herum oder besticht sie einfach.
Wenn Vandervelde, de Man und Co davon sprechen, das Kleinbürgertum auf die Seite des Plans zu bringen, meinen sie nicht seine Massen, sondern seine patentierten „Vertreter“, d.h. die demoralisierten Agenten des Finanzkapitals. Wenn wir von der Eroberung des Kleinbürgertums sprechen, meinen wir die Befreiung der ausgebeuteten Unterschichten des Volkes von ihren patentierten politischen Verrätern. Wegen der verzweifelten Lage der kleinbürgerlichen Massen der Bevölkerung brechen die alten kleinbürgerlichen Parteien (demokratisch, katholisch usw.) aus allen Nähten. Der Faschismus hat dies erkannt. Er suchte und sucht nicht die Koalition mit den bankrotten „Führern“ des Kleinbürgertums, sondern reißt die Massen aus ihrem Einflussbereich heraus, d.h. er macht auf seine Art und Weise im Interesse der Reaktion jene Arbeit, die in Russland die Bolschewiki im Interesse der Revolution bewerkstelligten. Genau so stellt sich die Frage jetzt in Belgien. Die kleinbürgerlichen Parteien oder die kleinbürgerlichen Flanken der großkapitalistischen Parteien sind dazu verdammt, zusammen mit dem Parlamentarismus zu verschwinden, der das notwendige Gerüst für sie schafft. Die ganze Frage ist, wer die unterdrückten und betrogenen kleinbürgerlichen Massen führen wird: das Proletariat unter revolutionärer Führung oder die faschistischen Agenten des Finanzkapitals.
So wie de Man keinen revolutionären Kampf des Proletariats will und Angst vor einer mutigen Oppositionspolitik im Parlament hat, die einen revolutionären Kampf bewirken könnte, so will er auch einen wirklichen Kampf der kleinbürgerlichen Massen nicht und fürchtet ihn. Er versteht, dass in dieser Schicht ein riesiger Vorrat an Protest, Verbitterung und Hass schlummert, der sich in revolutionäre Leidenschaft, in fürchterliche „Exzesse“, d.h. in eine Revolution verwandeln könnte. Stattdessen sucht de Man parlamentarische Alliierte, schäbige Demokraten, Katholiken, Kumpane der Rechten, die ihm als Bollwerk gegen die möglichen revolutionären „Exzesse“ des Proletariats notwendig sind. Wir müssen diese Seite der Frage den reformistischen Arbeitern durch die tägliche Erfahrung der Fakten erläutern können. Für ein enges revolutionäres Bündnis des Proletariats mit den unterdrückten kleinbürgerlichen Massen in der Stadt und im Dorf, aber gegen eine Regierungskoalition mit den politischen „Vertretern“ und Verrätern der Kleinbourgeoisie!
Manche Genossen haben sich in dem Sinne geäußert, dass schon das Auftreten der Sozialdemokratie mit dem „Plan der Arbeit“ die Übergangsklassen aufrütteln und bei Passivität des Proletariats das Werk des Faschismus erleichtern muss. Falls das Proletariat nicht kämpfen würde, würde der Faschismus natürlich siegen. Diese Gefahr entspringt jedoch nicht aus dem Plan, sondern aus dem großen Einfluss der Sozialdemokratie und der Schwäche der revolutionären Partei. Die lange Beteiligung der deutschen Sozialdemokratie an der bürgerlichen Regierung hat den Weg für Hitler geebnet. Die rein passive Enthaltsamkeit der Blum von der Regierungsbeteiligung würde ebenfalls die Voraussetzungen für das Anwachsen des Faschismus schaffen. Schließlich wird die Ausrufung einer Offensive gegen das Finanzkapital ohne einen entsprechenden revolutionären Massenkampf unweigerlich das Wirken des belgischen Faschismus beschleunigen. Es geht also nicht um den Plan, sondern um die verräterische Funktion der Sozialdemokratie und die tödliche Rolle der Komintern. Aber in dem Maße, in dem die allgemeine Lage und insbesondere das Schicksal der deutschen Sozialdemokratie ihrer kleinen belgischen Schwester eine Politik der „Nationalisierung“ aufzwang, eröffnen sich neben den alten Gefahren neue revolutionäre Möglichkeiten. Es wäre der größte Fehler, sie nicht zu sehen. Man muss den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen können.
Die neuen Möglichkeiten kann man nur ausnutzen unter der Bedingung, dass man den Arbeitern unermüdlich die faschistische Gefahr vor Augen führen. Um irgendeinen Plan durchführen zu können, ist es notwendig, die Arbeiterorganisationen zu erhalten und zu stärken. Es ist daher notwendig, sie zuallererst vor faschistischen Banden zu schützen. Die schlimmste Torheit ist es, zu hoffen, dass ein demokratischer Staat, selbst wenn er von der Sozialdemokratie geführt wird, die Arbeiter vor dem Faschismus bewahrt, indem er ihnen per Dekret verbietet, sich zu organisieren, sich zu bewaffnen usw. Kein polizeiliches Verbot wird der Sache helfen, falls die Arbeiter nicht selbst lernen, mit dem Faschismus fertig zu werden. Die Organisation der proletarischen Verteidigung, die Schaffung von Arbeitermilizeinheiten ist eine dringende und allererste Aufgabe. Wer diese Losung nicht unterstützt und sie nicht in die Praxis umsetzt, verdient den Namen proletarischer Revolutionär nicht.
* * *
Nun bleibt noch etwas zu unserer Haltung in Beziehung auf die linken Sozialdemokraten zu sagen. Hier will ich am wenigsten etwas Abschließendes sagen, da ich nicht die Möglichkeit hatte, die Evolution dieser Gruppierung bis jetzt zu beobachten. Aber das, was ich in den letzten Tagen las (eine Artikelserie Spaaks, seine Rede auf dem Parteitag usw.), erzeugte bei mir einen ungünstigen Eindruck.
Wenn Spaak die Wechselbeziehung zwischen legalem und illegalem Kampf charakterisieren muss, zitiert er als Autorität … Otto Bauer, d.h. den Theoretiker der legalen und illegalen Impotenz. „Sag mir, wer deine Lehrer sind, und ich sage dir, wer du bist.“ Aber verlassen wir den Bereich der Theorie und wenden wir uns den aktuellen politischen Fragen zu.
Spaak akzeptierte als Grundlage der Kampagne den Plan de Mans und stimmte ohne Vorbehalte für ihn. Man könnte sagen: Spaak wollte Vandervelde und Co nicht die Möglichkeit geben, die Dinge jetzt zur Spaltung zu bringen, d.h. den schwachen, noch nicht organisierten linken Flügel aus der Partei zu werfen; Spaak wich zurück, um besser abzuspringen. Spaak mag eine solche Absicht gehabt haben, aber ein Politiker wird nicht nach seinen Absichten, sondern nach seinen Handlungen beurteilt. Spaaks behutsames Verhalten auf dem Parteitag, sein Versprechen, mit aller Entschlossenheit für die Umsetzung des Plans zu kämpfen, seine Erklärung zur Einhaltung der Disziplin wären an sich durchaus verständlich gewesen, wenn man den Platz der linken Opposition in der Partei in Betracht zieht. Aber Spaak machte etwas anderes: Er brachte moralisches Vertrauen zu Vandervelde zum Ausdruck und solidarisierte sich politisch mit de Man, nicht nur in Beziehung auf die abstrakten Ziele des Plans, sondern auch auf die konkreten Kampfmethoden.
Besonders unzulässig waren Spaaks Worte, dass wir von den Führern der Partei nicht verlangen könnten, dass sie uns offen über ihren Aktionsplan, ihre Kräfte usw. informieren. Warum können wir das nicht? Wegen Konspiration? Aber wenn es auch bei Vandervelde und de Man Konspiration gibt, dann nicht mit revolutionären Arbeitern gegen die Bourgeoisie, sondern mit bürgerlichen Politikern gegen die Arbeiter. Ja, niemand verlangt die Offenlegung konspirativer Geheimnisse auf dem Parteitag! Man muss einen allgemeinen Plan zur Mobilisierung der Massen und eine Perspektive des Kampfes geben. Mit seiner Erklärung half Spaak Vandervelde und de Man, Antworten auf die wichtigsten Fragen der Strategie auszuweichen. Hier kann man zu Recht von einer Konspiration des Führers der Opposition mit den Führern der Mehrheit gegen die revolutionären Arbeiter sprechen. Die Tatsache, dass Spaak auch die Sozialistische Jugendgarde auf den Weg der zentristischen Leichtgläubigkeit geführt hat, verschlimmert seine Schuld noch mehr.
Die Brüsseler Föderation brachte auf dem Parteitag eine „linke“ Resolution aus Anlass des konstitutionellen und revolutionären Kampfes ein. Die Resolution ist sehr schwach, hat juristischen aber nicht politischen Charakter, ist geschrieben von einem Advokaten, aber nicht von einem Revolutionär (falls die Bourgeoisie die Verfassung verletzt, tun wir das auch …). Anstatt die Frage der Vorbereitung auf den revolutionären Kampf ernsthaft zu stellen, stellt die „linke“ Resolution eine literarische Drohung gegen die Bourgeoisie dar. Aber was geschah auf dem Parteitag? Nach den leeren Erklärungen de Mans, der, wie wir wissen, den revolutionären Kampf für einen schädlichen Mythos hält, zog die Brüsseler Föderation unterwürfig ihre Resolution zurück. Leute, die sich so leicht mit leeren und falschen Phrasen zufrieden geben, können nicht als ernsthafte Revolutionäre geehrt werden. Die Bestrafung ließ nicht lange auf sich warten. Schon am nächsten Tag kommentierte der „Peuple“ die Resolution des Parteitages in dem Sinne, dass sich die Partei strikt an den konstitutionellen Rahmen halten würde, d.h. sie würde innerhalb der Grenzen „kämpfen“, die ihr das Finanzkapital, unterstützt vom König, den Richtern und der Polizei, vorschreibt. Das Organ der Linken, die „Action Socialiste“, brach deshalb buchstäblich in Tränen aus: gestern, erst gestern, waren sich „alle“ über die Brüsseler Resolution einig, warum heute? … Komisches Wehklagen! „Gestern“ wurde die Linke dazu verleitet, die Resolution zurückzuziehen. Und „heute“ haben die bürokratischen Stümper der unglücklichen Opposition einen Nasenstüber verpasst. Zurecht! So werden diese Dinge immer gemacht. Aber das ist nur die Blüte – die Beeren werden noch kommen.
Es ist nicht nur einmal vorgekommen, dass die sozialdemokratische Opposition eine außerordentlich linke Kritik entwickelt hat, solange sie zu nichts ernsthaft verpflichtet war. Aber als die entscheidenden Stunden hereinbrachen (eine Massenstreikbewegung, eine Kriegsdrohung, die Gefahr eines Staatsumsturzes usw.), senkte die Opposition sofort das Banner, eröffnete den angeschlagenen Parteiführern einen neuen Vertrauenskredit und bewies, dass sie selbst Fleisch vom Fleisch des Reformismus war. Jetzt wird die sozialistische Opposition in Belgien zum ersten Mal ernsthaft einem Test unterzogen. Wir müssen sagen, dass sie auf Anhieb schlecht abgeschnitten hat. Wir müssen ihre ferneren Schritte aufmerksam und ohne Voreingenommenheit verfolgen, ohne unsere Kritik aufzubauschen, ohne in unsinniges Gerede vom „Sozialfaschismus“ zu verfallen, aber auch ohne uns über die tatsächliche theoretische und Kampf-Härtung dieser Gruppierung Illusionen zu machen. Um den besten Elementen der Linken Opposition zu helfen, voranzukommen, ist es notwendig, offen zu sagen, was ist.
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Ich eile mich sehr mit diesem Brief, damit er noch bis zur Beratung am 14. Januar in Ihre Hände gelangt: daher die Unvollständigkeit und vielleicht unzureichende Systematik der Darstellung. Zum Abschluss möchte ich meine heiße Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass Ihre Diskussion mit einer einträchtigen Entscheidung beendet wird, die eine vollständige Einheit des Handelns sichert. Die ganze Lage lässt ein ernsthaftes Wachstum Ihrer Organisation in der nächsten Periode erwarten. Wenn die Führer der sozialdemokratischen Opposition abschließend kapitulieren, wird die Führung des revolutionären Flügels des Proletariats völlig bei Ihnen liegen. Wenn, umgekehrt, der linke Flügel der reformistischen Partei vorwärts schreitet, auf die Seite des Marxismus, werden Sie in ihm einen Kampfalliierten und eine Brücke zu den Massen finden. Unter der Bedingung einer klaren und einmütigen Politik ist Ihr Erfolg vollständig abgesichert. Lang lebe die belgische Sektion der Bolschewiki-Leninisten!
G. Gurow
9. Januar 1934.
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