[1. November 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes, verglichen mit der englischen Übersetzung, „Man muss in die JGS eintreten“ bzw. „Österreich, Spanien, Belgien und die Wendung“]
An das IS und die Leitung der belgischen Sektion1
Werte Genossen!
Ich habe soeben die Protokolle der Konferenz des Wiener Schutzbundes mit Otto Bauer und Julius Deutsch im Juni 1934 zur Kenntnis genommen.2 Dieses Dokument ist sehr lehrreich. Es vermittelt nicht nur ein authentisches Bild davon, was der Austromarxismus war, sondern weist auch auf die unerwarteten und unverhofften Gewinne der österreichischen Stalinisten hin. Indem sie sich von der Sozialdemokratie abwandten, suchten die kämpferischsten Arbeiter Unterstützung in der KI. Die Protokolle zeigen, dass die Ereignisse die Arbeiterelite ernsthaft gegen den Reformismus geimpft haben, sie aber gegen den Stalinismus so gut wie schutzlos zurückgelassen haben. Das bedeutet, dass die besten Elemente des Proletariats noch eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung durchmachen müssen, bevor sie ihren Weg finden. Diese relativ vollständigen und genauen Protokolle erwähnen keine der verschiedenen Gruppen der „Linken Opposition“. In Österreich hatte das Sektierertum, das am besten von Landau und Frey verkörpert wurde, seinen Höhepunkt erreicht. Ergebnis? Die gewaltigste Krise ging über die Köpfe dieser Gruppen3 hinweg, obwohl die Sympathien für unsere Ideen in Wien immer noch groß waren. Das ist gewiss eine schmerzhafte Lektion, aber eine von großem Wert. Man muss es jetzt offen sagen: Seit dem Beginn der Krise in der österreichischen Partei war es die höchste Pflicht unserer Freunde, in die austromarxistische Partei einzutreten, um dort eine revolutionäre Strömung vorzubereiten. Man kann nicht behaupten, dass die Ereignisse unter dieser Bedingung eine andere Wendung genommen hätten. Aber es ist absolut sicher, dass, egal wie die Ereignisse verlaufen wären, unsere Tendenz zehnmal, hundertmal stärker aus ihnen hervorgegangen wäre, als sie es jetzt ist. Man kann einwenden, dass vor anderthalb Jahren der Eintritt in eine sozialdemokratische Partei psychologisch unmöglich gewesen wäre, weil die Evolution der reformistischen und stalinistischen Parteien damals noch nicht weit genug fortgeschritten war, um uns unsere neue Orientierung aufzuzwingen. Und dieser Einwand wäre richtig. Aber es geht in diesem Brief nicht darum, eine Erklärung oder Rechtfertigung für die Unzulänglichkeit dieser oder jener Sektion zu diesem oder jenem Zeitpunkt zu suchen, sondern darum, die grundlegenden Tendenzen zu finden und zu erklären, die sich in der Arbeiterbewegung insbesondere seit der Niederlage in Deutschland abzeichnen und die uns eine viel kühnere Wendung zu den Massen aufzwingen. Ohne das werden die frischen Schichten des Proletariats fast mechanisch zu den Stalinisten getrieben, und eine ganze neue Periode wird für die Sache der Revolution verloren sein.
Die jüngsten und noch sehr kurzen Erfahrungen unserer französischen Sektion erlauben es bereits, uns eine positive Bestätigung der negativen Lehren aus der österreichischen Erfahrung zu geben. Es springt ins Auge, dass die französische Sektion einen großen Schritt nach vorn gemacht hat, der wirklich heilsame Folgen haben kann … unter der Bedingung jedoch, dass die Bolschewistisch-Leninistische Gruppe es versteht, ihre propagandistische Enge abzulegen und, ohne etwas von der Klarheit ihrer Ideen und Losungen zu verlieren, sich dem Milieu der Massen anzupassen, um unser Programm mit ihrer Erfahrung und ihrem Kampf zu verschmelzen. Man kann jetzt mit fast absoluter Sicherheit sagen, dass wir, wenn wir in der Lage gewesen wären, den Beitritt zur SFIO am Tag nach dem Abzug der Neos, auf jeden Fall vor der Verwirklichung der Einheitsfront, zu vollziehen, jetzt beachtliche Erfolge für uns beanspruchen könnten. Ich sage das nicht, um über die Vergangenheit zu schimpfen, sondern damit wir lernen – und das müssen wir alle, ohne Ausnahme – uns schneller und mutiger im nationalen Rahmen zu orientieren.
Ich habe noch keine Dokumente über die jüngsten Ereignisse in Spanien im Allgemeinen oder die Rolle, die unsere Sektion dabei gespielt hat, erhalten. Aber der allgemeine Verlauf der Ereignisse reicht aus, um die Schlussfolgerung zu ziehen, dass unsere spanischen Genossen der Sozialistischen Partei hätten beitreten sollen, sobald die interne Differenzierung begann, die sie auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten begann. Unsere Lage wäre heute im spanischen Proletariat4 viel günstiger.
Einer unserer belgischen Freunde, der eine Rolle in der Jugendbewegung spielt, schickte mir Dokumente, die die Beziehungen zwischen der JGS [Junge Sozialistische Garde], den Stalinisten und uns sowie ein wenig das Innenleben der JGS beschreiben. Die Schlussfolgerung, die ich aus diesen Dokumenten ziehe, ist, dass unsere jungen Genossen sofort der JGS beitreten sollten. Vielleicht werde ich mit dieser Behauptung bei einigen Dutzend belgischen Genossen auf heftige Einwände stoßen. Aber ich habe die feste Hoffnung, dass die französische Erfahrung für diejenigen unserer Freunde, die dazu neigen, eher die Gefahren als die Vorteile der neuen Orientierung zu betonen, überzeugend genug sein wird. Auf jeden Fall scheint mir die Frage dringend, ja sogar brennend zu sein, und ich stelle sie sowohl vor der internationalen als auch vor der nationalen Führung.
Die Einheitsfront der drei Jugendorganisationen in Belgien war natürlich eine wichtige prinzipielle Errungenschaft. Schon die Tatsache, dass die Frage des angeblichen „Trotzkismus“ vor den belgischen Jungsozialisten gestellt wurde, war an sich ein Schritt nach vorn. Aber ich glaube nicht, dass diese Dreiecks-Einheitsfront 5Bestand haben kann, und selbst wenn sie Bestand hätte, dass sie uns weitere bedeutende Gewinne einbringen könnte. Wir sind stark als revolutionäre Tendenz, schwach als Organisation. Nun wird die Einheitsfront in den Händen nicht nur unserer Gegner, sondern auch unserer wohlwollenden Verbündeten zu einem Instrument, um die Entwicklung unseres ideologischen Unterfangens durch die Statuten der Einheitsfront selbst zu lähmen. Die Interventionen unserer Genossen bei den Gesprächen zwischen den drei Organisationen zeigen ihren festen Willen, besser zu werden und mehr zu erreichen. Aber man sieht auch, wie sehr sie durch die Diplomatie6 der Einheitsfront behindert, um nicht zu sagen in Ketten gelegt werden. Das Missverhältnis zwischen unseren Kräften und denen der Sozialisten zwingt unseren Vertretern fatalerweise eine sehr bescheidene Haltung auf, die dem zahlenmäßigen Kräfteverhältnis entspricht, aber keineswegs der ideologischen Rolle, die wir in der Arbeiterjugend spielen können und müssen.
Die Einheitsfront, wie sie sich jetzt in Frankreich und anderswo darstellt, wird durch die diplomatische Heuchelei vergiftet, die ein Mittel der Selbstverteidigung der beiden Bürokratien ist. Indem wir uns auf der Ebene der Einheitsfront bewegen, sind wir als schwache Organisation auf Dauer dazu verurteilt, die Rolle der armen Verwandten zu spielen, die ihre Stimme nicht zu sehr erheben dürfen, um den Hausherrn nicht zu stören. So kommt es, dass unsere organisatorische Unabhängigkeit sich gegen unsere politische und ideologische Unabhängigkeit wendet. Wir haben das gleiche Phänomen in Frankreich nach den Ereignissen des 6. Februar und vor allem nach der Verwirklichung der Einheitsfront gesehen.
„La Vérité“ ist heute in ihrer Kritik viel unabhängiger, als sie es vor unserem Beitritt zur SFIO war. Das kommt nicht von ungefähr. Die Kritik, die aus dem Bereich der Beziehungen zwischen Organisationen verbannt wurde, kann nur innerhalb der Organisationen Platz finden, nicht immer und überall, aber auf jeden Fall in der SFIO und, soweit ich das beurteilen kann, in der JGS. In diesem Fall muss die organisatorische Unabhängigkeit der politischen Unabhängigkeit Platz machen. Innerhalb der JGS würden unsere belgischen Genossen eine unvergleichlich systematischere und fruchtbarere Arbeit leisten als von außen. Ich war endgültig von der Notwendigkeit des Eintritts überzeugt, als ich erfuhr, dass die jungen JGSler, mit denen unsere Genossen in Verbindung stehen, darauf bestanden, dass wir zu ihnen in ihre Organisation kommen.
Die Entscheidung zu vertagen wäre ein großer Fehler. Die Krise in der belgischen Arbeiterpartei, und vor allem die Krise zwischen der Jugend und der Parteiführung, kann sich plötzlich verschärfen und zur Spaltung führen. In diesem Fall würden die JGS unweigerlich die Unterstützung der Stalinisten suchen, ähnlich wie die österreichische Linke. Das würde eine Reihe von demoralisierenden Erfahrungen mit der Bürokratie bedeuten, eine „Säuberung“ gegen den Strich, d.h. die Auslese von willfährigen Mitläufern und Emporkömmlingen, den Ausschluss7 von unabhängigen und kämpferischen Charakteren. Um nicht zugrunde zu gehen, braucht die JGS eine antistalinistische Impfung. Nur unsere Genossen können ihnen diese verabreichen. Aber um diese heilsame Aufgabe erfüllen zu können, müssen unsere Genossen absolut frei sein von den Schranken, die die Statuten der Einheitsfront auferlegen. Sie müssen auf die JGS zugehen, ihre Erfahrung teilen und ihnen auf der Grundlage dieser Erfahrung unsere Ideen und Methoden beibringen.
Ich habe noch keine Dokumente betreffend den letzten Kongress der POB. Die Frage der Haltung der Linken – einschließlich der Action Socialiste – hat eine extreme Bedeutung für die Entwicklung der proletarischen Avantgarde in Belgien. Aber es scheint mir, dass der Beitritt zur JGS auch im Falle der Verschärfung des Kampfes in der Partei wie auch im Falle seiner zeitweiligen Abschwächung notwendig ist. Ich erwarte mit größter Ungeduld die Meinung unserer belgischen Genossen.
PS: Die SFIO ist in gewissem Maße eine kleinbürgerliche Organisation, nicht nur wegen ihrer führenden Tendenz, sondern auch wegen ihrer sozialen Zusammensetzung: Freiberufler, Gemeindebeamte, Arbeiteraristokratie, Lehrer, Beamte8 usw. Die SFIO ist eine kleinbürgerliche Organisation. Diese Tatsache schmälert natürlich die durch den Eintritt geschaffenen Möglichkeiten. Die POB hingegen umfasst die Arbeiterklasse, und die Mitgliedschaft der JGS gehört in ihrer überwältigenden Mehrheit zur Arbeiterklasse. Das bedeutet, dass ein Beitritt zu den JGS ganz andere günstige Möglichkeiten eröffnen würde.
Crux9
1 Diese Zeile ist in der französischen Wiedergabe weggelassen
2 In der englischen Übersetzung: „Gelegenheit … durchzusehen“
3 In der englischen Übersetzung: „Grüppchen“
4 In der englischen Übersetzung: „Unsere Stellung … in der spanischen Lage …“
5 In der englischen Übersetzung eingefügt: „sehr lange“
6 In der englischen Übersetzung hervorgehoben
7 In der englischen Übersetzung: „expulsion“, Ausschluss, im französischen Text „explosion“, vermutlich ein Rechtschreibfehler
8 In der englischen Übersetzung: „Angestellte“
9 Die Unterschrift ist auszugsweisen Wiedergaben entnommen
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