Jimmy Deane: Was ist los im Kreml? – Chruschtschows Sturz beweist die Wackeligkeit der sowjetischen Bürokrat*innen

[eigene Übersetzung aus: The Militant Nr. 2, November 1964]

Der erfolgreiche Start einer Kapsel mit drei Männern in die Erdumlaufbahn durch die Sowjetunion hat die Welt durch seine technische und wissenschaftliche Leistung in Erstaunen versetzt. Zwei Tage nach diesem wichtigen und spektakulären Ereignis wurde die Welt durch die Nachricht erschüttert, dass Chruschtschow von seiner scheinbar allmächtigen Position abgesetzt worden war.

Diese beiden Ereignisse enthüllen die Situation in der Sowjetunion 47 Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917. Auf der einen Seite enorme wissenschaftliche Errungenschaften, die es der UdSSR ermöglichten, die Konkurrenz herauszufordern, und, was die moderneren Wissenschaftszweige betrifft, die stärkste kapitalistische Macht zu überflügeln.

Auf der anderen Seite eine politische Struktur, die die völlige Entfernung des scheinbar allmächtigen Staatsoberhaupts ermöglicht, während die Massen, einschließlich der Basis der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, als passive Beobachter*innen dastehen.

Vor siebenundvierzig Jahren war Russland ein rückständiges Land, dessen Wirtschaft durch den Zarismus und den imperialistischen Krieg bereits am Boden zerstört war. Das Wirtschaftsleben des Landes wurde durch den jahrelangen erbitterten Bürger*innenkrieg, der ihm von den imperialistischen Mächten unter Führung Großbritanniens aufgezwungen wurde, fast zerstört.

Die bolschewistische Partei unter der Führung Lenins und Trotzkis musste sich dem gewaltigen Problem des Wiederaufbaus in einem rückständigen, halbfeudalen Land stellen, das von feindlichen kapitalistischen Mächten umzingelt war.

Heute steht die Sowjetunion als zweite Weltmacht da und beweist in der Raketen- und Raumfahrttechnik immer wieder ihre Führungsrolle. Diese Errungenschaften zeugen nicht nur von einem sehr hohen Niveau wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern auch von der Fähigkeit und den Mitteln, diese anzuwenden.

Die Oktoberrevolution, die den Feudalismus und den Kapitalismus zerstörte und eine Gesellschaft auf der Grundlage des Staatseigentums an den Produktionsmitteln, des Außenhandelsmonopols und der Planwirtschaft errichtete, hat sich historisch bewährt und in der Praxis den Weg gezeigt, den einzigen Weg, auf dem die Gesellschaft zu neuen und ungeahnten Errungenschaften vorstoßen kann.

Die enormen Entwicklungen innerhalb der UdSSR seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, trotz der Verbrechen des Stalinismus, seiner Korruption, Vetternwirtschaft, Verschwendung und Ineffizienz – all dessen, was auf dem 20. und 22. Parteitag der KPdSU aufgedeckt wurde -, fanden in erster Linie aufgrund der Errungenschaften der Oktoberrevolution und aufgrund der Ausdehnung der Revolution auf andere Länder statt, die die Isolation der Sowjetunion durchbrach und es ihr ermöglichte, aus den technischen und materiellen Ressourcen einer ganzen Reihe neuer Staaten zu schöpfen.

Diese Ereignisse haben an sich die Richtigkeit der Politik Trotzkis und den verbrecherischen Charakter der Politik Stalins bewiesen, der die Revolution in anderen Ländern, insbesondere in den fortgeschrittenen Ländern, im Austausch gegen Abkommen mit den Kapitalisten verriet.

Was hätte erreicht werden können – nicht nur in Russland, sondern auch in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien -, wenn eine wirklich marxistische Politik verfolgt worden wäre und die kommunistischen Parteien die Politik Lenins und Trotzkis fortgesetzt und die günstigen Situationen zur Errichtung von Arbeiter*innenstaaten genutzt hätten.

Die planmäßige Nutzung der Ressourcen Europas, Asiens und Afrikas hätte auf der Grundlage eines Sowjetsystems enorme Errungenschaften ermöglicht und die Angst vor Krieg für immer beseitigt.

Auf der Grundlage der Isolation, der Rückständigkeit und der Niederlagen der Revolution war es einer Bürokratie möglich, sich an die Macht zu hieven und mit dem Einsatz von grausamem Terror den Bolschewismus zu unterdrücken und das Volk gefangen zu halten.

Die Entwicklung der Produktivkräfte zusammen mit der Ausdehnung der Revolution, wenn auch auf deformierte Weise, verschärft den Widerspruch zwischen den Produktivkräften und dem Staatsapparat noch weiter.

Derselbe Widerspruch besteht auch heute. Der Zickzackkurs der Wirtschaftspolitik Chruschtschows, die Entlarvung des Stalinismus und die Reform einiger der schlimmsten Züge des Stalinismus können nur in diesem Zusammenhang verstanden werden, d.h. als ein Versuch auf Seiten der Bürokratie, ihre Herrschaft über die Massen und gegen „widerspenstige“ Elemente innerhalb der Bürokratie zu bewahren. Die hastige Absetzung Chruschtschows, die seit einiger Zeit vorbereitet wurde, ist nicht auf Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bürokratie über den chinesisch-russischen Streit zurückzuführen (auch wenn die neue Führung möglicherweise versuchen wird, eine Einigung mit China zu erzielen) und auch nicht auf einen scharfen Streit über die Außenpolitik, sondern auf die internen Entwicklungen innerhalb der Sowjetunion.

Ohne die genauen Fragen zu kennen, in denen Chruschtschow eine Niederlage erlitt – nur eine Seite wird ihren Standpunkt darlegen, und dies in völlig verworrener Form – ist es gewiss, dass es sich um die Frage der Wirtschaftspolitik in Bezug auf die Landwirtschaft, die Entwicklung und Organisation der Schwerindustrie und die Konsumgüter handelte.

Auch wenn die Massen der Sowjetunion keine direkte Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern, so ist doch klar, dass die Anhebung des Lebensstandards und die sehr begrenzte „Liberalisierung“ dazu geführt haben, dass ein enormer Druck aufgebaut und nicht unterdrückt wurde.

Die Erklärungen der neuen Führung zeigen, wie bewusst sich die Bürokratie der Meinungen und des Drucks der Massen ist. Sie suggerieren, dass Chruschtschow die Erfahrungen der Massen nicht berücksichtigt und dass er die „Politik der vermehrten Konsumgüter“ nicht verfolgt habe.

Zusammen mit den Vorwürfen, er habe einen „Personenkult“ aufgebaut und „Sesselmethoden“ angewendet soll es die Massen ansprechen und ihre Unterstützung gewinnen.

Das wird nicht schwer sein. So wie Chruschtschow auf die ungeheuerlichen Verbrechen und Missetaten Stalins verweisen konnte, werden auch sie auf die Verbrechen und Missetaten Chruschtschows, des Schlächters der Ukraine, verweisen können.

Der Kampf in der Bürokratie ist eine Widerspiegelung der widersprüchlichen Kräfte in der Gesellschaft. Im Grunde ist es der Widerspruch zwischen sozialisierter und geplanter Produktion und dem Würgegriff einer bürokratischen Kaste.

Die neue Führung, die mit den gleichen Problemen konfrontiert wird, wird die gleichen Antworten geben – Zickzackkurs zwischen rechts und links, zwischen Zugeständnissen und Repression.

Nur eine Rückkehr zum Sowjetsystem, zur Herrschaft der Massen, zu einer leninistischen Politik in nationalen und internationalen Angelegenheiten kann die inneren Probleme der Sowjetunion überwinden und es ihr ermöglichen, eine Vorreiterrolle in der Entwicklung des Weltsozialismus zu übernehmen.

Die Enthüllungen des 20. und 22. Parteitags, der ungarische und polnische Aufstand, der chinesisch-sowjetische Konflikt haben in den Reihen der kommunistischen Parteien in der ganzen Welt eine tiefe Krise ausgelöst.

Diese neuen Ereignisse müssen alle ernsthaften Arbeiter*innen dazu bringen, die Dinge klar zu sehen, dass die Oktoberrevolution eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit war und dass es ihre Aufgabe ist, jene Politik zu verfolgen, die zum Sozialismus in Großbritannien führen wird.

Der Sieg der Arbeiter*innenbewegungen in Großbritannien und Europa würde der russischen Bürokratie den Todesstoß versetzen und die freie, ungehinderte Entwicklung des demokratischen Sozialismus in der ganzen Welt ermöglichen.


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