Peter Taaffe: Gorbatschow und die Linke

[eigene Übersetzung des englischen Textes in Militant International Review, Nr. 42, Herbst 1988, S. 7-14]

Peter Taaffe, Herausgeber des „Militant“, untersucht die Reaktion der Linken in der britischen Arbeiter*innenbewegung auf die turbulenten Ereignisse in der UdSSR und in Osteuropa.

Der Machtantritt Gorbatschows vor mehr als drei Jahren war zweifelsohne ein bedeutendes Ereignis in der Entwicklung der „Sowjetunion“. Gorbatschows Versuch, das stalinistische Regime zu reformieren, hat bei der Arbeiter*innenklasse im kapitalistischen Westen kolossales Interesse hervorgerufen. Die Begriffe „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umstrukturierung) sind fast schon Teil der Alltagssprache geworden.

In Anerkennung der Weltbedeutung dieses Prozesses haben das MIR und Militant in einer Reihe von Artikeln und Broschüren versucht, den fortgeschrittenen Arbeiter*innen Großbritanniens und der Welt eine Analyse dieser Ereignisse zu liefern.

Vergeblich sucht man nach einer ähnlichen Herangehensweise in den Reden und Schriften der Führer*innen der Arbeiter*innenbewegung. Wie vorauszusehen war, würgen die Rechten die Häppchen wieder aus, die ihnen von der ideologischen Tafel der Bourgeoisie selbst vorgesetzt werden. So verkündete Neil Kinnock im Mai dieses Jahres: „Der Westen (gemeint ist der kapitalistische Westen – PT) sollte Gorbatschows Liberalisierung ermutigen.“ Mit Blick auf den Erfolg Gorbatschows hoffte Kinnock in einem Interview in der Zeitschrift „New Socialist“, dass „wir tatsächlich eine echte Liberalisierung und Modernisierung der Sowjetunion erreicht sehen“. Kinnocks Chefideologe, Bryan Gould, ging noch einen Schritt weiter. Offensichtlich erkennt er in Gorbatschow einen verwandten Geist und vergleicht die Linke der britischen Arbeiter*innenbewegung mit den „Konservativen“ in Russland: „Wir stehen vor einigen der gleichen Probleme wie Herr Gorbatschow. Wir haben auch unsere Ligatschows – den gleichen Konservatismus und die gleiche Angst.“ The Independent, 4. Juni 1988.

Tribune

Aber trotz dieses Versuchs eines sauberen Amalgams wäre es zutreffender zu sagen, dass der rechte Flügel dieselbe krankhafte Angst vor der Basis der Labour Party an den Tag legt wie die Ligatschows vor der Arbeiter*innenklasse der UdSSR. Sowohl Gorbatschow als auch Ligatschow sind für „demokratische Wahlen“, solange alle Kandidat*innen „Kommunisten“ sind, d.h. stalinistische Bürokrat*innen. Gould und Kinnock sind für „demokratische Verfahren“ innerhalb der Labour Party bei der Auswahl der Parlamentskandidat*innen, haben aber in Govan ihre eigene Auswahlliste durchgesetzt! Aber es wurde Barbara Castle, der ehemaligen Linke und jetzigen Europaabgeordnete, überlassen, im Februar dieses Jahres in der „Tribune“ über die wahren Ansichten der konservativen Labour-Funktionär*innen zu den Ereignissen in Russland und Osteuropa zu schreiben. Sie berichtet von einer Diskussion mit einem führenden polnischen Bürokraten und kommentiert: „Während ich zuhörte, dachte ich: Es muss doch das Ziel eines jeden vernünftigen Menschen sein, den Zerfall zu verhindern und Reformen schrittweise und progressiv voranzutreiben. Dann werden sie Bestand haben.“ Sie zitiert zustimmend Zbigniew Brzezinski, den ehemaligen Sicherheitsberater Präsident Carters: „Für den Westen schafft diese Lage einen historischen Rahmen für eine aufgeklärte Politik in Ost-West-Fragen. Ein massiver revolutionärer Ausbruch in der Region liegt nicht in unserem Interesse … Ein allmählicher Wandel, auf der anderen Seite, ist wünschenswert. Er sollte erleichtert werden und ist machbar.“

„Militant“ hat schon viele Male kommentiert, dass die Kapitalist*innen ebenso wie die stalinistische Bürokratie Angst vor einer Bewegung der Arbeiter*innenklasse Osteuropas und der UdSSR in Richtung Arbeiter*innendemokratie haben. Dies wird durch Brzezinskis Erklärung bestätigt. Castle zeigt jedoch, dass der rechte Flügel der Arbeiter*innenbewegung im Grunde genommen die Ansichten der Bourgeoisie über die Ereignisse in der UdSSR teilt. Aber ein Überblick über die Presse und die Erklärungen führender linker Sprecher*innen offenbart ähnliche Illusionen in Gorbatschow, vermischt mit theoretischer Konfusion und Verwirrung.

Die „Tribune“, die von einigen immer noch naiv als „linke“ Zeitschrift angesehen wird, hat in diesem Jahr keinen einzigen ernsthaften analytischen Artikel über die Ereignisse in der UdSSR veröffentlicht. Stattdessen werden die Leser*innen mit Häppchen gefüttert, die in der Regel in Buchbesprechungen enthalten sind, ohne dass ein ernsthafter Versuch unternommen wird, zu erklären, was in der UdSSR vor sich geht. Selbst Tony Benn hat einen Mangel an Klarheit über die Natur der Regime in Osteuropa und der UdSSR gezeigt. Seine Beschreibung von ihnen als „sozialistisch“ bewirkt, das Konzept des Sozialismus zu beschmutzen und sich nach links bewegende Arbeiter*innen hinsichtlich des Charakters dieser Regime zu verwirren. In ähnlicher Weise lud Michael Foot laut „New Socialist“ vom Januar 1987, als er Vorsitzender der Labour Party war, beharrlich „sowjetische Vertreter“ zum Labour-Parteitag ein, „weil die UdSSR trotz ihrer Fehler und allem anderen sozialistisch ist“.

Von den führenden Wortführer*innen der Linken wirft nur Eric Heffer ein wenig Licht auf die Vorgänge in der UdSSR. Er wies darauf hin, dass: „die Gruppe, die er (Gorbatschow) in der Führung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion vertritt, die Dinge weiter öffnen will. Das würde zwar nicht zu einer demokratischen Gesellschaft führen, könnte aber denjenigen, die für eine solche Gesellschaft kämpfen, den Weg ebnen. In diesem Sinne ist es in der Tat sehr wichtig.“ Als jemand, der aus der britischen „kommunistischen“ Partei ausgeschlossen wurde und der von der marxistischen Analyse der russischen Gesellschaft beeinflusst wurde, die in der Liverpooler Arbeiter*innenbewegung, auch in seinem eigenen Wahlkreis Walton, stark vertreten ist, zögert er nicht, diese Regime als „stalinistisch“ zu bezeichnen. Eric Heffer steht auf der Seite der Arbeiter*innenklasse in diesen Staaten: „Es ist interessant festzustellen, dass bei jedem Aufruhr der Arbeiter in den stalinistischen Staaten immer der Ruf nach Arbeiterräten, nach Arbeiterkontrolle und nach demokratischen Gremien ertönt.“

Man vergleiche das mit der Haltung der Führung des Schottischen Gewerkschaftskongresses (STUC). Sie versucht, in kleinerem Maßstab das berüchtigte Anglo-Russische Gewerkschaftskomitee wieder ins Leben zu rufen, das bei der Entgleisung des Generalstreiks von 1926 eine so verhängnisvolle Rolle spielte. Der STUC kündigte laut „Morning Star“ vom 15. August 1988 eine Vereinbarung „zwischen Campbell Christie, dem Generalsekretär des STUC, und Gennady Janajew vom All-Unions Zentralrat der Sowjetischen Gewerkschaften, AUCCTU, über die Einrichtung eines gemeinsamen Ausschusses mit der Bezeichnung Scottish-Soviet Trade Union Committee“ an. „Er wird die gemeinsamen sozialen und wirtschaftlichen Interessen fördern“. Ein solcher Schritt wird den Arbeiter*innen in den stalinistischen Staaten nicht helfen, die, wie die Ereignisse in Polen gezeigt haben, die „sowjetischen Gewerkschaften“ als das Äquivalent der Firmengewerkschaften im kapitalistischen Westen betrachten, die ihre Ansichten noch weniger vertreten als die EETPU in diesem Land. Diese Übereinstimmung zeigt, welch unheilvollen Einfluss die „kommunistische“ Partei auf die Arbeiter*innenbewegung ausübt.

Und doch herrscht gerade in der „kommunistischen“ Partei – und zwar in allen dreien – die größte ideologische Verwirrung in Bezug auf die UdSSR. Die wahren Ziele Gorbatschows seit seiner Machtübernahme und die Bedeutung der jüngsten Parteikonferenz haben die krassesten Widersprüche in der Haltung dieser Organisationen offenbart. Es gibt nicht den Hauch einer Erklärung dafür, warum Gorbatschow gezwungen war, in der scheinbar „kühnen“ Art und Weise vorzugehen, in der er dies getan hat. Er selbst beschrieb Russland am Vorabend seiner Machtübernahme als in einer „Vorkrisensituation“. Es war die absolute Sackgasse des stalinistischen Regimes, die Gorbatschow zu dem Versuch veranlasste, das durchzusetzen, was er als „eine Revolution ohne Schüsse“ bezeichnet. In der Vergangenheit war der Stalinismus ein relativ fortschrittlicher Faktor in der Entwicklung der Wissenschaft, der Technik und der Arbeitsorganisation, der Produktivkräfte. Jetzt ist er, zumindest in der UdSSR und in Osteuropa, ein absolutes Hindernis für weiteren Fortschritt.

Warum Gorbatschow?

Die enormen historischen Errungenschaften der Verstaatlichung und des Produktionsplans sind unbestritten, ungeachtet der Versuche der bürgerlichen Kommentator*innen im Westen, sie zu verunglimpfen. Aber diese Vorteile wurden durch den monströsen Albdruck der bürokratischen Elite, die die russische Gesellschaft beherrscht, zunichte gemacht. Mit fast 20 Millionen Menschen ist sie zahlenmäßig größer als die gesamte arbeitende Bevölkerung Südkoreas! Jede relativ fortschrittliche Rolle, die sie in der Vergangenheit bei der Leitung der Übernahme von Industrie und Technik aus dem kapitalistischen Westen und bei der Schaffung der Grundlagen einer modernen Wirtschaft gespielt hat, ist nun erschöpft. Die Bürokratie in den stalinistischen Staaten ist heute ebenso wie die Kapitalist*innen im Westen ein Hindernis, das einen wirklichen Fortschritt in der Entwicklung der Gesellschaft verhindert, da sie die Poren der Gesellschaft völlig verstopft und wirkungslos macht.

Die Anzeichen des Verfalls, einschließlich einer deutlichen Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung, waren unter dem Breschnew-Regime offensichtlich. Einige der kapitalistischen Länder des Westens, wie z.B. Japan, haben in letzter Zeit das Wirtschaftswachstum der UdSSR übertroffen. Unter Breschnew blühte die Korruption in einem gigantischen Ausmaß. Dies wurde nun offiziell in einer Reihe von aufsehenerregenden Prozessen aufgedeckt, wie z. B. kürzlich im Fall des Schwiegersohns Breschnews. Der offen stalinistische Flügel der Bürokratie hat, wie jetzt bekannt wurde, einen sterbenden Breschnew am Leben gehalten, der sechs Jahre lang fast ein Zombie war. Wie die Franco-Anhänger*innen, die diesen am Ende seines Regimes am Leben hielten, wollte die stalinistische Mafia den Tag der Abrechnung hinausschieben, indem sie sich hinter Breschnew versteckte. Selbst der frühere KGB-Chef Andropow erkannte bei seinem Amtsantritt die Notwendigkeit von Reformen, um eine drohende Katastrophe abzuwenden.

Der Zugang der Geheimpolizei zu allen Schichten der Gesellschaft überzeugte sie wahrscheinlich mehr als jeden anderen Teil der Bürokratie von der brodelnden Unzufriedenheit unter der Oberfläche der Gesellschaft. Die UdSSR holte nicht nur nicht innerhalb von 20 Jahren „den kapitalistischen Westen ein und überholte ihn“, wie Chruschtschow 1961 versprochen hatte, sondern drohte auch, immer weiter zurückzufallen. Zum Beispiel zeigten jüngste Zahlen, dass die Lebenserwartung der Männer entgegen der Entwicklung in anderen fortgeschrittenen Industrieländern sogar sank. Die ungebremste Herrschaft der Bürokratie hat zu beispiellosen ökologischen Katastrophen geführt und konnte die von der Masse der russischen und der UdSSR-Bevölkerung geforderte „Lebensqualität“ nicht bieten. Vor diesem Hintergrund müssen alle Maßnahmen Gorbatschows, dem Schützling Andropows, gesehen werden.

Gorbatschow steht nicht für eine qualitativ neue Kraft zur „Entbürokratisierung“ der russischen Gesellschaft. Wie Chruschtschow im Jahr 1953 stellt er einen Versuch einer „Reform von oben“ dar, um eine Revolution, eine politische Revolution, von unten zu verhindern. Es gibt jedoch eine Reihe entscheidender Unterschiede zwischen dem Hintergrund, vor dem Chruschtschow handelte, und der Lage, mit der Gorbatschow heute konfrontiert ist. Die Gesellschaft in der UdSSR und insbesondere die russische Arbeiter*innenklasse hat seit 1953 eine kolossale Entwicklung durchgemacht. Es gibt nicht nur ein hochgebildetes und mächtiges Industrieproletariat mit dem vielleicht höchsten kulturellen Niveau der Welt, sondern eines, das seinen Schrecken vor der stalinistischen Bürokratie völlig verloren hat. Chruschtschows „Liberalisierungsversuche“ waren sehr vorsichtig umrissen, der Kampf gegen die alten Stalinist*innen auf die Reihen der Bürokratie selbst beschränkt. Chruschtschows berühmte Anprangerung Stalins auf dem 20. Parteitag der russischen „kommunistischen“ Partei war geheim, und die Rede ist bis heute in der UdSSR nicht verbreitet worden.

Aber die russische Gesellschaft ist heute so träge und die Bürokratie, insbesondere die mittleren Schichten, so resistent gegen Veränderungen, dass Gorbatschow gezwungen war, einen offenen Kampf zu führen. Daher „Glasnost“ und „Perestroika“. In dem Versuch, einige der aufgeblähten Privilegien der mittleren Schichten der Bürokratie zu beschneiden, war er gezwungen, sich auf die unteren Schichten der Bürokratie und sogar auf die Arbeiter*innenklasse zu stützen. Doch dies hat wiederum Kräfte hervorgerufen, die eine tödliche Bedrohung für die Herrschaft der Bürokratie darstellen. Die turbulenten Ereignisse in Armenien und Berg-Karabach, die eine der größten Massenbewegungen der Geschichte darstellen, haben in den letzten zehn Monaten eine Welle von Streiks und Demonstrationen nach der anderen ausgelöst. Auch in den baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland ist die nationale Frage mit Massendemonstrationen, die denen in Berg-Karabach und Armenien in nichts nachstehen, wieder aufgetaucht.

Gorbatschow hat die Lage in der russischen Gesellschaft als eine gigantische „Debattenkammer“ bezeichnet. Einen Eindruck davon bekamen wir bei den Ereignissen im Vorfeld der außerordentlichen Parteikonferenz der „kommunistischen“ Partei im Juni. Es fanden Demonstrationen von 50.000, 100.000 und 150.000 Menschen statt, manchmal in Fußballstadien, um die Delegierten zu dieser Konferenz zu „entsenden“, d.h. unter Druck zu setzen. Die Intervention der Massen, auch wenn sie sich noch im Anfangsstadium befindet, hat ihrerseits zu Unruhen innerhalb der Bürokratie geführt.

Morning Star“

Boris Jelzin, der ehemalige Moskauer Parteichef, hat zwar die von der Bürokratie gesetzten Grenzen nie völlig überschritten, aber dennoch etwas von dem Druck und der Unzufriedenheit der Massen widergespiegelt. Er tat etwas für die Bürokrat*innen noch nie Dagewesenes: Er fuhr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Moskau! Er entließ eine ganze Schicht der korruptesten Beamt*innen und Polizist*innen. Und er brachte seine Unzufriedenheit über das „langsame Reformtempo“ zum Ausdruck und griff dabei Gorbatschows Frau Raisa wegen ihres verschwenderischen Lebensstils an. Dies brachte ihn nicht nur in Konflikt mit dem offen stalinistischen „konservativen“ Flügel der Bürokratie, der von Ligatschow vertreten wurde, sondern auch mit Gorbatschow, der versuchte, eine mittlere Position einzunehmen. Die Art und Weise, wie Jelzin im Dezember 1987 aus dem Politbüro entlassen wurde, zeigte jedoch, dass hinter dieser Fassade der „Liberalisierung“ das stalinistische Regime intakt blieb. Er wurde zu einem entwürdigenden „Geständnis“ gezwungen, das der Stalinzeit würdig war. Später beklagte er sich, dass er dies nur getan habe, weil er unter Drogen gesetzt und aus dem Krankenhausbett gezerrt wurde! Jelzin hat seitdem offen die Entfernung Ligatschows aus dem Politbüro gefordert.

Aber es waren Ligatschow und der „konservative“ Flügel der Bürokratie, die aus der jüngsten „außerordentlichen“ Konferenz eher gestärkt hervorgingen. Selbst hier, auf einer Konferenz der abgesicherten Elite, kamen die enormen Schwierigkeiten, mit denen die Bürokratie, insbesondere der Gorbatschow-Flügel, konfrontiert ist, zum Ausdruck, wenn auch nur in gedämpfter Form. Doch Gorbatschow schlug in dem Ende September eilig einberufenen Zentralkomitee zurück. Gromyko, der ehemalige Präsident, wurde in den Ruhestand versetzt, während Solomenzew ebenfalls aus dem Politbüro entfernt wurde. Tschebrikow wurde als KGB-Chef abgesetzt und mit einem relativ unbedeutenden Posten für die „Rechtsreform“ betraut. Ligatschow hingegen wurde seines Postens als „Parteiideologe“ enthoben und mit dem Posten des Landwirtschaftsministers betraut.

Es ist klar, dass Gorbatschow, der inzwischen sowohl Präsident als auch Parteichef ist, auf eine solche Gelegenheit gewartet hat, um gegen die Konservativen zurückzuschlagen. Seine jüngsten Schritte wurden durch den feindseligen Empfang ausgelöst, den er bei seiner Rundreise durch Sibirien erfahren hatte. Diese Ereignisse erinnerten Gorbatschow eindringlich an die Frustration und wachsende Ungeduld der russischen Arbeiter*innenklasse mit den konkreten Ergebnissen seiner „Reformen“. Wie bereits erwähnt, zeigte es auch, dass die Arbeiter*innenklasse ihren Schrecken vor dem Stalinismus verloren hat. Wenn diese Reformen, die von der Bürokratie unterminiert und vereitelt wurden, nicht vorangetrieben würden, drohte eine noch größere Massenunzufriedenheit.

Gorbatschow nutzte dies aus, um diese Maßnahmen im Zentralkomitee durchzudrücken. Doch die Art und Weise seines Sieges spricht Bände über die wahre Natur des Gorbatschow-Regimes. Das Zentralkomitees tagte genau eine Stunde lang. Nur zwei Redner waren zugelassen: Gorbatschow selbst und Gromyko, der wenigstens „Auf Wiedersehen“ sagen durfte, anders als in der Vergangenheit, als man ihn in ein sibirisches Kraftwerk oder etwas Schlimmeres geschickt hätte. Die Beschlüsse des Zentralkomitees waren einstimmig, ebenso wie der Oberste Sowjet, der Gorbatschow als Präsidenten absegnete. Das bedeutet, dass die wirklichen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen wurden. So viel zu „Glasnost“. Diese Veränderungen, die von der Sonderkonferenz im Juni weitgehend vorweggenommen worden waren, haben die Lage in der UdSSR jedoch nicht grundlegend verändert.

Es versteht sich von selbst, dass das Organ der „Tankies“, der „Morning Star“, vor Freude über die Konferenz in in Verzückung geriet. Am 28. Juni erklärte der Leitartikel: „Der Sozialismus ist die Zukunft“. Dann folgt eine kaum verhüllte Entschuldigung für die Verbrechen des Stalinismus: „Der Sozialismus hatte keine leichte Geburt, Kindheit oder Jugend. Es fehlte nicht an jenen, die ihm das Leben abschneiden wollten, weil sie ihn zu Recht als Bedrohung für ihre Privilegien und ihren Reichtum ansahen … Die Notmaßnahmen, die zu Beginn eingeführt wurden, um die dringenden Probleme der Intervention und der Rückständigkeit zu bewältigen, waren zunächst als vorübergehend gedacht, nahmen aber Formen an, die noch lange nach dem Ende ihrer Notwendigkeit fortbestanden. Das Ergebnis war eine Anhäufung negativer Einflüsse, die sich als Entwicklungsbremse erwiesen und schließlich zu einer Situation führten, die als Vorkrisensituation bezeichnet wurde.“ So werden die Verbrechen des Stalinismus mit einer Phrase, den „negativen Einflüssen“, wegerklärt.

Trotz der kleinen „Verirrungen“ der Sklavenarbeitslager, der Millionen, die durch Stalins Schnitzer der Zwangskollektivierung umkamen, der Enthauptung der Roten Armee durch die Säuberungen, die Russland zum Zeitpunkt von Hitlers Angriffen enorm geschwächt zurückließen, ganz zu schweigen von der Abschlachtung der engsten Mitstreiter Lenins und der Vernichtung der letzten Reste der bolschewistischen Partei in den Säuberungen der 1930er Jahre, kann der „Morning Star“ dieses Regime immer noch fröhlich als „sozialistisch“ bezeichnen. All diese Verbrechen werden vom „Morning Star“ immer noch einem Mann, Stalin, zugeschrieben. Ihre Korrespondent*innen, die über die Sonderkonferenz berichten, Roger Trask und Kate Clark, zitieren zustimmend Georgi Arbartow, Direktor des Instituts für US-amerikanische und kanadische Studien: „Wir müssen uns unsere Geschichte ansehen… viele der Fehler hätten vermieden werden können, wenn Stalin 1934 und Breschnew 1974 zurückgetreten wären“. Es steht außer Frage, dass Stalin wahrscheinlich wahnsinnig war, besonders gegen Ende seiner Tage, aber die Verbrechen seines Regimes können nicht nur einem Mann zugeschrieben werden.

Stalin

Wie Trotzki in seiner brillanten Analyse des Aufstiegs Stalins und des Systems des Stalinismus darlegte, verkörperte Stalin lediglich das Wachstum der Bürokratie in Russland. Diese wiederum war das Produkt der Verzögerung der Weltrevolution und der kulturellen Rückständigkeit Russlands. Wäre Stalin 1934 gestorben, wäre ein anderer aus den Reihen der Bürokratie aufgestiegen, der im Grunde eine ähnliche Politik betrieben hätte, wobei vielleicht einige der monströseren Verbrechen, die Stalin selbst zugeschrieben werden, vermieden worden wären. Der gleiche Prozess hätte sich entwickelt, wenn Breschnew 1974 von der Bildfläche verschwunden wäre. Das Auftauchen Gorbatschows hat das, was ein Delegierter der Konferenz zutreffend als die „Kaste der Unberührbaren“ bezeichnete, die die Partei, den Staat und die Armee, die Spitzen der russischen Gesellschaft, beherrschen, nicht grundlegend untergraben.

Die Spalten des „Morning Star“ sind voll von eklatanten Widersprüchen über den Charakter des Regimes in der UdSSR. So wird am 5. Juli 1988 in einem Leitartikel erklärt: „Sozialismus und Demokratie sind untrennbar von einander“. Doch in ihrem Kommuniqué aus Moskau erklären Kate Clark und Roger Trask: „Zum ersten Mal seit Menschengedenken sprach ein Delegierter von der Tribüne aus gegen einen der Vorschläge im Bericht des Generalsekretärs der Partei.“ Warum hatte sich in der Vergangenheit kein Delegierter gegen den Generalsekretär ausgesprochen? Es ist kein Zufall, dass diese Frage vom „Morning Star“ nie gestellt wird. Sie wissen genau, dass eine solche Äußerung unter Stalin oder dem Regime seiner Nachfolger wahrscheinlich die Verhaftung und den Transport in ein Arbeitslager für den besagten Delegierten zur Folge gehabt hätte. Sogar unter Breschnew waren derartige Äußerungen mit einer Einweisung in eine psychiatrische Klinik verbunden. Und das wird als Sozialismus beschrieben! Kann man sich eine bessere Methode vorstellen, um die Idee des Sozialismus in den Augen der britischen Arbeiter*innen zu verunglimpfen? Die „Morning Star“-Anhänger*innen sind in einer historischen Zeitschleife gefangen.

In den monumentalen Werken Leo Trotzkis findet sich eine durch und durch wissenschaftliche Erklärung für den Charakter der Regime, die heute in der UdSSR und in Osteuropa bestehen. Für Marx, Engels und Lenin bedeutete der Beginn des Sozialismus eine höhere Entwicklung der Produktivkräfte als die, die der am weitesten entwickelte Kapitalismus erreicht. Dies würde ein höheres gesellschaftliches Niveau bedeuten, sowohl in Bezug auf die Produktionsleistung als auch auf den Lebensstandard der Bevölkerung, als es in Amerika, Schweden, Westdeutschland oder Japan gegenwärtig besteht. Auf der Grundlage der Rückständigkeit der russischen Gesellschaft und der Isolation der russischen Revolution war das klar unmöglich. Lenin und Trotzki nahmen die russische Revolution als Ouvertüre zur Weltrevolution wahr. Auf der Grundlage des Weltsozialismus wäre es durchaus möglich gewesen, die Wachstums- und Entwicklungsrate der kapitalistischen Gesellschaft vollständig zu übertreffen. Aber eine solche Aufgabe war auf der Grundlage einer einzigen isolierten Revolution, noch dazu in einer rückständigen Gesellschaft, unmöglich. Trotzki charakterisierte Russland daher als ein Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Das Wachstum der Bürokratie, verkörpert durch den Aufstieg Stalins, schuf ein historisches Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus. Dieses stellt nun ein massives Hindernis dar – das beseitigt werden muss -, das die weitere reale Entwicklung der russischen Gesellschaft verhindert. Doch Trotzkis wissenschaftliche Einschätzung und brillante Voraussagen über den Charakter des stalinistischen Regimes sind für die „Morning Star“-Anhänger*innen ein Buch mit sieben Siegeln.

In der Berichterstattung über die Sonderkonferenz gab der „Morning Star“ am 29. Juni 1988 die sehr r-r-r-revolutionäre Losung „Alle Macht den Sowjets“ aus. Dies sei die Botschaft, die Gorbatschow auf der Konferenz verkündet habe. Doch weder die Berichterstatter*innen von der Konferenz noch die Redakteur*innen des „Morning Star“ kamen auf die Idee, dass eine solche Losung für sie mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Erstens war dies die berühmte Losung der bolschewistischen Partei während des größten Teils des Jahres 1917 und vor der Oktoberrevolution. Das war zu einer Zeit, als es echte Sowjets, Arbeiter*innen- und Bäuer*innenräte, gab, die mit den verschiedenen bürgerlichen Koalitionsregierungen um die Macht rangen. Zu dieser Zeit gab es in Russland ein Regime der Doppelherrschaft. Die Verwendung dieses Slogans in dem, was offiziell „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ genannt wird, zu diesem Zeitpunkt würde sicherlich bedeuten, dass die „Sowjets“ bis dahin nicht „alle Macht“ hatten. Wenn die „Sowjets“ nicht die Macht hatten, wer hatte sie dann? War es nicht die bürokratische Elite, die aus ihren Reihen Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko und jetzt Gorbatschow hervorgebracht hatte? Tatsächlich wurden echte Sowjets, Organe der Verwaltung und Kontrolle des Staates und der Gesellschaft durch die Arbeiter*innenklasse, wie sie von Lenin und Trotzki vorgesehen waren, im Stalinismus völlig entmachtet. Der Staat wird als „Sowjet-“ bezeichnet, so wie die Diktatur Napoleons noch als Republik bezeichnet wurde!

Neue Verfassung

Obendrein werden nach den Vorschlägen Gorbatschows, die vom Sonderparteitag angenommen wurden, die „Sowjets“ nicht mit wirklicher Macht ausgestattet sein. Gorbatschow schlug ursprünglich vor, die Parteichefs von den Sowjets auszuschließen und ein „Parlament“ und einen Präsidenten in geheimer Wahl zu wählen. Er wollte sich eindeutig auf einen Teil der Arbeiter*innenklasse als Waffe stützen, um die Privilegien der Bürokratie zu beschneiden. Wie Trotzki 1936 feststellte: „ Damit diese Mechanik (das stalinistische System, PT) intakt bleibe, muss Stalin sich von Zeit zu Zeit auf die Seite des „Volks“ gegen die Bürokratie stellen, natürlich mit deren stillschweigendem Einverständnis. Zur Geheimwahl ist er zu greifen gezwungen, um wenigstens teilweise den Staatsapparat von der um sich fressenden Korruption zu säubern.“ Gorbatschow vertritt und verteidigt zwar die Bürokratie, ist aber wie Stalin selbst nicht abgeneigt, sich auf die Massen zu stützen und der Bürokratie Schläge zu versetzen. Trotzki wies darauf hin, dass dies eines der Ziele von Stalins Verfassung von 1936 war, „der demokratischsten der Welt“. Der Spanische Bürgerkrieg, in dem die heißen Flammen der sozialen Revolution eine politische Revolution in Russland auszulösen drohten, zwang Stalin, seine Pläne aufzugeben und seinen einseitigen Bürgerkrieg gegen die letzten Reste der bolschewistischen Partei zu beginnen.

Selbst Gorbatschows milde Maßnahmen wurden durch den Beschluss der Konferenz, die Parteichefs in den „Sowjets“ sitzen zu lassen, zunichte gemacht. Unter den 5.000 Delegierten, die an der Konferenz teilnahmen, befanden sich 600 „kommunistische“ Parteichefs. Es war ihr Druck, der die milden Reformmaßnahmen Gorbatschows sorgfältig einschränkte. Darüber hinaus zerstörte die Konferenz ausdrücklich die Hoffnungen der „Liberalen“ im Westen auf einen Übergang zum „Pluralismus“. Das politische Monopol der „kommunistischen“ Partei wurde in einer Resolution an die Konferenz bekräftigt. Was ist das für eine „sozialistische Demokratie“, die nur Kandidat*innen einer einzigen Partei zu kandidieren erlaubt?

Wie Trotzki und die Marxist*innen bereits mehrfach erklärt haben, ergab sich das Verbot anderer Parteien in den Anfängen des russischen Arbeiter*innenstaates aus den Erfordernissen des Bürgerkrieges und der Unterstützung dieser Parteien für militärische Maßnahmen zur Zerschlagung des jungen Arbeiter*innenstaates. Lenin und Trotzki betrachteten sie als rein vorübergehende Maßnahmen, die mit der Aufhebung der Belagerung Russlands und der internationalen Ausbreitung der Revolution aufgehoben werden sollten. Das stalinistische totalitäre Einparteienregime hatte seinen Ursprung nicht in der bolschewistischen Partei, der demokratischsten Arbeiter*innenpartei, die es je in der Geschichte gab, sondern in der kulturellen Rückständigkeit des Landes und seiner Isolation.

Oliver Cromwell war gezwungen, zur Verteidigung der englischen bürgerlichen Revolution zum Schwert zu greifen, um die feudale Konterrevolution niederzuhalten, und dabei diktatorische Befugnisse anzunehmen. So stark ist der Kapitalismus heute, so groß sind die materiellen Vorteile des Kapitalismus gegenüber dem Feudalismus für die Masse der Bevölkerung, dass die heutigen Befürworter*innen einer Rückkehr zu „Merrie England“ eher eine Quelle der „Heiterkeit“ als eine Gefahr für die Kapitalist*innen darstellen würden.

Die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus sind heute in der kolossalen Entwicklung der Produktivkräfte in der UdSSR vorhanden, insbesondere wenn sie Teil eines integrierten Weltplans wären. Ein sozialistisches Russland würde sogar die Existenz pro-bürgerlicher Parteien zulassen. Sie hätten keine Anziehungskraft, so groß wären die Vorteile einer Planwirtschaft in Verbindung mit der Arbeiter*innendemokratie. Würden die britischen Arbeiter*innen bei Betriebsrats- oder Gewerkschaftswahlen Kandidat*innen dulden, die nur in einer Partei sein dürfen? Genauso wenig unterstützt die russische Arbeiter*innenklasse solche undemokratischen, um nicht zu sagen totalitären, Maßnahmen. Selbst auf der Sonderkonferenz waren ein oder zwei vereinzelte Stimmen zu hören, die das Ende des „Monopols der Kommunistischen Partei“ forderten. Sobald sich die Arbeiter*innenklasse gegen die stalinistischen Regime wendet, wird unweigerlich die Forderung nach der Beendigung der „kommunistischen“ (sprich: stalinistischen) Parteikontrolle laut. Doch der „Morning Star“ unterstützt sklavisch das Monopol der stalinistischen Elite.

Marxism Today“

Wenig besser sieht es aus, wenn man sich den Zeitschriften der anderen „kommunistischen“ Strömungen zuwendet, die heute kaum mehr als sich zankende Sekten sind. Die „Eurokommunist*innen“ behaupten, einen großen Fortschritt gegenüber den Stalinist*innen darzustellen. In den Zeitschriften „Seven Days“ und „Marxism Today“ finden sich einige Kritiken am Stalinismus. Monty Johnstone, führender Theoretiker dieser Strömung, unterzog in „Marxism Today“ im November 1987 die UdSSR Gorbatschows einigen vernichtenden Kommentaren. Vielleicht in Vorwegnahme der lächerlichen Behauptung Ligatschows auf dem jüngsten Sonderparteitag, dass es keine Privilegien für die Bürokratie gebe, schreibt Johnstone: „Ein weiteres besorgniserregendes Thema ist die Beibehaltung von Sondergeschäften und anderen Privilegien der Nomenklatura, trotz der öffentlichen Kritik in den in der ,Prawda‘ vor der Konferenz veröffentlichten Briefen … Nachdem Moskau die Umstrukturierung in Kasachstan nach den Unruhen in Alma Ata durchgesetzt hatte, berichtete die Presse, dass Luxus-Datschen, die dort von Parteiführern auf Parteikosten gebaut worden waren, beschlagnahmt wurden, um Krankenhäuser, Kinderheime und Wohnheime mit Plätzen für 2.000 Personen zu schaffen. Es wurde auch bekannt, dass Hunderte von Mitarbeitern der Universität Alma Ata durch Blutsverwandtschaft oder Heirat verbunden waren. Die Existenz solcher Privilegien und Günstlingswirtschaft von denen niemand ernsthaft glaubt, dass sie ein spezifisch kasachisches Phänomen sind, wird zutiefst abgelehnt. Die meisten Menschen sahen jedoch nicht, was sie tun könnten, um dies in Kasachstan zu ändern, oder fühlten sich nicht in der Lage, etwas zu unternehmen, um es dort zu beenden, wo es anderswo noch existiert.“

Dann liefert Johnstone einen Schlüssel zum Verständnis, warum die Arbeiter*innenklasse sich nicht in der Lage fühlt, etwas zu tun, um Privilegien usw. zu beenden: „Bei den Kommunalwahlen … wurde das zunehmend kritisierte Verfahren, nur einen Kandidaten aufzustellen, in der großen Mehrheit der Sowjets beibehalten. Aber in etwa fünf Prozent der Räte gab auf ,experimenteller‘ Grundlage mehr Kandidaten als Abgeordnete zu wählen (930 Kandidaten für 740 Sitze), und einige führende lokale Funktionäre landeten auf den hinteren Plätzen. Ich habe jedoch keine Hinweise auf Wettbewerbe gesehen, bei denen den Wählern politische Alternativen vorgelegt wurden.“

„Seven Days“ und „Marxism Today“ sind voll von Ex-Stalinist*innen, die zweifellos ihrer früheren Idealisierung Stalins und seines Regimes aufrichtig abschwören. Aber nirgendwo in den Spalten der „populären“ Wochenzeitung „Seven Days“ oder in der eher „theoretischen“ „Marxism Today“ wird der Versuch unternommen, eine objektive Bilanz der historischen und objektiven Ursachen für den Aufstieg des Stalinismus zu ziehen. Dazu müsste man aus der reichen theoretischen Schatzkiste der Schriften Trotzkis zu diesem Thema schöpfen. Tatsächlich hoffen die „Eurokommunist*innen“ wie die überwältigende Mehrheit der linken Führung der britischen Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung inständig, dass Gorbatschow die UdSSR durch „stückweise Maßnahmen“ schrittweise „entbürokratisieren“ und demokratisieren kann. Sie schrecken voll Entsetzen vor der Vorstellung einer politischen Revolution durch die Massen der UdSSR und Osteuropas, um die bürokratische Elite zu stürzen, zurück. In der Tat findet sich in diesen Zeitschriften eine kaum verhüllte Verachtung für die unabhängige Initiative und Mobilisierung der Massen gegen die Bürokratie. So schreibt Monty Johnstone in „Marxism Today“: „Aufgrund der durch den Stalinismus verursachten Lähmung der unabhängigen Initiative der arbeitenden Menschen konnte der Wandel nur von oben eingeleitet werden. Wie in der Tschechoslowakei 1968, aber anders als in Polen 1980, musste dies von der Kommunistischen Partei kommen und wurde von einem neu gewählten Generalsekretär angeführt.“ Die „apathische und durch den Stalinismus gelähmte“ Arbeiter*innenklasse Russlands und der übrigen UdSSR muss also auf die Befreiung von oben durch einen „aufgeklärten“ Flügel der Bürokratie warten.

Johnstone und die übrigen „Eurokommunist*innen“ fungieren als politische Anwälte für diesen „liberalen“ Flügel der Bürokratie. Es ist kein Zufall, dass sie die Gestalt von Dubček als ihr ideales Modell für Russland beschworen haben: „Hätte Michail Gorbatschow 1970 auch nur eine seiner aktuellen Ideen über die Notwendigkeit von Reformen und Demokratisierung in der Tschechoslowakei vertreten, wäre er aus der KSČ (der tschechoslowakischen kommunistischen Partei) ausgeschlossen worden und würde heute irgendwo als Heizer oder Schiffsjunge arbeiten, ohne dass seine kommunistische Überzeugung oder seine Universitätsausbildung einen Unterschied gemacht hätten.“

Dubček

Doch Dubček vertrat den nationalen tschechoslowakischen Stalinismus, so wie Gomulka vor ihm die polnische Variante vertreten hatte. Es ging ihm keineswegs darum, die Grundlagen des Stalinismus in Frage zu stellen. Aber sein Versuch von „Reformen“ führte, wie heute in Russland, unweigerlich dazu, dass die Massen auf die politische Bühne kamen. Dies drohte ähnliche unabhängige Bewegungen der Massen in ganz Osteuropa und schließlich in der UdSSR selbst auszulösen. Dies war der Hintergrund für die Intervention russischer Panzer und für seine Absetzung im Jahr 1968. Dubček hat kürzlich erklärt, dass er glaube, dass Gorbatschow die Militärintervention 1968 in seinem Land niemals genehmigt hätte. Doch wie Neil Ascherson in der Zeitschrift „Marxism Today“ richtig feststellte: „Ich für meinen Teil werde noch einige Jahre abwarten, bevor ich mich in der Lage sehe, ihm zuzustimmen.“ Die Hoffnungen von Dubček und „Marxism Today“ erscheinen vor dem Hintergrund des jüngsten Truppeneinsatzes in Berg-Karabach gelinde gesagt etwas naiv!

Gorbatschow ist ein vollendeter und intelligenter Vertreter der Bürokratie. Seine „Reformen“ sind ein Versuch, dem System neues Leben einzuhauchen. Er steht nicht für die Abschaffung von Privilegien. Er hat lediglich die „illegalen“ Privilegien und die Korruption eines Teils der Bürokratie angegriffen. In der Tat ist er für noch größere „legitime“ Belohnungen und Privilegien für die Eliten. Die auf der Sonderkonferenz angenommene Resolution zur „Perestroika“ macht dies deutlich: „Wir müssen die Menschen viel stärker für das beste Endergebnis interessieren, um die Tendenzen zur Gleichmacherei völlig zu überwinden“. Eine Kluft trennt Gorbatschow und die, die er vertritt, von dem Ansatz Lenins, der auf klaren Einkommenshöchstunterschieden von nicht mehr als vier zu eins für Fachkräfte bestand.

Eines der wirklichen Anzeichen für den Übergang zum Sozialismus werden gerade die „gleichmacherischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft“ sein. Es ist wahr, dass auch ein demokratischer Arbeiter*innenstaat nicht in der Lage wäre, die Maxime „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ einzuführen. Dies wäre nur auf der Grundlage einer Gesellschaft des Überflusses, einer sozialistischen Gesellschaft, möglich. Aber der erste Akt eines demokratischen Arbeiter*innenstaates wäre die sofortige Beschneidung der Privilegien der Bürokratie. Anstelle der „Unterschiede“, bei denen die Kluft zwischen Bürokrat*innen und Arbeiter*innen genauso groß, wenn nicht sogar größer ist als im Kapitalismus, gäbe es eine Rückkehr zu Lenins klar definiertem maximalen Unterschied (der jetzt sogar weniger als vier zu eins sein könnte).

Ungleichheit

Monty Johnstone stimmt mit Gorbatschows Position überein. In seiner oben erwähnten Anprangerung der Nomenklatura stellt er die Einschränkung auf, dass dies „eine ganz andere Frage ist als die Erhöhung der Einkommensunterschiede, die jetzt zur Ankurbelung der Produktion gefördert wird“. Aus den in der russischen Presse erschienenen Berichten geht hervor, dass die Arbeiter*innenklasse, die laut Johnstone passiv und gleichgültig ist, nicht ganz mit ihm übereinstimmt. In der Tat zeigte die maßgebliche „Moscow News“ genau zu der Zeit des Parteitags, als Ligatschow das Gegenteil behauptete, dass die Kritik an den Privilegien der Bürokratie vulkanische Ausmaße hat. Sie enthüllte, dass sich jeder dritte Brief, den sie zum Parteitag erhielt, mit „sozialer Gerechtigkeit“ und dem Privilegiensystem befasste.

Obendrein waren bei einer Umfrage unter Moskauer*innen nur 44% der Meinung, dass ihr Land über ein weitgehend gerechtes System verfügt“. Nur 23% der Befragten waren der Meinung, dass die sowjetische Gesellschaft definitiv „gerecht“ ist. Dem Artikel zufolge waren die Gruppen, „die wegen unverdienter Vergünstigungen verurteilt wurden“, „in der Reihenfolge ihrer Strenge: Funktionäre des Kommunistischen Jugendverbandes, Gewerkschafter, Ministerial- und Abteilungsbürokraten, Mitarbeiter des Parteiapparats und Wirtschaftsmanager“. Die Liste der Privilegien, die von den Befragten als ungerecht verurteilt wurden, unabhängig davon, wer aus ihnen Nutzen zog, umfasste „den Bezug von Waren (einschließlich natürlich Lebensmittel) aus ‚geschlossenen‘ und anderen Geschäften und Kantinen, 84%; den kostenlosen Bezug von Büchern von einer ‚besonderen Abonnentenliste‘, den besonderen Zugang zu Theater- und Kinokarten, 80%; die Gewährung von Wohnungen und Wohnblocks mit ,besserem Grundriss und in besseren Vierteln‘, 67%; die Anmietung einer staatlichen Datscha oder der Bau einer eigenen Datscha in einer prestigeträchtigen, näher an der Stadt gelegenen Gegend, 65%; der Zugang zu Krankenhäusern, Kliniken und Sanatorien, die den führenden Persönlichkeiten vorbehalten sind, 60%; der besondere Zugang zu Bahn- und Flugtickets, 52%; und die Gewährung eines Autos, 44%.“

Die Unzufriedenheit der russischen Massen schlägt sich manchmal sogar auf den Seiten des „Morning Star“ nieder. So wurde am 17. Juni 1988 ein Brief eines Arbeiters an die „Prawda“ veröffentlicht: „Machen wir Schluss mit der Duldsamkeit und der Straffreiheit, die gewisse Führer genießen. Denn nach wie vor sieht man vor den Toren der Fleischfabrik, der Fischfarm und des Handelslagers Autos des Stadtkomitees (der Partei), des Exekutivkomitees der Stadt und anderer Beamter. Aber man trifft diese gewählten Vertreter nicht in den Warteschlangen.“ Kein Wunder, dass zum Zeitpunkt der Sonderkonferenz eine vom Institut für Soziologie der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften durchgeführte Umfrage unter 120 großen Industriebetrieben ergab, dass 73% der Meinung waren, dass „wir statt einer echten Perestroika nur viel Gerede haben“.

Weitere 33% gaben der lokalen Bürokratie die Schuld an der Verhinderung von Wirtschaftsreformen auf dieser Ebene. Selbst auf der Sonderkonferenz beklagten sich die ein oder zwei Arbeiter*innendelegierten, die es bis auf die Tribüne geschafft hatten, über den Mangel an Lebensmitteln in den Geschäften trotz „Perestroika“. Wie bereits erwähnt, wurde Gorbatschow bei seinem jüngsten Besuch in Sibirien angegriffen, als die Arbeiter*innen bei einem seiner Rundgänge offen die Wirksamkeit der „Perestroika“ in Frage stellten, was sowohl die brodelnde Unzufriedenheit als auch den völligen Verlust der Furcht vor der stalinistischen Bürokratie seitens der neuen Arbeiter*innengeneration offenbart. Stalins offene Terrormethoden wären in der veränderten und explosiven Atmosphäre, die jetzt in der UdSSR herrscht, nicht durchführbar.

Doch ungeachtet der naiven Hoffnungen von „Marxism Today“ wird die bürokratische Elite die Bühne der Geschichte nicht freiwillig verlassen. Wie Gorbatschow selbst betrachten die „Eurokommunisten“, ganz zu schweigen von den stalinistischen Elementen um den „Morning Star“, die Bürokratie lediglich als „Papierkrieg“ und „Ineffizienz“. Aber die Bürokratie ist eine privilegierte Kaste, die mit allen möglichen Waffen um ihre Stellung in der Gesellschaft kämpfen wird. Es ist wahr, dass sie sich als Wucherung der Gesellschaft empfindet. Die Krise ihres Regimes spiegelt sich zweifelsohne in den offenen Spaltungen in den Reihen der Bürokratie wider, die wir anderswo Stelle kommentiert haben. (Siehe Militant, 20. Mai 1988) Aber wie Trotzki betonte: „Kein Teufel schneidet sich freiwillig seine eigenen Krallen ab“. Die Bürokratie kann nicht ohne eine politische Revolution entfernt werden.

„Das wird Gewalt bedeuten“, werden die Anhänger des „Morning Star“ zweifellos kreischen. Im Gegenteil könnte mit einer weitsichtigen und klaren Führung die politische Revolution friedlich, oder relativ friedlich, durchgeführt werden. In Polen bewegten sich 1980/81 die Massen in Richtung politische Revolution. Alle Elemente eines Programms zum Sturz der Bürokratie waren in der Bewegung um Solidarność enthalten. Die Massen improvisierten das Äquivalent von Sowjets, es gab Forderungen nach der Abschaffung der Privilegien der Bürokratie, und anfangs durfte kein Mitglied der „kommunistischen“ Partei in den Arbeiter*innenräten sitzen. Die polnischen Arbeiter*innen improvisierten in der Tat alle Elemente des Programms, das Trotzki für den Beginn der politischen Revolution aufgestellt hatte. Das umfasste auch die Losung „Die Bürokratie muss aus den Sowjets vertrieben werden“. Sie waren sogar noch einen Schritt weiter gegangen und forderten das Ende der Einparteienherrschaft.

Roy Medwedew

Der Schrecken der „Eurokommunisten“ vor der Aussicht auf eine politische Revolution führt dazu, dass sie sich an den Rockzipfel einer Gestalt wie Gorbatschow als eine Art „Befreier von oben“ klammern. Und wie das Interview mit Roy Medwedew in der August-Ausgabe 1988 von „Marxism Today“ zeigt, enden sie sogar rechts von einem Teil der „liberalen“ Bürokratie.

Monty Johnstone interviewt Medwedew und stimmt vermutlich mit seinen Ansichten überein, denn es gibt nicht den Hauch einer Kritik an Medwedews Äußerungen, während der die verschiedenen Flügel der Bürokratie mühsam seziert, um die Unterstützung für Gorbatschow zu rechtfertigen. Er verortet Ligatschow nicht im „konservativsten“ Flügel der Bürokratie.

Er charakterisiert die Ligatschow-Gruppe als „größtenteils ehrliche Kommunisten und Sowjetmenschen, die sich aber an die alten Arbeitsweisen gewöhnt haben … diese Gruppe umfasst die Mehrheit der regionalen und städtischen Parteisekretäre, die Mehrheit des Apparats“. Medwedew räumt ein, dass Ligatschow „‚die stärkste Gruppe in unserer Partei‘“ darstellt.

Er gibt sogar zu, dass „Ligatschow Gorbatschow gewarnt hat, und es war eine unmissverständliche Warnung: ‚Ohne uns wären Sie nicht Generalsekretär der Partei geworden‘ – das heißt, ohne die Stimmen der Politbüromitglieder Tschebrikow, Gromyko, Solomenzew im März 1985.“ Und doch führt seine Unterstützung für Gorbatschow dazu, dass er „ein Bündnis zwischen Ligatschow und Gorbatschow“ befürwortet, während er Jelzin angreift. Letzterem wirft er „Avantgardismus in der Partei“ vor. „Er vertritt keine Tendenz als solche, sondern nur einige Personen. Er will die Perestroika schneller, energischer vorantreiben, aber das ist nicht realistisch.“

In einer Erklärung, die rechtsreformistischen Führer*innen der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung in diesem Land würdig wäre, erklärt Medwedew: „Jelzin sagt vieles, was Gorbatschow am Anfang gesagt hat, aber es gibt jetzt sehr wenig Unterstützung dafür. Jelzins politischer Zusammenbruch ist darauf zurückzuführen, dass er nicht verstanden hat, dass ein zu schnelles Vorgehen eher zum Ende der Perestroika als zu ihrem Erfolg führen wird. Unter unseren Bedingungen ist es möglich, dass die Perestroika recht schnell vorankommt, aber nicht in Sprüngen. Politik ist die Kunst des Möglichen.“ „Eile mit Weile“ ist also die Philosophie Medwedews, der eindeutig ein Apologet des „liberalen“ Flügels der Bürokratie ist, wie die Militant International Review richtig feststellte. (Siehe den Artikel über Medwedews Buch „On Socialist Democracy“ in MIR Nr. 19, Frühjahr 1980).

Jelzin hat zumindest die enorme Unzufriedenheit der Arbeiter*innenklasse, insbesondere der Moskauer Arbeiter*innenklasse, aufgegriffen. Medwedew und seine britischen Kollegen im „eurokommunistischen“ Flügel der KP stellten sich mit einer solchen Position entschieden gegen eine unabhängige Bewegung der Arbeiter*innenklasse. Würden Johnstone und Co. in die stalinistischen Staaten versetzt, würden sie bestenfalls die gleiche unheilvolle Rolle spielen, die die Unterstützer*innen des KOR, die Jacek Kuroń und Adam Michnik, bei den polnischen Ereignissen von 1980/81 spielten. Sie wirkten als massive Bremse für die Bewegung der Massen. Gegenwärtig raten sie den polnischen Arbeiter*innen, sich „abzukühlen“, aus Angst, Jaruzelski zu provozieren. Sie hoffen auf eine polnische Version des „Gorbatschowismus“, um die polnische Gesellschaft aus der Katastrophe zu befreien, zu der die stalinistische Misswirtschaft geführt hat.

Ähnliche soziale Typen standen an der Spitze der jüngsten Bewegungen in Armenien. Nach den Verhandlungen mit Gorbatschow spielten sie die Rolle eines Feuerwehrschlauches für die armenische Bewegung. Dennoch ist das stalinistische Regime nicht in der Lage, Lösungen für die explosive nationale Frage in der gesamten UdSSR zu finden.

Trotz der Versprechungen Gorbatschows ist die Bürokratie nicht in der Lage, die legitimen nationalen Forderungen des Volkes von Berg-Karabach zu erfüllen. Selbst die Andeutung von Zugeständnissen an die Armenier*innen hat die nationale Bewegung in den baltischen Staaten verstärkt.

Berg-Karabach

Die zentrale Moskauer Bürokratie hat den Völkern von Berg-Karabach das Selbstbestimmungsrecht mit den vereinbarten garantierten Rechten für die aserbaidschanische Minderheit verweigert und damit sogar ihre eigene Verfassung verletzt. Zwar heißt es in der Resolution über die „Interethnischen Beziehungen“ der jüngsten Konferenz: „Eine der zentralen Aufgaben besteht darin, die Voraussetzungen für eine größere Unabhängigkeit der Regionen zu schaffen und die Zusammenarbeit voranzutreiben, bei der jede Republik an der Verbesserung der Ergebnisse ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit als Grundlage für ihr eigenes Wohlergehen und für den gemeinsamen Wohlstand und die Macht des Sowjetstaates beteiligt sein sollte.“

Und doch werden genau diese Rechte dem Volk von Berg-Karabach verweigert. Trotz der Forderung nach einer „multinationalen Gesellschaft“, in der die legitimen nationalen Rechte in vollem Umfang berücksichtigt werden, übt die zentrale Moskauer Bürokratie weiterhin einen eisernen Griff aus.

Der liberale Flügel der Bürokratie wie Roy Medwedew und ihre Unterstützer in „Marxism Today“, stellen sich in der UdSSR eine Lage vor, die der bürgerlichen Demokratie im Westen ähnelt. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Die Kapitalist*innen können von einer Militärdiktatur zur Demokratie und wieder zurück wechseln. Sie können unter bestimmten historischen Bedingungen demokratische Rechte für die Arbeiter*innenklasse tolerieren.

In der Tat ist die bürgerliche Demokratie für sie die billigste Herrschaftsform. Die Kapitalist*innen haben ihre Wurzeln in der bürgerlichen Gesellschaft, sie sind ihre „Treuhänder“, worauf Marx hinwies. Sie spielen eine Rolle bei der Entwicklung der Industrie. Dort, wo die Arbeiter*innenklasse demokratische Rechte hat und zu Streiks greift, fordert sie im Allgemeinen nicht sofort die Entfernung der Kapitalist*innen.

Aber die Lage ist in den stalinistischen Staaten völlig anders. Sobald die Arbeiter*innenklasse ihre eigenen Organisationen hat, die Freiheit hat, Kritik zu üben usw., d.h. „Demokratie“, wird die Existenz der Bürokratie in Frage gestellt. In Polen gab es die unmittelbare Forderung nach Abschaffung aller Privilegien der Bürokratie. Daher ist eine irgendwie längere Periode, in der das Proletariat seine eigenen Organisationen und Rechte hat, unter dem Stalinismus unmöglich. Es kann Perioden der Doppelherrschaft geben, wie es sie 14 Monate lang in Polen gab, aber wenn die politische Revolution nicht durchgesetzt wird, wird eine bürokratische Konterrevolution triumphieren.

Es ist möglich, dass gewisse Verbesserungen durch Dezentralisierung gemacht werden können, obwohl das jüngste wirtschaftliche Abschneiden düster ist. Ein gewisser „Kredit“ wird von den russischen Massen noch gewährt werden, um zu sehen, ob „Perestroika“ und „Glasnost“ zu materiellen Vorteilen für sie führen werden. Aber schließlich wird die Masse der Arbeiter*innenklasse begreifen, dass sie selbst die einzige Kraft ist, die die russische Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage erneuern kann.

Die Linke der britischen Arbeiter*innenbewegung und insbesondere die Überreste der „Kommunistischen“ Partei kritisieren zwar diesen oder jenen Aspekt des Stalinismus, sind aber unfähig, ihre Analyse zu Ende zu führen. Dies würde sie zu den unsterblichen Werken Leo Trotzkis und dem von ihm ausgearbeiteten Programm für die politische Revolution zurückführen. Gestützt auf die vier Punkte Lenins hat Trotzki in seinem monumentalen Werk „Verratene Revolution“ die modernste Analyse der sich gegenwärtig entfaltenden Ereignisse in der UdSSR vorgelegt und ein alternatives Programm entworfen.

Es ist wahr, dass sogar in der UdSSR Trotzki, die „Unperson“, wieder Gegenstand von Diskussionen in der Presse ist. Einige seiner Bücher wurden anscheinend in den russischen öffentlichen Bibliotheken wieder zugänglich gemacht. Es bleibt abzuwarten, wie weit dieser Prozess gehen wird. Aber die Bürokratie, einschließlich der Liberalsten des „liberalen“ Flügels, kann es zwar nicht mehr vermeiden, Trotzki zu erwähnen, tut dies aber in einer Weise, die völlig entstellt, wofür er stand.

Trotzki

Ein solcher Artikel erschien im September in der Prawda. Er trug den Titel „Dämon der Revolution“ und war eine weitgehend feindselige und verlogene Darstellung von Trotzkis Bilanz. Doch laut The Independent erkannte er „Trotzkis Voraussicht klar an“. Er zitiert sogar seinen Kommentar zum Faschismus von 1938: „Der Faschismus eilt von Sieg zu Sieg und findet seine größte Unterstützung im Stalinismus. Schreckliche kriegerische Bedrohungen klopfen an die Tür der Sowjetunion und Stalin wählt diesen Moment, um der Armee schrecklichen Schaden zuzufügen (dies war die Zeit der schlimmsten militärischen Säuberungen – PT). Es wird eine Zeit kommen, in der die Geschichte über ihn urteilen wird.“ Selbst die meineidige Darstellung der Prawda von Trotzkis Rolle muss zugeben: „Man muss Trotzki Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er ist nicht, wie viele andere, unter Stalins Diktatur zusammengebrochen“.

Der Artikel scheint auch ein Fortschritt gegenüber früheren Erklärungen über die Art und Weise seines Todes zu sein: „Vor einigen Monaten hieß es in einem Artikel, er sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen“. Nun aber berichtet der Autor des Prawda-Artikels „ausdrücklich, wie ein Agent der GPU (des Vorläufers des KGB) dem Revolutionär 1940 in seinem Haus in Mexiko-Stadt einen Eispickel in den Kopf stieß“. „The Independent“, 10. September 1988. Aber selbst wenn Trotzkis Schriften, oder zumindest einige von ihnen, veröffentlicht würden, würde die literarische Mafia, die der Bürokratie zur Verfügung steht, eingesetzt werden, um seine Lehren völlig zu entstellen und zu untergraben.

Die Art von Verleumdungen, die von den neuen „Roten Professoren“ gegen Trotzki gerichtet werden, tauchten in einem „Dialog“ zwischen führenden „Kommunisten“ in der Septemberausgabe der „World Marxist Review“ auf. Ramirez von der mexikanischen KP, der die Rehabilitierung Bucharins befürwortet, erklärte auch: „Ich denke, dass dasselbe in Bezug auf Leo Trotzki getan werden sollte, der nie ein ,faschistischer Agent‘ oder ein ,imperialistischer Söldner‘ war. Wir können seine Ansichten akzeptieren oder ablehnen, aber wir können nicht leugnen, dass Trotzki ein Führer der bolschewistischen Partei, Chef des Petrograder Sowjets und der Mann war, der die Rote Armee befehligte. Ich glaube, es wird versucht, seine historische Rolle angemessen neu zu bewerten, aber man sollte schneller vorankommen, um Trotzki politisch zu rehabilitieren … Trotzki wurde politisch verleumdet und dann umgebracht.“

Doch als Antwort erklärte Krasin, Rektor des „Sozialwissenschaftlichen Instituts beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“, unverblümt: „Natürlich müssen die Historiker seine Rolle in der Oktoberrevolution angemessen rekonstruieren. Aber ich glaube nicht, dass dies eine politische Rehabilitierung Trotzkis bedeuten wird. Schließlich sahen die von ihm vertretenen Konzepte in der UdSSR die Einführung dessen vor, was wir heute ein System der Verwaltung durch Kommando nennen. Mit anderen Worten, so paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag, es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen Trotzkismus und Stalinismus; beide stützten sich bei der Führung des Landes ausschließlich auf Zwang und eine Verwaltung auf Kommando. Ich glaube nicht, dass man dies als eine positive Haltung bezeichnen kann, denn eine politische Rehabilitierung erfordert genau dies.“*

Unfähig, die große historische Rolle Trotzkis vollständig zu leugnen, wollen sie der neuen Generation in der UdSSR Staub in die Augen streuen. Dennoch werden die Besten der russischen Arbeiter*innenklasse, vor allem die Jugend, den Weg zu Trotzkis Schriften finden, die ihnen die theoretischen Waffen liefern, die sie in die Lage versetzen werden, eine neue sozialistische Zukunft zu gestalten.

Sogar der „Morning Star“ sah sich gezwungen, die Rehabilitierung der von Stalin ermordeten Altbolschewiki zu kommentieren, wenn auch auf knickrige und verspätete Weise. So räumt der „Morning Star“ am 11. Juli 1988 in einem auf der letzten Seite unten versteckten Artikel ein: „UdSSR rehabilitiert Bucharin und Rykow“. Es wurde sogar die Möglichkeit einer Rehabilitierung Trotzkis erwähnt. Aber es gibt absolut keine Erklärung für die Kommentare des Vorläufers des „Morning Star“, des Daily Worker, zur Zeit der berüchtigten Säuberungsprozesse, in denen die Frage gestellt wurde: „Wo ist die Schande bei der Aufdeckung und Bestrafung eines konterrevolutionären Komplotts, das von Trotzki und den Nazis angezettelt wurde“, „Daily Worker“, 31. August 1936. J.R. Campbell, der berüchtigte Anwalt des Stalinismus, kommentierte in der gleichen Ausgabe des Daily Worker: „Stalins Entschlossenheit und die Fairness der Parteimehrheit, die ihn unterstützte, haben nicht nur die Revolution gerettet; sie haben die Revolution auf ein unangreifbares sozialistisches Fundament gestellt. Die Völker der Sowjetunion haben beim Anblick ihres umgestalteten Landes allen Grund, sich über die Führung Stalins zu freuen … Warum war es notwendig, Trotzki zu diskreditieren? Nie war er politisch so isoliert und diskreditiert wie heute.“ Zweiundfünfzig Jahre später erinnern sich nur wenige an den Autor dieser Zeilen, aber an Trotzki erinnert man sich. Für die Arbeiter*innenklasse und insbesondere für die Jugend ist er eine überragende Persönlichkeit, deren Werke zur Umgestaltung der Gesellschaft herangezogen werden.

Wenn die Anhänger*innen des „Morning Star“ wirklich versuchen würden, eine Bilanz des Stalinismus zu ziehen, würden sie ihre eigene schändliche Vergangenheit schonungslos durchleuchten, was wiederum die Analyse Trotzkis und der Trotzkist*innen als völlig zutreffend für den Lauf der Dinge entlarven würde. Nur auf den Seiten des Militant und der MIR können die gewissenhaftesten und politisch bewusstesten Arbeiter*innen eine Erklärung für die turbulenten Ereignisse finden, die sich in Osteuropa und der UdSSR entwickeln. Die meisten Linken stecken entweder in einer historischen Sackgasse fest oder haben mit ihrer traditionellen Vernachlässigung der Theorie jeden Versuch aufgegeben, die Prozesse zu erklären, die sich gegenwärtig in der UdSSR und in Osteuropa abspielen.

* Aus Platzgründen können wir an dieser Stelle nicht auf diese Verleumdungen des neuen „roten Professors“ antworten. Wir werden jedoch in einer der nächsten Ausgaben ausführlich darauf antworten. In der Zwischenzeit verweisen wir die Leser*innen auf das Buch Lenin and Trotsky: What They Really Stood For, von Alan Woods und Ted Grant.


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