Leo Trotzki: Über die Thesen „Die Einheit und die Jugend“

[Sommer 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes in Œuvres 4, S. 192-197, verglichen mit der englischen Übersetzung)

Der Zweck dieses Textes ist es, die Losung der organischen Einheit zu korrigieren, die nicht unsere Losung ist. Die Formel der organischen Einheit – ohne Programm, ohne Konkretisierung – ist eine Leerformel. Und da die Natur die Leere verabscheut, füllt sich diese Formel mit einem zunehmend zweideutigen, ja sogar reaktionären Inhalt. Alle Führer der Sozialistischen Partei, von Just über Marceau Pivert bis hin zu Frossard, erklärten sich zu Anhängern der organischen Einheit. Der glühendste Protagonist dieser Parole ist Lebas, dessen antirevolutionäre Tendenzen ziemlich bekannt sind. Die Führer der Kommunistischen Partei manipulieren dieselbe Parole immer bereitwilliger. Haben wir ihnen zu helfen, die Arbeiter mit dieser attraktiven und hohlen Formel zu unterhalten?

Der Austausch offener Briefe der beiden Führungen über das Aktionsprogramm ist der vielversprechende Beginn einer Diskussion über die Ziele und Methoden der Arbeiterpartei. Dort müssen wir energisch eingreifen. Einheit und Spaltung sind zwei Methoden, die dem Programm und den politischen Aufgaben untergeordnet sind.

Da die Diskussion glücklicherweise begonnen hat, müssen wir mit Takt die illusorischen Hoffnungen auf die organische Einheit als Allheilmittel zerstören. Unsere These ist, dass die Einheit der Arbeiterklasse nur auf einer revolutionären Basis erreicht werden kann. Diese Basis ist unser eigenes Programm.

Wenn die Fusion zwischen den beiden Parteien morgen verwirklicht wird, werden wir uns auf den Boden der vereinigten Partei stellen, um unsere Arbeit fortzusetzen. In diesem Fall kann die Fusion einen progressiven Sinn haben. Wenn wir aber weiterhin die Illusion säen, dass die organische Einheit als solche einen Wert hat – und so verstehen die Massen diese Losung und nicht als ein größeres und leichter zugängliches Publikum für leninistische Agitatoren -, werden wir nichts anderes tun, als den beiden verbündeten Bürokratien ihre Aufgabe zu erleichtern, uns Bolschewiki-Leninisten den Massen als das große Hindernis auf dem Weg zur organischen Einheit darzustellen. Unter diesen Umständen könnte die Einheit durchaus auf unserem Rücken zustande kommen und zu einem reaktionären Faktor werden. Man sollte niemals mit Losungen spielen, die ihrem eigentlichen Inhalt nach nicht revolutionär sind, sondern je nach politischer Konjunktur, Kräfteverhältnis usw. eine ganz verschiedene Rolle spielen können. Wir haben keine Angst vor der organischen Einheit. Wir sagen offen, dass der Zusammenschluss eine fortschrittliche Rolle spielen kann. Aber unsere eigene Rolle besteht darin, den Massen die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen diese Rolle authentisch fortschrittlich sein wird. Kurzum, wir stellen uns nicht gegen die Strömung für die organische Einheit, die die Bürokratien bereits für sich vereinnahmt haben. Aber während wir uns auf diese ehrliche Strömung in den Massen stützen, bringen wir eine kritische Note, das Abgrenzungskriterium, programmatische Definitionen usw. in diese Strömung ein.

„Nichts wäre gefährlicher“, heißt es in den Thesen der Genossen Craipeau und Kamoun, „als sich allein von dieser Perspektive hypnotisieren zu lassen und jede Arbeit als nutzlos zu betrachten, solange die Einheit nicht erreicht ist.“ Das ist richtig, aber nicht ausreichend. Man muss klar verstehen, dass diese Perspektive der organischen Einheit, die von den revolutionären Aufgaben abgeschnitten ist, nur dazu dienen kann, Arbeiter zu hypnotisieren, indem sie sich auf die Seite der Passivität der beiden Parteien schlagen.

Um den sterilisierenden hypnotischen Charakter der Losung von der organischen Einheit zu vermeiden, schlagen die Thesen „ein Minimum an elementaren marxistischen Prinzipien als Charta dieser Einheit“ vor. Die Formel ist fast klassisch für den Beginn des Abrutschens auf der schiefen Ebene zur opportunistischen Degeneration. Man beginnt, indem man die marxistischen Prinzipien für die empfindlichen Mägen von Sozialdemokraten und Stalinisten dosiert. Wenn es nur darum geht, unsere Zuhörerschaft zu vergrößern und uns einen Zugang zu den kommunistischen Arbeitern zu eröffnen, warum dann Bedingungen in Form von „elementaren Prinzipien“ (sehr elementar, leider!) stellen? Und wenn es um mehr geht, nämlich um die Partei und das Proletariat, wie kann dann ein Minimum an Grundsätzen, und noch dazu an „elementaren Grundsätzen“, ausreichen?

Gleich danach erklären die Thesen, man müsse den Arbeitern erklären, „dass es keine echte revolutionäre Einheit geben kann“ außer derjenigen, die die marxistische Partei zu einer kohärenten und disziplinierten Organisation macht. Wirklich, wirklich?

Wir wissen nicht, ob die nächste Etappe ein Versuch der Verschmelzung oder, im Gegenteil, eine Reihe neuer Spaltungen in beiden Parteien sein wird. Wir begeben uns nicht auf den Weg abstrakter Formeln.

Seit dem 6. Februar hat „La Vérité“ ihre Zeit damit verbracht, die Formel der Einheitsfront zu wiederholen (die zudem damals inhaltlich viel reicher war als die Formel der organischen Einheit heute). Wir haben Naville kritisiert, weil er den revolutionären Inhalt der Einheitsfront nicht konkretisierte und es so den beiden Bürokratien ermöglichte, diese Losung ohne großes Risiko zu übernehmen. Diesen Fehler dürfen wir unter ernsteren Umständen nicht wiederholen.

Was ist mit der Jugend? Hier gilt das Gleiche. Es gibt keine zwei Politiken: die eine für die Jugend und die andere für die Erwachsenen. So weit die Jugend Politik betreibt – und das ist ihre Pflicht – muss ihre Politik erwachsen sein.1 Es gibt zu viele Faktoren, die die revolutionäre und unerfahrene Jugend zu den Stalinisten treiben. Die Einheitsformel erleichtert diese Tendenz und erhöht die Gefahren. Unsere Waffe, die sich mit den höchsten Interessen der proletarischen Avantgarde deckt, ist der Inhalt der Einheit. Während wir uns auf die Strömungen zur Einheit stützen, entwickeln wir die Diskussion weiter, vertiefen sie, gruppieren die besten Leute beider Seiten um das „Maximum“ unserer gar nicht „elementaren“ Prinzipien, stärken unsere Tendenz. Und dann, was auch immer geschieht, wird die revolutionäre Avantgarde sowohl von der Fusion als auch von der Spaltung profitieren.

Schauen wir uns die Thesen an: „Die Vereinigte Jugend kann nicht auf leninistischen Prinzipien basieren.“ Wer behauptet das? Die Reformisten? Die Stalinisten? Nein, es sind die Leninisten von einer großzügigen Spezies selbst. Jeder Werktätige, der nachdenkt und die Dinge in ihrer Gesamtheit betrachtet, wird antworten: „Wenn eure Prinzipien nicht gut sind, um die revolutionäre Einheit herzustellen, dann sind sie zu nichts gut.“ „Wir werden“, fahren unsere großzügigen Leninisten fort, „in einigen Punkten zurückweichen, wenn eine Einigung anders nicht möglich ist.“ Warum genau sollten die Leninisten bei einigen ihrer Prinzipien, von denen sie ohnehin nur ein Minimum haben, einen Rückzieher machen müssen? Das ist völlig unverständlich.

Man wird uns sagen: „Aber wir sind doch noch eine kleine Minderheit!“. Na gut. Dann werden die beiden Mehrheiten – oder vielmehr die beiden Bürokratien, die sich auf die beiden Mehrheiten stützen – die Fusion durchführen – oder nicht durchführen – unabhängig davon, ob wir einen Rückzieher gemacht haben oder nicht. Sie brauchen dies nicht, da sie die Mehrheit sind. Die Verfasser dieser Texte treten nicht als Propagandisten des Leninismus auf, sondern als Wohltäter der Menschheit. Sie wollen die Reformisten mit den Stalinisten versöhnen, sogar auf ihre eigenen Kosten. Schlimmer noch, sie sagen es schon im Voraus, bevor die Lage sie dazu zwingt. Sie kapitulieren im Voraus. Sie blasen aus platonischer Großzügigkeit zum Rückzug. Diese ganze widersprüchliche Argumentation, in der sich die Autoren gleichzeitig als Vertreter einer kleinen Minderheit und als Generalinspektoren der Geschichte fühlen, ist das unglückliche Ergebnis der Falle, die sie sich selbst gestellt haben mit der Parole der organischen Einheit, die von jedem Inhalt abgeschnitten oder mit einem „minimalen“ Inhalt aufgeladen wurde.

Die Autoren dieser Thesen verpflichten sich sogar, für den Fall, dass die Sozialisten die Sowjet-Form der Macht nicht akzeptieren wollen, bei den Stalinisten zu intervenieren (in einem solchen Fall sind die Leninisten die logischsten Vermittler!), um sie davon zu überzeugen, diese Losung, die die Leninisten selbst für richtig halten, zurückzuziehen. Ist das nicht absurd, liebe Genossen? Wenn Sie vor den Sozialisten die Losung der Sowjets (mit Ihrer2 Interpretation) verteidigen, können Sie einen Teil der Sozialisten und die Sympathie eines Teils der Stalinisten gewinnen. Gleichzeitig bleibt sie sich selbst treu, während Sie Ihre Zukunft sichern. Aber das reicht Ihnen nicht, denn Sie sind die Vermittler der Einheit. Wenn diese Einheit dank Ihrer vermittelnden Intervention zustande kommt, werden die Stalinisten Sie als Verräter bezeichnen3 – und diesmal nicht ohne Grund -, während die revolutionären Sozialisten auf dem stalinistischen Weg nach links gehen werden. Niemand wird Sie freundlich behandeln. Das ist das Schicksal aller politischen Makler.

Ich möchte die Aufmerksamkeit der Genossen auf Absatz 2 lenken, in dem von der Notwendigkeit die Rede ist, die revolutionäre Partei „über den zahllosen Hindernissen, die durch die Trümmer der Dritten Internationale und die von der Sowjetunion noch ausgeübte Anziehungskraft geschaffen wurden“, aufzubauen. Diese Formulierung muss als kriminell charakterisiert werden. Die „noch ausgeübte“ Anziehungskraft der Sowjetunion wird als Hindernis für die Schaffung einer revolutionären Partei behandelt. Worin besteht diese Anziehungskraft für die breiten Massen, die keine Zuschüsse von der Bürokratie, keine Freifahrten zu Jubiläumsfeiern oder die wohlbekannte Macht einiger „Freunde der UdSSR“ erhalten? Die Massen sagen sich: „Das ist der einzige Staat, der aus einer Arbeiterrevolution hervorgegangen ist“. Dieses Gefühl ist zutiefst revolutionär. Es wird nun dank der faschistischen Gefahr erheblich verstärkt. Diese Verbundenheit mit der proletarischen Revolution und ihren Folgen als Hindernis zu betrachten, ist kriminell gegenüber der Sowjetunion wie auch gegenüber den Arbeitern im Westen.

Man kann einwenden: „Es handelt sich nur um einen unglücklichen Ausdruck: Die Autoren wollten über das – verhängnisvolle – Ergebnis der Prägung eines Teils des Weltproletariats durch die Sowjetbürokratie sprechen.“ Wenn es sich nur um eine unglücklich gewählte Formulierung handeln würde, wäre es nicht der Mühe wert, darüber zu diskutieren. Leider ist dies nicht der Fall. In den Reihen der Jugend, insbesondere der nichtproletarischen, schwelgt man in billigem Radikalismus, indem man oft Zweifel am proletarischen Charakter des Sowjetstaates sät und die KI mit der Sowjetbürokratie und vor allem letztere mit dem gesamten Arbeiterstaat identifiziert. Dieser Fehler ist zehnmal schlimmer als beispielsweise Jouhaux mit den Gewerkschaftsorganisationen oder Blum mit der gesamten SFIO zu identifizieren. Wer keine klare und eindeutige Meinung zu dieser grundlegenden Frage hat, hat kein Recht, sich an die Arbeiter zu wenden, weil er nur Verwirrung und Skepsis stiften und junge Arbeiter zum Stalinismus zurücktreiben kann.

Woher kommen diese künstlichen und sogar zweideutigen Konstruktionen? Sie rühren von der schlechten sozialen Zusammensetzung der Sozialistischen Jugend her. Zu viele Studenten. Zu wenige Arbeiter. Die Studenten beschäftigen sich zu sehr mit sich selbst, zu wenig mit der Arbeiterbewegung. Eine Arbeiterumgebung diszipliniert einen jungen Intellektuellen. Der Arbeiter will die grundlegenden und soliden Dinge lernen. Er verlangt klare Antworten. Er mag keine irreführenden Gedankenspiele.

Die Rettung für den Seine-Bezirk liegt in der Mobilisierung der Studenten für die harte Arbeit der Rekrutierung von Arbeitern. Wer sich dieser Aufgabe nicht widmen will, hat in einer sozialistischen Organisation nichts zu erwarten. Die proletarische Organisation braucht Intellektuelle, aber nur als Hilfskräfte für den Aufstieg der arbeitenden Massen. Auf der anderen Seite haben aufrichtig revolutionäre und sozialistische Intellektuelle viel von den Arbeitern zu lernen. Man muss das innere Regime der Jugend an diese Aufgabe anpassen; man muss eine Arbeitsteilung organisieren; den Studenten oder Studentengruppen in den Arbeitervierteln bestimmte Aufgaben zuweisen usw. Ideologische Schwankungen werden umso seltener auftreten, je solider die proletarische Basis der Organisation wird.

1 Der Satz fehlt in der französischen Fassung.

2 In der englischen Fassung: „unserer“

3 In der englischen Fassung: „behandeln“


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert