Leo Trotzki: Staat und Volkswirtschaft

[„Bor’ba“ Nr. 2, 2./15. März 1914. Eigene Übersetzung nach dem Nachdruck in Политическая хроника [{Polititscheskaja Chronika}]

I. Notwendiges und Mehrprodukt

Die menschliche Gesellschaft lebt nicht von Gebeten, sondern von der Arbeit. Der Staat erwächst aus der Gesellschaft und ernährt sich von ihrem Saft. Ohne die ununterbrochene Arbeit der Volksmassen könnten weder die besitzenden Klassen noch die staatliche Organisation auch nur einen Tag lang bestehen.

Die materiellen Güter, die durch menschliche Arbeit geschaffen werden, werden in jeder Klassengesellschaft in zwei Teile zerlegt: das notwendige und das Mehrprodukt. Die werktätigen Produzenten selbst, diejenigen, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts produzieren, haben immer nur einen Teil ihres eigenen Produkts in Händen gehalten: genau so viel, wie für ihre eigene Existenz und Reproduktion notwendig war. Alles, was darüber hinausgeht, stand und steht denen zur Verfügung, die herrschen und genießen, denen, die haben und denen, die befehlen, die in den verschiedenen historischen Epochen unterschiedlich aussahen: Priester und Krieger, Mönche und Feudalherren, Armee und Bürokratie, Monarchie und Bourgeoisie. Ob Sklaverei herrschte, ob Leibeigene Fronarbeit leisteten oder ob sich „freie“ Proletarier nach Musterung in Fabriken versammelten, die besitzenden Klassen lebten in all diesen Epochen auf Rechnung des Mehrprodukts der Volksarbeit. Der Sklave gab das gesamte Produkt seiner Arbeit direkt an seinen Herrn ab und ernährte sich von den Brosamen des Tisches seines Herrn. Der Leibeigene arbeitete einige Tage in der Woche für den Gutsherrn und erhielt nur den Rest seiner Arbeitszeit als Anteil. Der freie Arbeiter, der eine Woche lang für den Kapitalisten gearbeitet hat, erhält in Form von Lohn nur einen Teil des Wertes, den er selbst geschaffen hat; der Rest, der Mehrwert, bleibt in den Händen des Kapitalisten.

Die Kirche erhielt in allen Epochen ihren Anteil an der Volksarbeit, sei es in Form des Zehnten (ein Zehntel des Produkts) oder in Form von allen möglichen anderen Natural- und Geldabgaben, zwangsweisen und freiwilligen.

Die Staatsmacht ihrerseits mischt sich gebieterisch in den Wirtschaftsprozess ein, um sich von dessen Früchten den Löwenanteil zu sichern. Der Staat fängt einen Teil des Mehrprodukts von den besitzenden Klassen ab. Aber die Hauptmasse ihrer Einkünfte nimmt die Macht direkt an der Quelle – aus den Händen der Werktätigen selbst: früher in Form von Pflug-, Haushalts- und Kopfsteuern, später in Form von allen möglichen, vor allem indirekten Steuern. Vermittels der Rekrutierung nimmt der Staat nicht mehr die Produkte der Arbeit, sondern die lebenden Träger der Arbeitskraft – die männliche Jugend des Landes. Früher war die Bevölkerung verpflichtet, die „datotschny“ (Rekruten) mit kompletter Rüstung, Kleidung, Pferden und Proviant zu versorgen; später übernahm der Staat all dies und deckte die Kosten auf dem Wege der ununterbrochenen Erhöhung der Steuern.

Den Werktätigen bleibt nur noch das notwendige Produkt. Aber auch das ist nicht für sie abgesichert. Wie viel genau ein Sklave, Leibeigener oder Proletarier braucht, um nicht selbst zu sterben und um seine Kinder zu ernähren, wird nicht im Voraus von den besitzenden Klassen oder dem Staat berechnet, sondern praktisch, in der Lebenserfahrung selbst, bestimmt. Die Besitzenden, wie auch der Staatsfiskus (Staatskasse), drücken automatisch die Schraube der Ausbeutung so lange sie können. Zuerst nehmen sie das Mehrprodukt weg, dann reduzieren sie das notwendige Produkt, indem sie es mehr und mehr auf das physiologische Minimum reduzieren, d.h. auf die Grenze, über die hinaus es unmöglich ist, zu leben. Die Arbeitermassen müssen daraufhin ihren Gürtel so weit wie möglich enger schnallen. Schließlich wird auch das Minimum überschritten. Dann gerät die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht. Die Werktätigen beginnen an Hunger und Seuchen zu sterben, fliehen an neue Orte, in Wälder und freie Steppen, emigrieren in fremde Länder oder fangen an, Ärger zu machen, werden ungehorsam gegenüber Grundherren und staatlichen Behörden; die Arbeiter zerstören Fabriken, legen Feuer, töten; dann, überzeugt von der Sinnlosigkeit solcher Aktionen, schließen sie sich zusammen, um einen systematischen Kampf um ihren Anteil am von ihnen geschaffenen Einkommen der Gesellschaft zu führen. So, auf dem Weg des Drucks von oben und des Widerstands von unten wird das bewegliche Gleichgewicht zwischen dem Staat und den besitzenden Klassen auf der einen und den arbeitenden Massen auf der anderen Seite durch Druck von oben und Abstoßung von unten immer wieder ausgeglichen.

Aber nirgends in Europa ist der Anteil des Volkes am Produkt seiner eigenen Arbeit so jämmerlich, so beschnitten, so von allen Seiten aufgefressen wie bei uns in Russland. Das ist doch unsere Haupt- „Eigenständigkeit“!

II. Die unerträglich Last

Infolge einer ungünstigen Verbindung von geografischen und historischen Bedingungen vollzog sich die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Russlands bis in jüngste Zeit mit außerordentlicher Langsamkeit.

Die germanisch-romanischen Völker siedelten sich in der westlichen Hälfte Europas an, in einem milderen Klima und einer günstigeren geografischen Umgebung, die eine unvergleichlich dichtere Bevölkerung hervorbrachte. Letztere fanden an dem neuen Ort äußerst wertvolle Traditionen und materielle Überreste der alten römischen Kultur vor, die der kulturellen Entwicklung der neuen europäischen Völker sofort einen kräftigen Anstoß gaben.

Kein kulturelles Erbe erhielt das russische Volk. Es hat sich in einer dünnen Schicht auf der riesigen östlichen Ebene angesiedelt, die von Norden her der Kälte und von Osten her den Invasionen der asiatischen Völkerschaften ausgesetzt war. Unter diesen Bedingungen konnte die historische Entwicklung nur langsam und arm sein. Der russische Staat basierte immer auf einem primitiveren (urwüchsigeren) und schwächeren wirtschaftlichen Fundament als die Staaten Westeuropas, und deshalb musste der Moskauer und Petersburger Staat im Kampf mit ihnen um die Selbsterhaltung, um die Ausweitung seiner Grenzen und dann um die Hegemonie (Vorherrschaft) in Europa die Zahlungskräfte des Landes bis zum Äußersten anspannen.

Es stimmt, dass der Hauptteil der Staatseinnahmen, nicht nur bei uns, sondern auch im Westen in die Armee ging. Aber dort stützten sich die staatlichen Organisationen in ihrem Kampf gegeneinander auf ungefähr die gleiche wirtschaftliche Grundlage. Nicht so bei uns. Der russische Staat stellte sich mit seinen westlichen Nachbarn auf eine Stufe, übernahm ihr Militärsystem und ihre Technik, obwohl er über unvergleichlich ärmere Nahrungsquellen verfügte. Deshalb hat die Macht bei der Verfolgung ihrer fiskalischen Interessen vor nichts Halt gemacht. Und unser Volk trug immer eine unerträgliche Last.

Die Moskauer Fürsten, die auf die Rus wie auf ihre Baronien (Lehensgüter) schauten, sorgten sich nur um eines: wie sie ihre Staatskasse füllen konnten. Wenn sie Steuern eintrieben, nahmen sie immer das letzte. Deshalb wendeten sie Maßnahmen an, als ob sie die gesamte Bevölkerung bei lebendigem Leibe häuten wollten: Säumige wurden am Pranger grausam gequält, auf dem Markt mit der Peitsche geschlagen, und ihr Eigentum wurde dem Fürsten gutgeschrieben. Das waren die gewöhnlichen Maßnahmen, von Jahr zu Jahr. In Ausnahmefällen griff man zu außergewöhnlichen Maßnahmen. Ein Ausländer (Fletcher) erzählt uns, dass Zar Iwan einmal befahl, ihm Libanon-Zedern aus Wologda zu liefern; und da in Wologda seit der Erschaffung der Zeit keine Libanon-Zedern gewachsen waren, verhängte der Zar gegen die Bürger von Wologda für ihren „Ungehorsam“ eine Strafe (Geldstrafe) von 12.000 Rubel – eine sehr beträchtliche Summe nach dem damaligen Wert des Geldes . Bei einer anderen Gelegenheit befahl Zar Iwan den Moskauern, eine Kappe voll lebender Flöhe für seine Medizin zu fangen. Die Moskauer „gehorchten nicht“ und erwiderten sogar frech, dass die Flöhe, wenn sie gefangen würden, trotzdem an ihren Platz zurückspringen würden. Der Zar verhängte gegen die ungehorsamen Moskauer eine Geldstrafe von 7.000 Rubel.

Als Ausgangspunkt für eine systematischere Entwicklung des Fiskus diente das Tatarenjoch. Den tatarischen Khans wurde eine richtige Steuer gezahlt. Aber als die Leute vom Joch errettet wurden, wurden sie von der Steuer nicht errettet; anstelle von Khans nahmen die Moskauer Herrscher sie unter dem Namen „gegebenes Geld“ in ihre Hände. So brachte die Beseitigung der tatarischen Sklaverei keine Erleichterung für die belasteten Leute. Nach der Zeit der Wirren (Anfang des XVII. Jahrhunderts), als die fürstliche Schatzkammer völlig erschüttert war, begannen sie, sie mit verdoppeltem Eifer einzutreiben. Rücksichtslose Leute wurden als Eintreiber, als Schiworese, eingesetzt. Sie trugen dem Zaren vor: „Ich habe nicht aufgehört (Nachsicht gehabt) und ich gebe den Leuten des Dorfes keine Fristen (Aufschübe), ich habe auf Ihren, des Herrschers, verschiedenen Einkünften gnadenlos bestanden, ich habe sie zu Tode geprügelt“. Diese Prahlerei war eine Selbstrechtfertigung für die Eintreiber; im Falle eines Defizits hatten sie selbst eine harte Zeit: Strafen, Knutenschläge, Verbannung und sogar Todesstrafe. In der Regierungszeit Peters I. (1682-1725), der einen Krieg nach dem anderen führte, wurde die Energie der Macht hauptsächlich für die Suche nach Geldmitteln verwendet. Alle staatlichen Reformen wurden dieser grundlegenden Aufgabe unterworfen. Die Fiskalbeamten (Eintreiber) wirtschafteten im Land wie Eroberer. Alle gehorchten ihnen bedingungslos. Gleichzeitig gab es, wie es sich gehört, zügellosen Diebstahl. Peter schrieb vor, dass einer der Senatoren „im Staat in allen Provinzen unterwegs war, um dem Diebstahl Einhalt zu gebieten“. Und revidierende Senatoren sind, wie wir sehen, nicht neu, wie auch Veruntreuung nicht neu ist.

In der Zwischenzeit wurde das Staatsbudget ununterbrochen größer. Vor Peters Amtsantritt beliefen sich die Staatsausgaben auf kaum 1½ Millionen Rubel, im Jahr seines Todes waren es bereits 10 Millionen. Von dieser für die damalige Zeit riesigen Summe gingen ¾ an die Armee und Flotte. Unter Peters Nachfolgern gesellten sich zu den endlosen Militärausgaben die wachsende Opulenz des Hofes und der Aristokratie, die Veruntreuung des Staatsvermögens durch Günstlinge und Mätressen. In zwanzig Jahren (1763-1783) steigt das Budget von 14½ auf 31 Millionen; Armee und Flotte geben etwa ⅔ aus.

Das neunzehnte Jahrhundert wird auf dem Gebiet unserer Staatswirtschaft durch drei miteinander verbundene Züge charakterisiert: die ununterbrochene Vergrößerung des Budgets, die übermäßige Entwicklung der indirekten Steuern und das fieberhafte Wachsen der Staatsverschuldung. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stieg das Budget auf ¼ Milliarde; im Jahr der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) betrug er bereits fast 350 Millionen; dreißig Jahre später übertraf er eine Milliarde, und in weiteren zehn Jahren, an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, übertraf er bereits 2 Milliarden; schließlich wird unser letztes Staatsbudget (für 1914) auf mehr als 3½ Milliarden Rubel berechnet. Gleichzeitig ist die Staatsverschuldung auf 9 Milliarden Rubel angestiegen, und das Volk hat für das letzte Drittel des Jahrhunderts nicht weniger als 9 Milliarden Rubel an Schuldzinsen gezahlt.

Das Budget aller kapitalistischen Staaten ist scheußlich. Aber in Westeuropa und Nordamerika stützt es sich, wie wir bereits sagten, auf eine unvergleichlich reichere wirtschaftliche Grundlage. Nach gewissen – natürlich nur ungefähren – Berechnungen zieht der russländische Staat jährlich mehr als 30 Prozent des Bruttoeinkommens von der Bevölkerung ein, während er in reichen kapitalistischen Ländern nicht mehr als 5 bis 10 Prozent einnimmt. Deshalb müssen die Bauern auch jetzt, im XX. Jahrhundert, periodische Hungersnöte und Epidemien über sich ergehen lassen, neben der Wehrpflicht. Zur natürlichen Armut der Bevölkerung gesellte sich die zerstörerische Wirtschaftstätigkeit des Staates, und als Resultat – hat kein Volk in Europa eine so furchtbare, hoffnungslose, aus Armut und Unterdrückung gewobene Vergangenheit und Gegenwart, wie das russische Volk!

III. Budget und Wodka

Als Grundlage unseres Fiskus dienen indirekte Steuern. Ihr gewaltiger Vorteil für die Macht ist, dass sie für das Auge unsichtbar sind, das nicht mit Wissen ausgestattet ist. Die Steuern auf die Gegenstände der lebensnotwendigen Bedarfs, die die hilflosen Massen des Volkes an der Kostspieligkeit ersticken lassen, füllen die Kassen der Staatskasse sicherer als alles andere. Und im Zentrum des gesamten Systems der indirekten Besteuerung steht im Verlauf einer Reihe von Jahrhunderten ein lebensspendender Brunnen – der Wodka!

Jetzt hat bei ins in Verbindung mit dem Wechsel des Ministeriums nur ein träger Mensch nicht über das staatliche Weinmonopol geschimpft. In der Tat hat es unser Budget mit Schande bedeckt. Aber ist diese Schande zufällig? Hat sie am gestrigen Tag begonnen? Ist das vor 20 Jahren eingeführte Wodka-Monopol das einzige Verfahren, das Unheil des Volkes – die Trunksucht – in eine Quelle der Bereicherung für die besitzenden Klassen und den Staat zu verwandeln?

Die Fürsten besteuern Getränke schon seit langem. Schon vor tausend Jahren gab es eine „Metsteuer“. Ursprünglich wurden freie Tavernen besteuert, dann wurden fürstliche Tavernen eingeführt, aber freie Tavernen wurden verfolgt. Unter Iwan III. (1462-1505) war nicht nur der Verkauf, sondern auch die Produktion von Wein bereits ein Staatsmonopol. Und auch die Getränkeeinnahmen wurden hauptsächlich durch den Verkauf von Wein aus den „Zarenkneipen“ eingenommen. Diese Ordnung wechselte sich ab oder wurde mit einem System von Abfindungen kombiniert, bei dem das Recht, Menschen betrunken zu machen, an räuberische Geschäftsleute durch Kontrakte vergeben wurde. Wo die Regierung selbst mit Wein handelte, mischte sie, nicht weniger als private Wirte, guten mit schlechtem Wein und achtete streng darauf, dass am Ende des Jahres der gesamte Bestand ausgetrunken war. Ein Vater, der seinen Sohn am Besuch des Wirtshauses behinderte, erlitt die grausamste Bestrafung. Und auch alle anderen Maßnahmen waren von gleicher Art. Das führte zu einer solchen Unruhe, dass die Steuerpacht wieder eingeführt werden mussten. Aber auch danach wurde es nicht besser. Und unter Fjodor Alexejewitsch (1676-1682) versuchte man erneut, die Steuerpacht als „Schurkerei“ abzuschaffen. Unter Kaiserin Elisabeth, vor allem während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), als man mehr Geld als sonst brauchte, versuchte man alles, um den Verbrauch von Wodka zu entwickeln. Das Monopol wurde wegen des übermäßigen Tschinownik-Diebstahls wieder aufgegeben. Die Systeme änderten sich, aber das Volk kam vom Regen in die Traufe. Unter Katharina II. (1762-1796), die sich gerne als Mutter des Vaterlandes bezeichnen ließ, nahm die Weinausschüttung eine nie dagewesene Entwicklung. Die von oben organisierte Trunksucht des Volkes erbrachte bereits ⅓ der Staatseinnahmen. Unter Alexander I. (1801-1825) wurde all dies in vollem Umfang fortgeführt. Finanzminister Gurjew hielt das Banner der Weinsteuerpacht hoch. Die Einnahmen aus ihr deckten immer noch ein Drittel des Budgets. Und als die skandalösen Betrügereien mit der „Steuerpacht“ aufgedeckt wurden, an denen die Oberschicht beteiligt war, unternahm Gurjew einen neuen Versuch, die Steuerpacht durch ein Monopol zu ersetzen. Die Vizegouverneure wurden angewiesen, möglichst viel Wein zu verkaufen, und um den Handel anzukurbeln, begannen sie in den staatlichen Kneipen mit Musik und allerlei anderen Lockmitteln. Die staatlichen Weinverkäufer mischten Schund in den Wein und maßen für die Bauern ab, aber die Vizegouverneure nahmen Schmiergelder. In die Staatskasse floss nur die Hälfte des Erlöses. Die Gouverneure beschwerten sich in der Hauptstadt, dass das Volk „nicht genug trinkt“. Als Antwort darauf wurde die zu wenig getrunkene Menge auf die Kopf-Steuer aufgeschlagen: Trinke nicht unter der Norm! Es handelte sich um eine echte „Trinkfixierung“* im Sinne der heimischen Traditionen – nicht unähnlich der faszinierenden Idee des Grafen Witte. Das Monopol musste aufgegeben werden, und das Leibeigenschafts-Budget ruhte weiterhin auf zwei Säulen: auf der Wodka-Steuerpacht und der Kopfsteuer. 1863 wurde die Steuerpacht durch das Verbrauchssteuersystem abgelöst, d. h. die freie Produktion und der freie Verkauf von Wein gegen Entrichtung einer Steuer an die Staatskasse. Die Verbrauchssteuer wurde natürlich von Jahr zu Jahr erhöht. Von 1882 bis 1892 betrugen die Getränke-Einnahmen im Durchschnitt über 250 Millionen Rubel, mehr als ein Drittel der gesamten Staatseinnahmen.

1894 wurde das derzeitige Weinmonopol eingeführt, zum Teil im Interesse der weinhandelnden Grundbesitzer, die es für vorteilhafter hielten, sich mit der Bürokratie zu befassen als mit dem kapitalistischen Markt, aber hauptsächlich im Interesse des Fiskus. Im Rahmen des Monopols wächst der Weinkonsum wie eine Lawine und übersteigt bei weitem den Anstieg der Bevölkerung und der Produktivkräfte. Die Regierungsbeamten sind eifrige Agenten der Trunksucht des Volkes. In dieser Beziehung setzen sie nur die starken Traditionen der Tavernenjahre des XVII. Jahrhunderts und der Steuerpächter des XIX. Jahrhunderts fort. 1904 erhielt die Staatskasse 504 Millionen R. für Wodka, davon 365 Nettogewinn. Im Jahr 1914 erwirtschaftet das Weinmonopol mindestens eine Milliarde, darunter etwa 750 Millionen an Reingewinnen. Die Brutto- und Nettoeinnahmen haben sich in einem Jahrzehnt verdoppelt! Obwohl der Staat den Wirten dreimal so viel für Alkohol zahlt, verlangt er viermal mehr für Wodka, als er selbst dafür ausgibt – über 300 Prozent des Reingewinns. … Bei Katharina II. betrug unser ganzes Budget weniger als 50 Millionen Rubel; seit jenen Zeiten wuchs es um das 70-fache gestiegen; aber die Wodka-Gewinne bilden immer noch ein Drittel der Staatseinnahmen. Wodka ist wahrlich die zuverlässigste Staatssäule!

Und so ist es auch. Alkohol ist nicht nur ein Betäubungsgetränk, in dem Leo Tolstoi Wolfs-, Fuchs- und Schweineblut entdeckt hat. Nein, er ist eine historische Kraft von riesiger Wichtigkeit. Weder Wolf, noch Fuchs, noch Schwein haben etwas damit zu tun. Tiere, Bestien kennen keine Trunksucht. Die Trunksucht ist eine Besonderheit und ein Privileg des Menschen. Eine Gesellschaft, in der einige Tausend alle Vorteile des Reichtums und der Kultur genießen und das Volk in harter und rauer Mühe, in Elend und Finsternis, ohne Freude, ohne Licht, ohne Hoffnung lebt – eine solche Gesellschaft kann ihre Teile ohne Alkohol nicht im Gleichgewicht halten. Für eine solche Gesellschaft ist der Wodka ein Gegenstand der allerersten Staatsnotwendigkeit. Er reißt den verbitterten, verzweifelten oder gehetzten Menschen vom Boden, schenkt ihm für ein paar Stunden einen falschen, trügerischen Genuss, um ihn dann, gedemütigt, körperlich und moralisch erniedrigt, wieder unter das Joch der Arbeit und der Armut zu bringen. Wodka paralysiert die Kraft des sozialen Widerstands der Unterdrückten. Wodka erniedrigt geistig die Klassen, die materiell erniedrigt sind. Wodka schafft die für die Regierenden notwendige Übereinstimmung zwischen der Psychologie der Ausgebeuteten und ihrer Stellung in der Gesellschaft. Den Herrschenden stehen andere Mittel zur Verfügung – verschiedene Arten von geistigem Opium, um das Bewusstsein zu betäuben. Aber diese Mittel sind nicht zuverlässig genug. Doch Wodka, das große soziale Beruhigungsmittel, täuscht nicht.

Die besitzenden Klassen und der Staat tragen die Verantwortung für eine Kultur, die ohne das alkoholische Dauerschmiermittel nicht existieren kann. Aber ihre historische Schuld ist noch unvergleichlich furchtbarer. Mit Hilfe des Fiskus verwandeln sie den Alkohol, ein physisches, sittliches und soziales Gift, zur Hauptnahrungsquelle des Staates. Der Wodka macht nicht nur das Volk unfähig, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sondern deckt auch die Kosten für die Regierung der Privilegierten. Ein wahrhaft diabolisches System.

Und es obliegt nicht Herrn Bark, dem Minister für den „Neuen Kurs“, es zu ändern. Die Schätzung der öffentlichen Ausgaben, das ist das goldene Buch der Bürokratie und der privilegierten Spitzen. Jede Zeile in diesem Buch spricht von einem Recht auf das Vermögen des Volkes. Aus der zentralen Budgetreserve fließt das Gold durch ein Dutzend Hähne in kleinere Bottiche, von dort durch Hunderte von Hähnen in neue Empfänger, und an den letzten Hähnen stehen die lebenden Empfänger – die Budgethaustiere – mit weit aufgerissenen Mündern. Wenn man versucht, auch nur an einem Hahn zu schrauben, ertönt unverzüglich ein dumpfer Protest. Der Finanzminister ist nur der Kassierer und Buchhalter der mächtigen Gruppen, Cliquen und Schichten. Das Ausgabenbudget ist für ihn unantastbar. Aber das ewig leerer werdende Goldbassin muss gefüllt werden. Jene, welchen es leeren, wollen es nicht füllen, sonst schiene ihre staatliche Rolle die Transfusion vom Leeren zum Leeren zu sein. Bleibt also die Volksmasse, die mit ihren eigenen Händen wirtschaftliche Werte schafft. Von ihr wird doppelt und dreifach mehr verlangt, als sie geben kann. Und nur der Alkohol ist in der Lage, seiner Wirtschaft das zu entlocken, was ihr auf keinem anderen Weg entlockt werden kann. Deshalb kann sich kein Finanzminister unter dem gegenwärtigen Regime am Alkohol vergreifen. Die Personen werden abgelöst, der Wodka bleibt. Weder die Duma noch der Staatsrat werden sich an ihm vergreifen. Denn in ihnen leiten die, die das Budgetbassin leeren, nicht jene, die es füllen.

Nur das Volk selbst, das seine eigenen Interessen erkannt hat, kann das Budget in Übereinstimmung mit den Volksinteressen umbauen.

* Fixierung – Um Kokowzew zu stürzen, schlug Witte im Staatsrat vor, die Getränkeeinnahmen des letzten Jahres (900 Millionen Rubel) für die Zukunft zu fixieren (festzumachen), so dass der darüber hinausgehende Betrag in die „Bekämpfung der Trunksucht“ fließen würde.


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