Leo Trotzki: Mit einem heißen Eisen!

[18. Oktober 1934, eigene Übersetzung des russischen Textes, Korrekturen russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen]

Der Fall des Mordes an dem Landkorrespondenten Malinowski hat riesige politische und kulturelle Bedeutung. Man muss sich in den Fall tief hineindenken, man muss ihn verstehen.

Dies ist nicht der erste Mord an einem Basisarbeiter oder einem Landkorrespondenten. Es gab noch größere Anlässe, bei denen es nicht zu einem Mord kam, sondern sich auf Schikanen, Verfolgung, Vertreibung usw. beschränkte. Bei solchen Anlässen haben irgendwelche weißen Publikationen nicht nur einmal hämisch gekichert: Hier, sagten sie, haben sie die Pressefreiheit zerstört, jetzt ernten sie die Früchte.

An dieser Art von zahnloser Häme ist nur wahr, dass der Mord an Malinowski und andere derartige Fälle die engste Beziehung zur Frage der Pressefreiheit haben. Es handelt sich wirklich um einen Anschlag auf die Pressefreiheit, auf unsere Pressefreiheit, auf die Freiheit unserer Presse, und darin liegt eine ernsthafte Gefahr.

In den bürgerlichen Staaten, d.h. in allen Staaten außer dem unseren, versteht man unter Pressefreiheit das Recht eines jeden Bürgers, der das dafür erforderliche Kapital hat, Zeitungen und Bücher zu veröffentlichen und in diesen Zeitungen und Büchern die Gedanken auszudrücken, die ihm die bürgerliche Gesellschaft erlaubt. Es stimmt, dass es selbst unter den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien Differenzen darüber zu geben pflegt, was in der Presse erlaubt ist und was man nicht in der Presse zulassen darf. So hat zum Beispiel die Regierung MacDonald vor kurzem geäußert, dass es nicht nötig sei, den englischen Kommunisten Campbell vor Gericht zu ziehen, solange seine revolutionären Artikel noch nicht bedrohlich für die „Demokratie“, d.h. für die Herrschaft der Bourgeoisie, sind. Konservative und Liberale hingegen forderten sofortige Strafen für kommunistische Propaganda. Aber das ist ja letztendlich ein interner, fast ein Familienstreit. Im Grundlegenden aber, d.h. darin, dass die Pressefreiheit dort endet, wo die revolutionäre Gefahr für das bestehende bürgerliche System beginnt, darin sind sie alle einverstanden. Aber noch wichtiger ist selbstverständlich die Tatsache, dass die englische Presse, ob unter dem Konservativen Curzon oder dem Liberalen Asquith oder unter dem Demokraten und Menschewiken MacDonald, ganz in den Händen der Kapitalisten ist. Die Großkapitalisten bilden in England einen unbedeutenden Teil der Bevölkerung, und doch befinden sich von den vielen tausend Tageszeitungen alle in ihren Händen bis auf … eine, die sich in den Händen der Partei MacDonalds befindet und zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat schwankt. Eine solche Lage, in der das mächtige Proletariat Englands, das mindestens drei Viertel der Bevölkerung des Landes ausmacht, nur eine einzige Zeitung besitzt, die völlig unter dem Einfluss des Kleinbürgertums steht, nennt man „Pressefreiheit“.

Mit dieser verächtlichen und ehrlosen „Freiheit“, die ganz und gar vom Bankkonto abhängt, haben wir nach dem Oktober des Jahres 1917 ein für alle Mal aufgeräumt!

Ja, bei uns gibt es das Pressemonopol in den Händen jener Partei, durch die die Werktätigen ihre Macht, ihre Diktatur ausüben. Die Presse ist eines der wichtigsten Werkzeuge der Klassendiktatur. Dieses Instrument behält jedoch seine Lebenskraft, solange es nicht nur dazu dient, Ideen, Parolen und Dekrete von oben nach unten zu tragen, sondern auch dem freien Ausdruck von Meinungen, Bewertungen, Kritiken von unten nach oben. Ja, wir haben unermesslich mehr Meinungsfreiheit für die Basis als in jedem kapitalistischen Land.

Natürlich werden wir keine gegen die Herrschaft der Werktätigen gerichtete Agitation akzeptieren, d.h. Agitation für den Wiederaufbau der Herrschaft der Grundbesitzer und Kapitalisten. Aber wir müssen mit allen Mitteln die Freiheit der Kritik und der Entlarvung all dessen gewährleisten, was die Diktatur der Werktätigen behindert, diese Diktatur untergräbt, sie entstellt und in den Augen dieses oder jenes Teils der Arbeiter und Bauern kompromittiert. Das ist unsere Pressefreiheit. Eine andere brauchen wir nicht. Aber diese streben wir sicherzustellen und werden sie am Ende voll und ganz sicherstellen.

Unter diesem Blickwinkel stellt das verzweigte Netz von Arbeiterkorrespondenten, Landkorrespondenten und Armeekorrespondenten einen erforderlichen und unabdingbaren Teil der lebendigen, obgleich ungeschriebenen Verfassung des Arbeiter- und Bauernstaates dar.

Die revolutionäre Diktatur in der kapitalistischer Umringung – und wir sind zum siebenjährigen Jubiläum immer noch umringt – hat notwendig einen harten Charakter. Aber die revolutionäre Diktatur kann sich wahrhaftig nur auf die Aktivität, den Willen, die Kritik der Massen von vielen Millionen stützen. Wir bauen eine sozialistische Gesellschaft auf. Aber ist es etwa denkbar, sie zu errichten, ohne die Haltungen, Routinen und Manieren der Hochmütigkeit und Grobheit, des dummen Bürokratismus, der unverschämten Gefühllosigkeit auszurotten, von denen wir aus der Vergangenheit viel mehr als von akkumuliertem Kapital geerbt haben? Der ernsthafte Kampf gegen das bürgerlich-leibeigenschaftliche Vermächtnis kann man nicht mit allgemeinen Phrasen führen, sondern es erfordert eine lebendige Entlarvung der lebendigen Hässlichkeit der Gegenwart, die Bestrafung der Schuldigen und die alltägliche Erziehung der öffentlichen Meinung. Diese Arbeit kann nur von Arbeiterkorrespondenten und Landkorrespondenten geleistet werden. Ihnen muss volle Freiheit gesichert werden.

Wir haben jetzt eine Aufgabe von riesiger Wichtigkeit auf die Tagesordnung gesetzt, im Grunde die wesentliche Frage des Sieges des Sozialismus über den Kapitalismus – die Aufgabe der Steigerung der Produktivität der Arbeit und der wissenschaftlichen Organisation der Produktion. Aber kann man diese Aufgabe lösen oder einen ernsthaften Schritt auf dem Weg zu ihre Lösung machen, ohne die Entlarvung, ohne die Beseitigung der himmelschreiendsten Unordnung in Bezug auf Unlauterkeit, Schlamperei, Unaufmerksamkeit und Verschwendungssucht, die unser Wirtschaftsleben durchziehen? Hier wiederum werden uns allgemeine Maßnahmen, Beschlüsse und Zirkulare allein nicht ausreichen. Notwendig ist lebendige und freie Kritik von der Basis, die Erziehung der öffentlichen Meinung im Geiste einer Reihum-Bürgschaft für die Erfolge des sozialistischen Aufbaus bürgt. Hier steht der Arbeiterkorrespondent an erster Stelle!

Kann man ernsthaft von der Umerziehung der Bauernschaft, von der sozialistischen Rolle der Genossenschaft im Dorf sprechen, wenn man dort nicht einen systematischen alltäglichen Kampf gegen die Versuche und Anstrengungen des Kulakentums und des Wuchers führt, sich das Sowjetdorf zu unterwerfen? Aber dafür brauchen wir einen festen, mutigen und selbstsicheren Landkorrespondenten.

Im militärischen Bereich drücken sich ernsthafte und tatsächliche Erfolge in der Erhöhung des materiellen und geistigen Niveaus des Kämpfers, im Wachstum seiner Qualifikationen als Staatsbürger und als Soldat aus. Dies kann man nur erlangen, unter der Bedingung der Selbstüberprüfung der Armee von unten. Dafür ist der Militärkorrespondent notwendig.

Die Pressefreiheit in der Sowjetrepublik besteht zuallererst darin, dass der Arbeiterkorrespondent, der Landkorrespondent und der Militärkorrespondent die Möglichkeit und keine Angst haben, über alle Unregelmäßigkeiten, Missbräuche, Unwahrheiten, Gewalttätigkeiten, Ausschreitungen zu schreiben, die sie um sich herum beobachten. Hier gibt es tatsächliche, echte, unverfälschte Pressefreiheit, verstanden aus dem Blickwinkel der Massen, die sich von unten nach oben, aus dem Elend und der Unklarheit zur sozialistischen Kultur bewegen. Diese Freiheit müssen wir um jeden Preis sicherstellen, ausweiten, vertiefen und festen Fuß fassen lassen.

Anschläge auf diese Freiheit gehen hauptsächlich von zwei Quellen aus: von Seiten des Tschinowniks, der nicht liebt, gestört zu werden, und von Seiten des Kulaken, der nicht will, dass man seinem Plündern im Weg steht.

Unter dem Kulaken ist natürlich nicht einfach der wohlhabende Bauer zu verstehen, sondern vor allem der Privathändler, der Wucherer, der Viehhändler, der Hehler und Zwischenhändler, der Spekulant, die Personifizierung der kapitalistischen Entwicklungslinie gegen die sozialistische Linie. Der Kulak füllt alle Schlitze in unserer Wirtschaft (aber es gibt viele davon), dringt überall durch, wächst nach allen Seiten und beschränkt sich nicht auf die Zugeständnisse, die die Arbeiter- und Bauernmacht der privaten kommerziellen Wirtschaft zu machen für nötig hält. Nein, er träumt davon, dass die Sowjetmacht alle Schranken beseitigt und der vollständigen Plünderung die Tür öffnet. Sein Nikolajewsker oder Kursker Programm deckt sich völlig mit dem Programm von Hughes, dem Amerikaner: Freiheit für das Kapital. Unser Kulak ist der innere kleine Hughes. Er drängt, drückt, besticht, ängstigt und versucht mit aller Kraft, vorwärts zu kommen. Der kleine Hughes strebt danach, ein Hughes zu werden. Überall um ihn herum zieht er Schlingen, die für die staatlichen Kontroll- und Gerichtsorganen nicht selten unerreichbar sind. Auf diesen halb kriminellen Wegen trifft unser innerer kleiner Hughes auf den anklagenden Arbeiterkorrespondenten. Hier entbrennt der Kampf, ein lebendiges Stückchen Bürgerkrieg!

Der Tschinownik, der kein unnötiges Gerede mag, gilt als der unsere; nicht selten ist er sogar ein Kommunist. Er kämpft mit dem Arbeiterkorrespondenten, als ginge es um das Prestige der Sowjetmacht vor Ort und im Zentrum. Es scheint, als müsse man hier nicht über Klassenkampf sprechen. Aber das scheint nur auf den ersten Blick so. Der dumpfe Bürokratismus, der dieses oder jenes Staatsorgan moralisch niederdrückt, macht es direkt oder mittelbar zu einem Werkzeug der Kulaken, denn er schwächt die Widerstandskraft der Werktätigen. Der Sowjettschinownik der versucht, die Sowjetkorrespondenten zum Schweigen zu bringen, ist der leibliche Bruder des kleinen Hughes von innen und der Helfershelfer des Hughes von außen.

Damit will ich ganz und gar nicht sagen, dass unsere Arbeiterkorrespondenten und Landkorrespondenten ohne Sünde sind, dass jedes ihrer Worte wahrheitsgemäß ist, dass man unter ihnen niemals Erscheinungen von Intrigen oder Vetternwirtschaft beobachten kann. Nein, allen diesen Sünden begegnet man. Der Kampf gegen diese Sünden muss mit den Kräften und Mitteln der Arbeiterkorrespondenten selbst, der Redaktionen der Zeitungen, der Sowjetorgane, der Partei und der von ihr erzogenen öffentlichen Meinung geführt werden. Jeder von einem Arbeiterkorrespondenten zu Unrecht Beschuldigte hat das Recht auf Verteidigung. Er soll sie suchen, indem er sie in der Zeitung entkräftet, indem er die nächstgelegene Organisation der Arbeiterkorrespondenten informiert, indem er sie vor Gericht bringt. Jeder Gerichtsprozess, der einen Arbeiterkorrespondenten, der seinen hohen Rang missbraucht hat, anprangert, stigmatisiert und verurteilt, hat den größten erzieherischen Wert. Und der falsch beschuldigte Kulak muss die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen. Aber diese Verteidigung muss mit Sowjetmitteln erfolgen, auf der Grundlage des Sowjetrechts und der Sowjetinstitutionen. Der zu Unrecht beschuldigte Kulak soll den Arbeiterkorrespondenten vor das Arbeiter- und Bauerngericht ziehen. Dieses Recht wird ihm nicht verwehrt. Was wir ihm aber nicht gestatten werden, ist, sein eigenes Recht zu schaffen, d.h. Eigenmächtigkeit gegen die Stadt- und Landkorrespondenten der Sowjetpresse auszuüben. Arbeiterkorrespondenten und Landkorrespondenten sind die Augen und Ohren des Arbeiterstaates. Die Versuche der Kulaken, die Macht der Werktätigen zu blenden und zu betäuben, müssen und werden mit aller Gnadenlosigkeit unterdrückt werden. Sie werden auf unserem Oktoberboden keinen amerikanischen Ku-Klux-Klan gründen, unsere einheimischen kleinen Hughes. Keine Chance! In den Arsenalen des Sowjetstaates gibt es stärkere Waffen als die abgesägten Schrotflinten der Banditen. Und wenn die gierigen, tollwütigen Kulaken weiterhin auf die Arbeiterkorrespondenten und Landkorrespondenten einprügeln, wird die revolutionäre Diktatur mit einem glühenden Eisen über diese Leute herfallen und sie lehren, die Hände von den Nähten von Sowjetsystem, dem Sowjetgesetz und der Sowjetmoral zu lassen.

Wir werden die Arbeiterkorrespondenten und Landkorrespondenten nicht der Beleidigung ausliefern!

18. Oktober 1924.


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