[eigene Übersetzung des russischen Textes, veröffentlicht in der Krasnaja Gaseta [Rote Zeitung], Nr. 245, 26. Oktober 1924, Nachdruck in Сочинения. Том 17, Советская Республика и капиталистический мир. Часть II. Гражданская война. Москва-Ленинград, 1926 (Sotschinenija Tom 17, Sowjetskaja Respublika i kapitalistitscheskij mir. Tschast‘ II. Graschdanskaja Wojna. Moskwa-Leningrad 1926, Werke, Band 17, Die Sowjetrepublik und die kapitalistische Welt. Teil 2. Der Bürgerkrieg, Moskau-Leningrad 1926)
(Brief an die Redaktion der Krasnaja Gaseta aus Anlass des fünften Jahrestags der Niederlage Judenitschs).
Werte Genossen!
Sie ersuchen um einige Zeilen für die „Krasnaja Gaseta“ zum Tag des fünften Jahrestages des Kampfes gegen Judenitsch – für Petrograd. Ich gehe gerne auf Ihren Vorschlag ein, weil ich mit Ihnen zusammen der Meinung bin, dass wir das Bild jener furchtbaren Tage nicht in den Köpfen der jüngeren Generationen erlöschen lassen dürfen.
Zu dieser Zeit zog Denikin erfolgreich nach Tula und Moskau. Im Westen drohte die polnische Szlachta. Im Baltikum festigten sich die Monarchisten, die sich sammelten, um Moskau anzugreifen. Im Osten fand noch der ungelöste Kampf mit Koltschak statt. Von Nordwesten her bedrängte Judenitsch Petrograd. Und jede Stunde konnte man die Einmischung Finnlands und Estlands in den Kampf befürchten. Es waren die schwersten, die unheilverkündendsten Tage. Es war der fürchterlichste Oktober in unserer Geschichte. Über dem feuchten, kalten und hungrigen Petrograd schien ein unerbittliches Schicksal zu hängen. Schon wurden wegen der unausbleiblich scheinenden Kapitulation der Nord-Hauptstadt bereits Pläne für den Rückzug der revolutionären Arbeiter in südöstliche Richtung ausgearbeitet. Schon wurden mögliche Verteidigungslinien zwischen Piter und Moskau besprochen, während im Süden eine Verteidigungslinie zwischen Moskau und Orel gezogen wurde.
Aber in den allerletzten Stunden, als es einem wirklich vorkommen konnte, als gäbe es keinen Ausweg, als gebe es keine Rettung, als sei der Untergang unausweichlich, zeigten sich in der proletarischen Avantgarde und in den Massen neue unterschwellige Kräfte. Der rasende Druck des Unheils rief eine ungestüme Widerstandsenergie hervor. In der feuchtkalten, verdrossen-konzentrierten Großstadt errichteten hungrige Arbeiter und Arbeiterinnen mit gekrümmten Fingern Drahtverhaue, schichteten die Steine der Bürgersteige auf den Boden auf, verwandelten die Straßen und Plätze in die letzten Befestigungen der Revolution, in eine gigantische Falle für ihre Feinde. Ein kräftiger Windhauch von Heldentum drang aus Petrograd in die von Misserfolgen erschütterte Armee, ermutigte und vereinigte sie.
Die Stadt der Oktoberrevolution war gerettet. Judenitsch wurde aus Petrograd zurückgedrängt, gerade in den Tagen, als Denikin begann, sich aus Tula zurückzuziehen.
Fünf Jahre vergingen, in deren Verlauf die Wellen fürchterlicher Ereignisse nicht nur einmal über dem Granit der großen Stadt zusammenschlugen. Und nun, kurz vor dem neuen Jahrestag, dem fünften seit der Zeit der Kämpfe gegen Judenitsch, dem siebten seit der Zeit der Machteroberung, schlug eine neue Welle das sich wiederbelebende Leningrad – dieses Mal die fürchterliche Wasser-Naturkraft1. Die Bedeutung dieses neuen Unheils ist klar, seine Lehre unwiderstehlich.
Proletarier Leningrads! Ihr wart die Anstifter des großen revolutionären Umsturzes vor sieben Jahren; ihr müsst die Anstifter der größten technischen Revolution werden, die alle feindlichen Naturkräfte besiegen und unterwerfen wird.
Das Gedenken an die schwarzen und großen Oktobertage 1919 wird die werktätige Bevölkerung Leningrads in den schwersten Stunden immer inspirieren und heben: Die Stadt, die damals nicht fiel, wird aus allen historischen Prüfungen als Sieger hervorgehen.
23. Oktober 1924.
1 Der Autor hat die Überschwemmung Leningrads am 23. September 1924 im Auge. In ihren Ausmaßen reichte die Überschwemmung an die grandiose Petersburger Überschwemmung im Jahre 1824 heran.
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