Leo Trotzki: Gruß an La Verità!

(25. März 1934)

[eigene Übersetzung des französischen Textes in Œuvres 3, November 1933 – April 1934, verglichen mit der englischen Übersetzung].

An die Redaktion von La Verità

Werte Genossen!

Ja, das italienische Proletariat braucht eine authentische marxistische Zeitschrift. Nichts zeigt die totale Korruption der Sozialdemokratie und der stalinistischen Partei deutlicher als die Tatsache, dass eine Organisation wie Giustizia e Libertà [Gerechtigkeit und Freiheit] eine unabhängige revolutionäre Rolle beanspruchen kann. Es ist fast ein Jahrhundert her, dass Marx Gerechtigkeit, Freiheit usw. gnadenlos aus der demokratischen Mythologie vertrieben hat, und jetzt, im vierunddreißigsten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts, können die bürgerlichen, antifaschistischen, italienischen Intellektuellen nicht ohne Erfolg sagen, dass die entthronten Gottheiten wieder in ihrer ganzen Pracht auf ihren Thronen installiert werden müssen. Sie sind weniger Experten, wenn sie offen von der Notwendigkeit eines „Mythos der Freiheit“ sprechen. Ein Mythos ist immer eine gefälschte, verzerrte Version der Realität; in seiner politischen Anwendung eine Lüge. Wie die Priester der Kirche bemühen sich die republikanischen Antifaschisten, die Seele durch Lügen zu retten.

Wie erklären wir uns diesen unerhörten Rückfall? Einfach durch den ungeheuerlichen Bankrott der beiden Arbeiterparteien.

Ich möchte hier an eine interessante Episode erinnern. Am 15. und 16. Juni 1932 schoss der sozialdemokratische Gemeinderat von Zürich eine revolutionäre Arbeiterdemonstration zusammen. Zu ihrer Rechtfertigung schrieb die Schweizer Sozialdemokratie: „Lenin und Trotzki haben mit ihren Feinden nicht anders gehandelt.“ In einem Brief an die Arbeiter in Zürich erlaubte ich mir, an die „Bagatelle“ zu erinnern, dass wir den Arbeiterstaat und das sozialistische Eigentum verteidigten, während die Sozialdemokraten den bürgerlichen Staat und das kapitalistische Eigentum verteidigten. Der Führer der italienischen Sozialdemokratie, Nenni, erwiderte daraufhin, dass unsere Kommentare nur „Spitzfindigkeiten“ seien, da die Bolschewiki ihre Macht im Staat verteidigten und die Sozialdemokraten das Gleiche in der Stadt Zürich täten, wobei der einzige Unterschied zwischen ihnen quantitativ sei. Da sagte ich zu mir selbst: Auf welch erbärmlichem theoretischen und politischen Niveau befindet sich Signor Nenni! Nach der Lektion, die er von Mussolini erhalten hat, glaubt er, dass es möglich ist, die Macht Stück für Stück zu erobern. Er versteht nicht, dass das Kapital sozialdemokratische „Macht“ in Gemeinde- und Kantonsräten nur so lange duldet, wie Nennis Freunde bei der Ausübung dieser Macht bereit sind, auf jede Revolte gegen den kapitalistischen Staat und das kapitalistische Eigentum zu schießen.

Kommunale und parlamentarische Erfolge sind eine Sache, die Eroberung der Staatsmacht eine andere, ganz verschiedene. Das Schicksal der Wiener Kommune wird in diesem Punkt eine hinreichend wichtige Lektion erteilen. Der italienische Faschismus wird wahrlich ohne Sorgen in die Zukunft blicken können, wenn er nicht auf andere Feinde als Nenni und seine Partei stößt.

Was die stalinistische Partei betrifft, so kann man sagen, dass sie alles getan hat, um die Prinzipien, das Banner und den Namen des Kommunismus zu kompromittieren. An den Rändern der Demokratie kann sie zumindest für einige Zeit eine kämpferische Existenz führen, selbst mit einer völlig falschen Politik, vor allem, weil sie über gewisse finanzielle Ressourcen verfügt. Aber in der Illegalität reicht das nicht aus. In der Illegalität kann die Partei nur auf Hingabe, Loyalität, Hartnäckigkeit und Opferbereitschaft aufgebaut werden. Und diese Qualitäten können nur dann geweckt, mobilisiert und getestet werden, wenn die Politik der Partei Vertrauen erweckt, d. h. wenn sie sich unter noch schwierigeren Bedingungen als richtig erweist. Das italienische Beispiel zeigt, dass es für eine illegale Partei unmöglich ist, mit einer falschen Politik lange zu bestehen.

Giustizia e Libertà kann nur die Lücke füllen, die zwischen dem Zusammenbruch der alten Parteien und dem Aufbau einer neuen und authentischen bolschewistischen Partei entstanden ist. Der Faschismus kann nur durch den proletarischen Aufstand niedergeschlagen werden. Die Anfänge werden schwierig sein, weil der Boden von Trümmern und Splittern bedeckt ist. Aber die Arbeit muss getan werden. Sie wollen die authentischen bolschewistischen Elemente unter dem Banner der neuen Partei vereinen. Unter diesem Zeichen grüße ich Ihre Zeitschrift herzlich.


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