Leo Trotzki: Ein Konzert für Herriot

[März 1934, eigene Übersetzung des englischen Textes in Writings of Leon Trotsky, Bd. 14]

Herriot, Bürgermeister von Lyon und Ex-Minister, war der erste bürgerliche Staatsmann, der die Sowjetregierung um einen Besuch bat. Im Rat der Volkskommissare waren wir darüber sehr besorgt und dachten, es sei ein Fehler, ihn abzulehnen. Lenin war so boshaft, mich für diese Aufgabe vorzuschlagen. Ich musste annehmen und versuchte, die Stunde, die für den Besuch vorgesehen war, so schnell wie möglich zu überbrücken. Da ich wusste, dass er ein Musikfanatiker war, bereitete ich ein „Überraschungskonzert“ für ihn vor. Nach den gegenseitigen Glückwünschen, die bei einem solchen ersten Treffen üblich sind (und was für ein Treffen!), spähte Herriot mit angestrengtem Gehör zu einem der Fenster mit Blick auf den Roten Platz. Sängerinnen und Sänger näherten sich. Das Gespräch wurde unterbrochen, und als der Soldatenchor auf den Platz trat, ging er zum Fenster und verpasste keine Minute der Vorstellungen, wobei er die Qualität der männlichen Gesangsstimmen bemerkte. Begeistert verfolgte er die Bewegungen des Chors, bis dieser außer Hörweite war. Das Gespräch wurde fortgesetzt, drehte sich aber noch eine ganze Weile um das Thema dieses „unerwarteten“ Konzerts. Und als die Diskussion angesichts unserer diametral entgegengesetzten Ansichten schwierig wurde, wiederholte sich die gleiche Szene von hinten nach vorne. Fasziniert ging er zurück zum Fenster, bis die Stimmen wieder in der Ferne verklungen waren. Wir begannen wieder zu reden, aber ich muss gestehen, dass ich mich nur an das erinnern kann, was ich Ihnen gerade erzählt habe.


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