Leo Trotzki: Brief an Max Shachtman

[1. Mai 1933, eigene Übersetzung des englischen Textes, „Eine Warnung und eine Kritik“]

Werter Genosse Shachtman,

1. Die Frage der amerikanischen Konferenz beunruhigt alle führenden europäischen Genossen, hauptsächlich vom gleichen Standpunkt aus, den ich in meinem offiziellen Brief zu formulieren versucht habe. Einige Genossen sind der Meinung, dass Ihre Fraktion heterogen ist, wie es bei jungen Oppositionsgruppen gewöhnlich der Fall zu sein scheint. Sie dürfen, lieber Freund, keinerlei Illusionen über die Aufspaltung der Sympathien in Europa machen: Ihre Gruppe wird die Sympathie der spanischen Genossen und der abgespaltenen Gruppen haben. Alle unsere Gruppen werden nach den Erfahrungen der Vergangenheit geneigt sein, die Cannon-Gruppe zu unterstützen. Ich versuche, so weit wie möglich unvoreingenommen zu bleiben. Aus diesem Grund wurde ich bereits, wenn auch zu Unrecht, beschuldigt, die Shachtman-Gruppe indirekt zu unterstützen. Machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Illusionen. Ich wiederhole: In der gegenwärtigen Phase des inneramerikanischen Kampfes, d.h. wenn sich überwiegende politische Differenzen noch nicht herauskristallisiert haben, wird Ihre Gruppe in den Augen aller unserer Sektionen die Verantwortung für eine eventuelle Spaltung sowie für den langwierigen internen Kampf tragen. Ungewollt lastet auf Ihnen ein schweres Erbe in Europa: denn jede Gruppe, die wir hier zu bekämpfen hatten, hat sich Ihres Namens bedient und in diesem Zusammenhang wurde Ihr Name symbolisch für alle Sektionen. Damit will ich keineswegs sagen, dass dies richtig ist. Wenn ich dieser Meinung wäre, würde ich mich der Verschärfung des Kampfes innerhalb der Liga und der Perspektive einer Spaltung nicht mit aller Kraft entgegenstellen, denn ich weiß, dass sich einzelne Tendenzen und Gruppierungen stark verändern und wandeln.

2. Ihre Haltung in der Gewerkschaftsfrage erscheint mir formalistisch. Wir haben mit Gourget in Frankreich erbittert gekämpft, nicht weil er sich dem gewerkschaftlichen Milieu anpassen wollte, sondern weil er seine eigene Tätigkeit nicht der Kontrolle der Liga unterordnen wollte; und die Art der Anpassung muss nicht individuell, sondern kollektiv bestimmt werden. Es geht nicht darum, unser „Banner“ in den Gewerkschaften ein- oder zweimal zu entfalten und gerade deshalb aus ihnen zu verschwinden, sondern schrittweise Unterstützungspunkte zu gewinnen und dadurch die Möglichkeit zu erlangen, das Banner vollständig zu entfalten. Dass Sie die jüngste Reise Cannons nach Illinois verhindern wollten, scheint mir völlig falsch zu sein, selbst vom Standpunkt des Fraktionskampfes aus gesehen.

3. Meine Meinung zur Negerfrage ist rein hypothetischer Natur. Ich weiß nur sehr wenig darüber und bin immer bereit, zu lernen. Ich werde Ihr Manuskript mit großem Interesse lesen.

4. Ich werde versuchen, Ihre Fragen zur Geschichte der Komintern so bald wie möglich zu beantworten. Leider kann ich das im Moment nicht tun, da ich mit Dingen beschäftigt bin, die absolut nicht verschoben werden können.

Mit herzlichsten Grüßen.

Ihr,

L.D.


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