An verschiedenen Stellen seiner Werke bemüht sich Dietzgen, den innigen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Bewegung des Proletariats und seiner Erkenntnislehre nachzuweisen. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Philosophen, welche mit Entrüstung irgendwelchen Zusammenhang ihrer Denklehre mit den materiellen und sozialen Verhältnissen ihrer Zeit und Klasse leugnen, betrachtet er seine philosophischen Resultate als durchaus verflochten mit dem Sein und Bewusstsein der Arbeiterklasse. Seine Erkenntnis- und Weltlehre benannte er „demokratisch-proletarische Logik“, weil er überzeugt war, dass nur das Proletariat imstande ist, jenes Überbleibsel der alten religiösen Ehrfurcht zu überwinden, die vor dem Geist als etwas Höherem, Unbegreiflichem Halt macht, dass nur das Proletariat es vermag, aus seinen demokratischen Bedürfnissen und Anschauungen heraus das Denkvermögen in die allgemeine Kategorie der natürlichen Phänomene einzureihen.
Ist der dialektische Materialismus nun wirklich, wie Dietzgen meinte, die „Philosophie des Proletariats“, so muss er für die proletarische Theorie und Praxis, die beide unaufhaltsam ineinander übergehen, ebensolche goldenen Früchte tragen, wie seine Anwendung auf die Untersuchung der gesellschaftlichen Bewegung bisher. Einer kämpfenden Klasse sind die Grundgedanken, worauf ihre Weltanschauung ruht, Speer und Schild im Ringen gegen ihre Feinde. Die beste Weise, uns ein Urteil zu bilden, ob die Dietzgenschen Lehren wirklich Fleisch und Blut des Proletariats sind, ist deshalb ihre Anwendung auf die praktische Theorie und die theoretische Praxis des Proletariats zu untersuchen.
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Ist die Erkenntniskritik, die Kenntnis von der Natur und den Gesetzen des Denkens für die Bewegung der Arbeiterklasse so unentbehrlich, oder auch nur von besonderem Wert? Ist es für diese Klasse nicht genügend, den Zusammenhang des Bewusstseins mit dem gesellschaftlichen Sein, die Abhängigkeit der Anschauungen und Vorstellungen von den ökonomisch-materiellen Verhältnissen zu durchschauen? Vermehrt es wirklich ihre Kampfeskraft, diese Abhängigkeit begründet zu wissen in der eigenen Natur des Geistes und der Natur des Universums? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt es in erster Linie ab, ob dem dialektischen Materialismus, wie sein Begründer meinte, tatsächlich der Name „Philosophie des Proletariats“ zukommt.
Und wir zaudern nicht, sie in dem Sinne zu beantworten, dass die dialektisch-materialistische Philosophie, die Denklehre, welche erst die eigentliche erkenntnistheoretische Grundlage für den historischen Materialismus liefert, für das Proletariat von eminentem Wert ist. Erst sie vertreibt den religiösen Spuk aus seinen letzten Winkeln und räumt mit dem mystischen Aberglauben an etwas Höheres, Unbegreifliches gründlich auf. Für die Religion und die Philosophie war das Bewusstsein das große ungelöste und unlösbare Rätsel. Das Nichtbegreifen des Denkens nahm aber die Form des Nichtbegreifens der Welt, des Wesens aller Dinge an. Dieselbe Klasse, welche sich so verdient gemacht hat um die Erforschung der Natur, die Bourgeoisie, sprach ihrer Naturforschung den tiefsten und wahrsten Wert ab, indem sie erklärte, es vermöge der Menschengeist nur von der flüchtigen Erscheinung Kenntnis zu erwerben, dagegen stehe er dem wahren Kern oder Wesen der Dinge hilflos gegenüber. So wie es der bürgerlichen Ökonomie nicht gelang, den „Fetischcharakter“ der Ware zu enträtseln, so wie sie den Arbeitsprodukten, den Sachen die gesellschaftlichen Charaktere der menschlichen Arbeit aufdrückte, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Produzenten dagegen zu einem unabhängig von diesem existierenden Verhältnis von Gegenständen mystifizierte, – so gelang es der bürgerlichen Philosophie nicht, den menschlichen Gedanken seines geheimnisvollen Charakters zu entäußern. Ihre Unwissenheit über die Natur des Bewusstseins nahm für sie die Form an von Unvermögen, in das „Wesen der Dinge“ zu dringen und das „Innere der Natur“ zu begreifen. Und so wie es Marx gelang, die Mystifikation. der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu enträtseln und das Wesen der ökonomischen Kategorien als gesellschaftliche, das heißt menschliche Verhältnisse zu enthüllen und dem Proletariat zu lehren, den Schein der gesellschaftlichen Verhältnisse der Dinge als eine Widerspiegelung der Arbeits- und Produktionsbeziehungen der Menschen zu erfassen, so ist es Dietzgen gelungen, in dem Schein des Unbegreiflichen und Unkennbaren, der das „Wesen der Dinge“ verbarg, dem Proletariat die Widerspiegelung zu zeigen, in welcher die Natur des menschlichen Geistes sich enthüllte. Und endlich: so wie Marx durch die Aufdeckung der gesellschaftlichen Zusammenhänge zum ersten Mal klar und deutlich zeigte, wie weder die Formen des staatlichen, noch die des rechtlichen, noch die des geistigen Lebens überhaupt wesentlich selbständig sind, sondern alle untereinander und mit dem wirtschaftlichen Leben zusammenhängen – so zeigte Dietzgen durch die Aufdeckung der kosmischen Zusammenhänge, wie Natur und Geist, Wahrheit und Irrtum, Ursache und Wirkung, Allgemeines und Besonderes, kurz. wie alle Kategorien keine selbständigen Wesenheiten, sondern wie sie alle untereinander verschweißt und verbunden sind.
Der dialektische Materialismus bildet die erste befriedigende Antwort auf die Frage nach der Natur des Geistes. Die angebliche Lösung dieser Frage durch den naturwissenschaftlichen Materialismus war seinerzeit wertvoll als ein Instrument des historischen Fortschritts, weil er gegen die übliche Vergötterung des Geistes tapfer reagierte und das menschliche Bewusstsein zum ersten Mal als einen Teil der Natur betrachtete. Aber die Aufdeckung des Zusammenhangs des Geistes mit dem Weltall gelang ihm nicht und konnte ihm – wie Engels nachgewiesen hat – bei dem damaligen Stand der Naturwissenschaft auch nicht gelingen.
So durften Religion und Philosophie noch immer zum Menschen sagen: „Es gibt etwas, was du nicht begreifen, zu dessen Erkenntnis du dich nicht hinaufschwingen kannst. Stolz bist du auf die Kraft deines Geistes, deine Beherrschung der Natur, deine Macht über die Materie. Das ist alles nur Schein. Bloß die Erscheinung, die Außenseite der Dinge kannst du erfassen, nicht ihr Wesen. Das ist und bleibt dir verborgen – all dein Wissen gelangt keinen Schritt weiter zu ihm.“
Wenn es aber ein „nur scheinbares“ Wissen gibt, dann muss es notwendig auch ein wahres, echtes Wissen geben. Und wenn. der Menschengeist nicht imstande ist, in die Welt der echten Erkenntnisse einzudringen, so gehört jene Welt einem von allen Schranken unseres Denkens befreiten Supergeist, der es allein vermag, das Wesentliche zu sehen und die Wahrheit zu erfassen. Dann ist alles menschliche Wissen nur Notbehelf, alle irdische Herrlichkeit des Erkennens nur notdürftiges Surrogat, und das Höchste, wozu der Mensch es bringen kann, ist nicht die Vermehrung dieses jämmerlichen Scheinwissens, sondern die Erkenntnis seiner Beschränktheit, die Ehrfurcht vor dem Unkennbaren und Unfassbaren, von dem er durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt ist; die Sehnsucht nach dem „Höheren“, Übernatürlichen, das er ahnen, aber nie mehr als ahnen kann.
So viel ist klar: solange das Wesen des Bewusstseins nicht erkannt, die Natur des Begreifens nicht begriffen ist, führt immer noch ein Pfad zurück zur religiösen Verehrung des Übersinnlichen, Übernatürlichen und damit zur überschwänglichen Demut, zur erniedrigenden Herabsetzung des menschlichen Lebens, des sinnlichen, das heißt wirklichen Daseins.
Und auf diesen verhängnisvollen Pfad versucht die Bourgeoisie naturgemäß das Proletariat immer wieder zu drängen; denn alles, was den Glauben an zwei Welten wachhält, wodurch die eine über die andere, die Welt der Wahrheit und des Geistes über die Welt der Sinnlichkeit und des Truges thront, wirkt als Hemmnis der Stoßkraft des Proletariats, bildet eine Schwächung seines Kampfvermögens gegen eine Gesellschaft, in der das Los der Vielen düstere Unwissenheit und glanzloses Weitervegetieren ist. Alles, was den Glauben an eine geheimnisvolle, weil dem Menschen unerreichbare Erkenntnis. am Leben erhält, hat die Wirkung, das Proletariat kleinmütig, knechtisch und unterwürfig zu erhalten, es mit Misstrauen zu erfüllen gegen die Richtigkeit seiner Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse und mit Zweifel an seinem Vermögen sie neu zu gestalten. Jede Betonung der unbegreiflichen, mysteriösen Überlegenheit der „höheren Welt“ – sei es auch nur die Welt einer abstrakten, von der Sinnlichkeit oder Realität losgelösten unverrückbaren sittlichen Ordnung – ist geeignet, das Proletariat zu entmutigen und zu demoralisieren, das heißt es dahin zu bringen, seine elementaren Bedürfnisse des Essens und Trinkens, des Obdaches und der Kleidung, des Unterrichts und der Bildung zurücktreten zu lassen hinter imaginäre „höhere“ Bedürfnisse, die angeblich sich dem Wesen nach von all diesen niedrigen, sinnlichen Bedürfnissen unterscheiden. Das Gerede von solchen höheren Bedürfnissen bildet, insoweit es seitens der Bourgeoisie geschieht, nur den Deckmantel für Bestrebungen, die darauf abzielen, das Proletariat zu überzeugen, wie die materielle Umwälzung, die es durchführen will, nur einen sehr relativen Wert hat und für die Menschheit nur ein sehr relatives äußeres Gut bedeutet. Es erhebt in diesem Gerede eine alte Anschauung wieder ihr Haupt. die Anschauung von der guten und verehrungswürdigen Welt der göttlichen Wahrheit als entgegengesetzt der schlechten und verachtungswerten Welt der Sinne, welche in neuer Form aufgewärmt und vorgetragen wird von Mitgliedern der Klasse, welche sich in dieser verachtungswerten materiellen Welt so behäbig als möglich einrichtet, und deren Trachten ausschließlich auf die Erlangung von materiellen Gütern und sinnlichen Genüssen gerichtet ist. Insoweit aber auch in den Reihen des Proletariats selbst dergleichen Herabsetzungen der natürlichen Welt und der menschlichen Tätigkeit vorkommen, sind sie dem Mangel an Klarheit, an Verständnis für seine historischen Aufgaben verschuldet. Denn solange das Proletariat glaubt, es existiere etwas außer- oder oberhalb der sinnlichen Welt, was höher als diese zu schätzen sei, wird es selbstverständlich noch nicht seine ganze volle Kraft auf die Umgestaltung dieser Welt einsetzen, So wie die Tatkraft des revolutionären Bürgertums des 16. Jahrhunderts gewaltig gesteigert wurde durch die, in der Prädestinationslehre religiös verhüllten Gedanken, dass die Möglichkeit eines Aufsteigens zur Macht und Herrlichkeit für jeden Einzelnen vorhanden sei, ebenso wird die revolutionäre Energie des Proletariats gewaltig gesteigert durch die philosophische Einsicht, dass es nur eine Welt – die natürliche, sinnliche, wirkliche – gibt, und dass es gilt, diese zu erobern. Je durchsichtiger diese Welt für das proletarische Denken ausgebreitet liegt, und je klarer der Geist als ein natürliches Produkt dieser Welteinheit erkannt wird, um so fester und entschlossener schreitet das Proletariat auf seinen Bahnen zur Eroberung fort.
Wir deuteten oben kurz darauf hin, dass auch innerhalb der Sozialdemokratie die Weltanschauung des dialektischen Materialismus noch nicht völlig gesiegt hat. Besonders unter den Angehörigen der sogenannten Intelligenz, welche von der Sozialdemokratie angezogen wurden, gibt es noch manchen, der ein mehr oder minder unklares Bedürfnis nach „etwas Höherem“ in sich trägt, und sich bemüht, das Proletariat darauf hinzuweisen, wie alle seine Anstrengungen und Kämpfe in erster Reihe dem Zweck dienen sollen, eine gesellschaftliche Ordnung zu gründen, welche diese Sehnsucht nach dem Höheren im Menschen freisetzen und vermehren kann. Eine solche Anschauung ist, wie die Praxis beweist, sehr wohl mit dem Bekenntnis zum historischen Materialismus vereinbar, der dann aufgefasst wird als eine streng auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaft begrenzte Lehre, ohne Zusammenhang mit allgemeinen oder kosmischen Gesichtspunkten. Es wird dann – ganz so wie Kant das Wissen aufhob, um für den Glauben Platz zu machen – zwar zugegeben, dass der Inhalt des Bewusstseins von den materiellen Bedingungen abhängig ist, aber nur um desto mehr den Nachdruck darauf zu legen, dass Ursprung und Wesen des Geistes außerhalb dieser Abhängigkeit stehen.
Nur. das Eindringen der Dietzgenschen Erkenntnislehre ins Proletariat wird gründlich aufräumen. mit den letzten Resten des Dualismus, der – sei es noch so versteckten – Annahme einer „höheren“ und einer „niederen“ Welt, welche nichts wie die moderne Verkleidung der idealistischen Philosophie ist. Die völlige Befreiung des proletarischen Denkens von den traditionellen Auffassungen, die Überzeugung, dass die sinnliche, wirkliche Welt die einzige ist und es kein „höheres“ Dasein gibt, als die freie Betätigung aller sinnlich-geistigen Kräfte und Fähigkeiten des Menschen – diese Einsicht wird die Kampfeskraft des Proletariats ungemein vergrößern. So wie die materialistische Geschichtsauffassung dem Proletariat die Wissenschaft der materiell-gesellschaftlichen mit den geistigen Zusammenhängen, die spezielle historisch-politische Erkenntnis vermittelt, deren es bedarf, um seine gesamte öffentliche Tätigkeit dem Wesen seiner Stellung im Produktionsprozess und der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen – sowie diese Wissenschaft ihm die Ziele des Kampfes und den Weg, der zu ihnen führt, aufdeckt und es davor behütet, sich von Illusionen hinreißen, von Niederlagen entmutigen zu lassen – so gibt die proletarisch-demokratische Logik ihm die scharfe Klinge in die Hand, mit deren Hilfe es auf dem Kampffelde der geistigen Strömungen alle Schlingen durchschneiden kann, die den gemeinsamen Zweck haben, die Massen in Unterwürfigkeit und Demut zu erhalten.
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Erst die „Schärfung des Verstandes“, welche das Ziel der Dietzgenschen Denklehre ist, ermöglicht es dem Proletariat, den historischen Materialismus völlig im Geiste seiner großen Begründer zu handhaben und die Gesellschaft bis in ihre tiefsten Tiefen zu durchschauen. Zum guten Verständnis der gesellschaftlichen Erscheinungen genügt nicht die Einsicht in die ökonomischen Zusammenhänge, sondern es gehört dazu noch die Aufdeckung jener Ideologien und Abstraktionen, welche mit dem Klassenkampf mittelbar durch vielfache Verschlingungen verbunden sind. Nur die materialistische Dialektik vermag diese Aufdeckung zu liefern, nur sie vermag den Aufschluss zu ermitteln über solche Allgemeinbegriffe wie Wahrheit, Recht, Freiheit, Fortschritt usw., diese ihres mysteriösen Nimbus zu entkleiden und mit hausbackenem Inhalt zu erfüllen. Nur die Übung im dialektisch-materialistischen Denken ermöglicht es dem Proletariat, in komplizierten Fragen der politischen Praxis den richtigen Weg zu finden ohne vorgängige bittere Erfahrungen und harte Enttäuschungen. Denn sie, die materialistische Dialektik, macht die sinnliche Wirklichkeit, das konkrete Sein zum Ausgangspunkt ihrer Forschung; sie trägt ebenso sehr allen zeitlich und örtlich bedingten Widersprüchen Rechnung, wie sie deren Vermittlung auf Grund der wesentlichen Einheit des Universums ins Auge fasst. Deshalb ist die Klärung der Begriffe, welche der dialektische Materialismus schafft, von höchster Bedeutung für die Praxis des Kampfes. Denn ohne maßvolles Unterscheiden und richtiges Verbinden, ohne klare Einsicht in die Relativität der Wissenschaft, in die zeitliche und räumliche Verknüpfung und in den Ineinanderfluss der Dinge, ins Wesen der Entwicklung als eine Abhebung der Gegensätze und ihre Wiedervereinigung zu höheren Einheiten, ohne Erkenntnis des relativen Wesens aller Kategorien, lässt sich keine Einhelligkeit im Kampfe erzielen. Gedanklich betrachtet, sind alle theoretischen und praktischen Verirrungen im Klassenkampf auf ungenügendes dialektisches Denken zurückzuführen, das heißt auf eine mehr oder weniger metaphysische Denkweise, die den Teil als Ganzes, Besonderes für Allgemeines ansieht, entweder übermäßig oder gar nicht unterscheidet, und dem steten Fluss, der ununterbrochenen Wesensänderung der Dinge nicht genügend Rechnung trägt. Das Denken in unvermittelten Gegensätzen, die ungenügende Beachtung des relativen und flüssigen Charakters aller Erscheinungen, bedeutet, wie wir an einigen Beispielen erläutern wollen, die Unmöglichkeit in manchen taktischen Fragen eine richtige Lösung zu finden und die Aktion den unaufhaltsam wechselnden Bedingungen und Verhältnissen in richtiger Weise anzupassen.
Schon die Weise, in der die Frage oft bezüglich gewisser, höchst wichtiger Anschauungen, wie zum Beispiel „Reform oder Revolution“, gestellt wird, zeigt auf metaphysische Auffassungen und Denkweisen, die eine richtige, klärende und fruchtbare Antwort von vornherein ausschließen. Denn bei dieser Auffassung, wie sie zum Beispiel noch im vorigen Jahr auf dem französischen Parteitag zu Toulouse sich fast allgemein zeigte, wird nicht maßvoll, sondern unmäßig unterschieden, werden Mittel und Zweck, Bewegung und Ziel ganz metaphysisch als unvermittelte Gegensätze betrachtet. Es fehlt einer solchen Auffassung die Einsicht, dass jede wirkliche Reform (also beileibe nicht die Scheinreformen, womit die bürgerlichen Klassen die Arbeiter abspeisen möchten) ein Schritt zur Revolution, wie zur leiblichen und geistigen Wiedergeburt des Proletariats ist, während umgekehrt die proletarische Revolution ihrem Wesen nach nichts anderes als eine große Beschleunigung im Tempo und eine starke Vertiefung in der Natur solcher Reformen ist, die auf eine gänzliche Umgestaltung der Gesellschaft hinzielen.
Gewiss, die Vermittlung schließt den Gegensatz nicht aus. So mag es auch manchmal richtig sein, Reform und Revolution einander gegenüberzustellen, wenn man damit in kurzer, prägnanter Weise ausdrücken will, dass die Befreiung des Proletariats sich keineswegs in der kapitalistischen Gesellschaft, sondern nur durch deren völlige Umgestaltung erreichen lässt. Wer jedoch gewohnt ist, in unvermittelten Gegensätzen zu denken, und dem Ineinanderfluss der Dinge nicht genügend Rechnung trägt, der wird leicht dahin gelangen, sich Reform und Revolution als unvereinbare Gegensätze vorzustellen. Und dies hat dann die für die proletarische Bewegung verhängnisvollen Folgen, dass die Befürworter der Reform, die „Reformisten“, auf die kleinste, oft mehr scheinbare als wirkliche Verbesserung der Lage des Proletariats einen ungebührlichen Wert legen, und die gründliche Umgestaltung der Gesellschaft, das Ziel des proletarischen Klassenkampfes, ganz aus den Augen verlieren, während umgekehrt die „Revolutionäre“ auf jede praktische Arbeit mit Verachtung herabsehen und hierbei übersehen, welch mächtiges Mittel die Eroberung von Reformen ist, die revolutionäre Energie, den Kampfesmut und die Kampfeskraft des Proletariats zu heben.
Mangel an dialektisch-materialistischer Einsicht ist es im Grunde auch, worauf alle Verirrungen des Opportunismus, Revisionismus und Reformismus, wie die der entgegengesetzten Richtung, welche wir kurz Impossibilismus bezeichnen, gedanklich zurückzuführen sind.
Der Opportunismus, welcher sich von jeder kleinen Begebenheit, jeder augenblicklichen Lage, jeder zeitlich vorübergehenden Erscheinung beeinflussen lässt und sie, statt die allgemeinen Verhältnisse und den allgemeinen Charakter der konkreten Entwicklung, zur Richtschnur des Handelns machen will – was tut er anders, als das Besondere gegenüber dem mehr Allgemeinen, das rasch Vorübergehende gegen das mehr Bleibende, den flüssigen Charakter der Dinge gegenüber ihrer relativen Stabilität überschätzen?
Umgekehrt der Impossibilismus Dieser richtet seinen Blick ausschließlich oder wenigstens übermäßig auf die Gegensätze und vergisst darüber ihre Vermittlung, er trägt nur den zeitlich wie örtlich bedingten Widersprüchen Rechnung, nicht aber der Möglichkeit ihrer Aufhebung durch die Wesensgleichheit alles Bestehenden; so beraubt er sich der Möglichkeit überhaupt zu handeln, Kraft zur Umgestaltung der Wirklichkeit zu erhalten. Aus einer solchen Auffassung des „Alles oder Nichts“ heraus kann das Proletariat dahin gelangen, die Anwendung bestimmter Rechte wegen ihres unvollkommenen und unzulänglichen Charakters zu verweigern, wie es zum Beispiel in Russland bei den Wahlen für die erste Duma geschah. Es verzichtet also aus einer solchen Geistesverfassung heraus auf den Gebrauch einer Waffe, weil sie ihm nicht wirksam genug vorkommt, und vermindert dadurch die Möglichkeit, sie durch eine wirksamere zu ersetzen.
Ein anderes Beispiel: die sozialistische Parteifraktion De Leons in den Vereinigten Staaten, beschloss, den bestehenden Gewerkschaften gegenüber neue sozialistische zu gründen, weil die bestehenden ihr nicht genügend den Standpunkt des Klassenkampfes zu vertreten schienen. Statt zu versuchen, die Massen der organisierten Arbeiter zum Sozialismus zu erziehen, was freilich eine lange Zeit in Anspruch nehmen dürfte, zersplitterte sie, in der Hoffnung, auf diese Weise schneller zum Ziele zu kommen, die proletarische Bewegung. Das Resultat war: kleine, sektenhafte sozialistische Gewerkschaften neben den alten, in diesen jedoch eine starke Verbitterung gegen die Zersplitterung des Proletariats, welche Jahre andauerte und die Fortschritte des Sozialismus unter den Massen sehr erschwerte.
In dem einen wie in dem anderen Falle entspringt der Impossibilismus gewiss mehr einem durch besondere Verhältnisse und Begebenheiten ausgelösten Gefühlsimpuls als reiflicher Überlegung, wiewohl er sich immer mit logischen Argumenten zu rechtfertigen sucht. Aber soll die Philosophie uns nicht auch dazu dienen, unsere Gefühlsimpulse zu korrigieren, und uns von unklugen Taten, wozu uns Trotz oder Hass oder Übermut zu verleiten drohen, zurückzuhalten?
Fassen wir die Strömungen des Revisionismus und Reformismus nun näher ins Auge, dann werden wir sehen, wie sie gedanklich ganz auf dem Fehler, den Teil für das Ganze, Besonderes für allgemein gültiges anzusehen, beruhen. Der Revisionist lässt sich überwiegend beeinflussen von den gesellschaftlichen Erscheinungen eines gewissen kleinen Zeitraums, etwa einer Periode geschäftlicher Prosperität; oder von solchen, die innerhalb eines gewissen Landes wie etwa England, oder auch einer gewissen Schicht des Proletariats, etwa der hochqualifizierten Arbeiter vorkommen, um von ihnen auf die allgemeinen Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung zu schließlichen. Er unterschiebt eine beschränkte Teilwahrheit einem zu großen Geltungsgebiet; er irrt nicht durch Aufstellung unwahrer Behauptungen, sondern weil er seinen Behauptungen räumlich oder zeitlich einen allgemeineren Sinn gibt, als ihnen zukommt. Er irrt ähnlich, indem er ausschließlich den Machtzuwachs des Proletariats, das Wachstum von Partei und Gewerkschaften, die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft bei seinen Zukunftserwartungen in Betracht zieht, dabei jedoch die Entwicklung des anderen Poles, die reaktionäre Wendung der Bourgeoisie, die Überhandnahme des Scharfmachertums, das Wachstum der Unternehmervereine zu wenig oder wohl gar nicht beachtet.1)
Der Syndikalismus, in mancher Hinsicht das Gegenstück des Revisionismus, sieht ebenso wie dieser seine Teilwahrheiten für allgemeingültig an und versäumt, richtig zu unterscheiden. Mit vollem Recht weist er auf die demoralisierenden Wirkungen des Parlamentarismus hin; er vergisst jedoch den Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Parlamentarismus; er zieht die Umstände nicht in Erwägung, die diesem letzteren einen eigenen Charakter geben; deshalb schließt er ihn mit Unrecht in sein Verdammungsurteil über den Parlamentarismus überhaupt ein. Der Syndikalismus geht ferner aus von der wirklichen Tatsache, dass die gesellschaftliche Entwicklung immer mehr den isolierten ökonomischen Kampf zur Unfruchtbarkeit verurteilt; er schließt von dieser Tatsache richtig auf die Notwendigkeit, die Gewerkschaften immer mehr in die Sphäre des Allgemeinen, d. h. politischen Kampfes zu ziehen. Aber er übertreibt dagegen die Wirkungen der Entwicklung, er schätzt sie ganz unmäßig ein, wenn er nun meint, durch ihr Resultat sei die Existenz der Sozialdemokratie als politische Partei des Proletariats überflüssig und dass die Gewerkschaften zum hauptsächlichen Träger des sozialistischen Gedankens zu machen seien.
Dem „parlamentarischen Kretinismus“, der da meint, die kapitalistische Gesellschaftsordnung fast mechanisch durch das Mittel einer allmählich heranreifenden Parlamentsmajorität in die sozialistische hinüberführen zu können, steht der Generalstreik-Unsinn gegenüber, der glaubt, es sei möglich durch die allgemeine Arbeitseinstellung die alte Welt mit einem Schlag zu stürzen. Die erste Auffassung lässt sich übermäßig beeinflussen von der Tatsache, dass der Parlamentarismus während einer gewissen Periode eine hervorragende Rolle spielt im Befreiungskampfe des Proletariats: er schließt daraus in allzu unbedingter Weise auf die Zukunft, ohne die mannigfaltigen Kräfte in Erwägung zu ziehen, welche dem Proletariat neben dem Parlamentarismus andere Kampfeswaffen aufnötigen können. Die zweite Auffassung richtet den Blick auf die immer zunehmende Bedeutung des Proletariats im kapitalistischen Produktionsprozesse, die stets größer werdende Kompliziertheit der gesellschaftlichen Maschinerie, wodurch jede Unterbrechung der Arbeit an einem Punkte sich im ganzen Gesellschaftskörper immer fühlbarer macht: von diesen Tatsachen geht er aus nicht nur, sondern mit ihnen ausschließlich rechnet er, ohne zu bedenken, wie auch die Repressionsmittel und -kräfte wachsen, worüber der moderne Staat gegen die Arbeiterklasse verfügt.
Der Denkfehler, das eine über Gebühr zu werten, das andere zu unterschätzen, den Teil über das Ganze zu stellen, den Moment über die längere Periode, kurz, der Mangel an richtigem Unterscheiden ist es, der in allen diesen, immer wieder in verschiedenen Formen auftauchenden Fällen die richtige Stellungnahme verhindert oder erschwert.
Eine Anzahl von Streitigkeiten in der Arbeiterbewegung hat ihren Grund in der Unfähigkeit mancher, die Taktik den veränderten Umständen anzupassen, den Resultaten der gesellschaftlichen Entwicklung, welche die Notwendigkeit schafft, Rechnung zu tragen, Kampfesweisen und -mittel, die zu einer Zeit nützlich und tauglich waren, durch andere zu ersetzen oder zu ergänzen. Die Verschwörergesellschaft und der Barrikadenkampf waren erforderlich und gut damals, als es weder Freiheit der Presse noch Rede- und Versammlungsfreiheit gab, als es galt, die Elite der Intelligenz und des Kleinbürgertums aufzuklären und zu organisieren, sowie in Tagen hoher politischer Spannung und großer politischer Entscheidungen ein Bindemittel zu schaffen, das die Konzentration aller revolutionären Kräfte ermöglichte, und der revolutionären Gärung Zeit gab, sich ganz zu entfalten. Als jedoch teilweise durch die Erfolge dieser Kampfesweise selbst, teilweise durch die soziale Entwicklung, die Bedingungen des Kampfes sich geändert hatten, und die Bahn in Mittel- und West-Europa frei geworden war für eine ununterbrochene Aktion der Massen, ihre Aufklärung, Organisation und Erziehung zum politischen Kampf durch Versammlung und Presse, da zeigte sich die frühere Taktik als veraltet, da wurden Verschwörung, Putsch und Straßenkampf aus gut, weil notwendig, schlecht und verhängnisvoll. Im großen Kampf, welcher sich innerhalb der Internationalen Arbeiter-Assoziation abspielte, im Kampf zwischen Marx und Bakunin, kam der Gegensatz zum Ausbruch zwischen dialektischem und metaphysischem Denken. Der dialektisch-denkende, dem ununterbrochenen Fluss der Entwicklung immer Rechnung tragende Marx wollte die Arbeiterbewegung, in Übereinstimmung mit den werdenden Verhältnissen, der sich vollziehenden Umgestaltung der Kampfes-Bedingungen, auf neue Bahnen lenken, während der Metaphysiker Bakunin starr festhielt an der alten Taktik, weil er nicht einsah, dass diese in den neuen Verhältnissen für Mittel- und Westeuropa nur zu nutzloser Kraftvergeudung führen konnte. In ähnlicher Weise war der Terrorismus in Russland in den siebziger Jahren das einzig mögliche Mittel, das Fehlen einer Klasse, die mit ihrer gesellschaftlichen Macht hinter der Handvoll heldenmütigen Kämpfer stehen konnte, zu ersetzen, und deshalb eine notwendige Taktik; jetzt aber, da die gesellschaftliche Entwicklung das Proletariat als revolutionäre Klasse hervorgebracht hat, die Massenaktion wie damals durch Bombe und Revolver ersetzen oder auch „ergänzen“ zu wollen, bedeutet einen vollkommenen Mangel an Verständnis für die Dialektik der Wirklichkeit und führt, wie alles Veraltete, alles tote Fleisch, das sich im lebenden Organismus der Gesellschaft behaupten will, zu Krankheit und Fäulnis, wie die Asew-Affäre lehrte.
So wie aber der Verschwörer- und Barrikadenkampf dazu beitrug, die Bedingungen des Klassenkampfes umzugestalten, und der gesetzlichen, politisch-parlamentarischen Tätigkeit des Proletariats einen breiten Spielraum zu verschaffen, so bildet diese letztere Tätigkeit selbst wiederum eine der Kräfte, welche die Verhältnisse des Kampfes umändern, indem sie die bürgerlichen Klassen dazu bringen, die Macht des Parlamentarismus zu verringern, sowie zu Angriffen auf das Wahl- und Koalitionsrecht des Proletariats überzugehen. So wird das Proletariat vor die Notwendigkeit gestellt zu neuen Waffen zu greifen: eine solche, aus den gesellschaftlichen Bedingungen herauswachsende Waffe findet es im Massenstreik. Aber wiederum ist ein Teil der Kämpfer nicht imstande, die innere Veränderung der Kampfesbedingungen gleich zu durchschauen und die Notwendigkeit neuer taktischer Wendungen zu begreifen. Der einseitige Nur-Parlamentarier, wie der bornierte Nur-Gewerkschaftler, wollen nichts wissen vom revolutionären Massenstreik, ebenso wie der weltfremde Verschwörer der sechziger Jahre nichts wissen wollte vom parlamentarischen Kampf und gewerkschaftlicher Organisation; wie heute der Syndikalist seinerseits nichts wissen will von der Zentralisation der Gewerkschaften, welche die Erstarkung der Macht des Unternehmertums zur Notwendigkeit macht: es fehlt ihnen allen die Flüssigkeit des Denkens, das Verständnis für das dialektische Wesen der Welt, für die unaufhörliche Verwandlung der Dinge.
Man sieht: auch in diesen Fällen ist es der Mangel an dialektischer Auffassung, an Fähigkeit, sich ein richtiges Bild von der Bewegung der Wirklichkeit zu machen, welcher zu Einseitigkeit, zu Zank und Streit führt, das hartnäckige Sichfestklammern an überlebte Kampfesweisen, das Abweisen von notwendig gewordenen taktischen Wendungen verschuldet, und den Kampf des Proletariats
erschwert, seine Vorwärtsbewegung verlangsamt. Nur das materialistisch-dialektische Denken kann den Weg weisen aus dem Labyrinth der mannigfaltigen und widerspruchsvollen Erfahrungen, ihren Sinn aufhellen, und ihre Konsequenzen ziehen.
Diese dialektische Auffassung der Wirklichkeit ist es, die den Fußspuren von Marx und Engels folgende Schüler und Fortsetzer ihrer Lebensarbeit sich bestrebt haben, ins Licht zu stellen bei ihrer Behandlung sozialpolitischer und taktischer Fragen. Ohne Zweifel jedoch würden ihre Arbeiten noch größeres Verständnis finden und noch besseres für die Erziehung der Massen ausrichten können, wenn diese mehr in der dialektisch-materialistischen Denkmethode geschult wären. Die Anwendung unserer Methode auf historischem und soziologischem Gebiete ist doch selbstverständlich für den, der sie kennt und beherrscht, unendlich leichter als für denjenigen, der ihr fremd gegenübersteht und gewohnt ist, mit den unvermittelten Gegensätzen der alten Logik zu operieren. Nichts ist geeigneter, das Verständnis der „stabilen Bewegung und der beweglichen Stabilität“ als Gesetz der Gesellschaft zu fördern, als die Einsicht in das Wesen und in die Gesetze des Denkens und die damit zusammenhängende Natur des Universums. Diese Einsicht und nichts anderes ist es, welche die Dietzgensche Erkenntnistheorie schaffen will. Sie ermöglicht es dem Proletariat, den Weg zur Vermittlung aller Gegensätze, welche sich im Kopf hervortun, zu finden; sie setzt es instand, jeden Versuch zurückzuweisen, welcher die Ziele und Objekte dieses Kampfes als minderwertige, sekundäre darstellt; sie macht es ihm ein Leichtes, mit fehlloser Sicherheit das Allgemeine vom Besonderen, das rasch Vorübergehende vom relativ Stabilen zu unterscheiden.
Es tun sich jedoch noch zwei Fragen oder Bedenken gegen die Dietzgensche Philosophie auf, die wir, ehe wir weiter gehen, kurz beantworten wollen.
Die erste lautet: wenn diese Philosophie sich damit begnügt, wie Plechanow u.a. ihr vorwerfen, mit Verachtung jedes Spezialwissens nur einige allgemeine Grundgedanken in eintöniger Weise zu wiederholen, ist es dann nicht ein bloßes formales Wissen, eine bloße scheinbare Weisheit, die das Proletariat aus ihr schöpfen kann? Und wenn es sich gewöhnt, sich mit diesem formalen Wissen zu begnügen, statt in die mannigfaltigen Erscheinungen der Wirklichkeit einzudringen und danach zu streben, ihren Sinn zu erfassen, wird ihm diese formale Weisheit dann nicht verhängnisvoll? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir das Folgende bemerken. Die Behauptung, Dietzgen erblicke in den allgemeinen Grundgedanken oder Wahrheiten, deren Ausführung und Erläuterung der größte Teil seiner Schriften gewidmet ist, das letzte Wort der Weisheit, welches jedes Spezialstudium, jedes Eindringen in das Besondere überflüssig macht, beruht auf nichts anderem als auf unrichtigem Erfassen der Dietzgenschen Lehre. Mit ebenso viel Fug ließe sich behaupten, der von Marx und Engels aufgestellte Grundgedanke, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, mache jedes historische Spezialstudium, jedes Eindringen in die Struktur der Gesellschaft überflüssig. Die Weltanschauung Dietzgens bildet gerade die Widerlegung der Auffassung, es lasse sich die Welt von oben herab durch die Spekulation, die Arbeit des Gedankens ohne Verbindung mit dem Stoff der Sinnlichkeit, begreifen. Verächtliches. Herabschauen auf die Kenntnis des Besonderen, auf das Spezialwissen, Exaltierung der Philosophie auf seine Kosten – gerade die Dietzgensche Denklehre schließt dies alles aus. Sie bemüht sich ja speziell den Beweis zu führen, dass nicht die Philosophie allein – ebenso wenig wie jede andere wissenschaftliche Spezialität – sondern dass nur die Gesamtheit aller Wissenschaften in ihrer steten Entwicklung imstande sein kann, ein immer trefflicheres Gedankenbild vom Universum zu verschaffen.2) Sie ist sich bewusst, dass die Wissenschaft vom Allgemeinen, die proletarische Denk- und Weltlehre, nur den Rahmen, das äußere Gerüst der dialektisch-materialistischen Weltanschauung liefern kann, und es des Inhalts sämtlicher Spezialwissenschaften, der Verwertung der besonderen Resultate einer jeden bedarf, dies Gerüst annähernd mit Inhalt zu erfüllen.
In der Dietzgenschen Denk- und Weltlehre wird, wie in keiner anderen Philosophie, auf den innigen Zusammenhang der allgemeinen Grundbegriffe und der besonderen Wissenschaften Nachdruck gelegt. Es wird in ihr gezeigt, wie sehr jede wissenschaftliche Spezialität gefördert wird durch die Einsicht in den Zusammenhang zwischen Geist und Welt, Bewusstsein und Materie, wie diese Einsicht ihr notwendig ist, um ihre eigene Aufgabe in der besten Weise zu lösen.
Ebenso sehr betont sie, wie umgekehrt die Philosophie ihr Akquisit nicht auf dem Wege des Grübelns, sondern im steten Zusammenhang mit allen Wissenschaften vermehrt hat. Die Begründung des historischen Materialismus, die Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen dem Materiell-Ökonomischen und dem geistigen Sein – selbst wieder das Resultat eingehender philosophischer, geschichtlicher und ökonomischer Studien – war es ja, welche Dietzgen den Weg zur Begründung der kosmischen Zusammenhänge zeigte. Und neben den Geisteswissenschaften ist es die Naturwissenschaft, deren Bedeutung für die dialektische Auffassung des Kosmos in seinen Werken fortwährend hervorgehoben wird. Zoologie und Embryologie wie Physik und Chemie lieferten ihm zahlreiche Belege zur Begründung des Gedankens, dass es in der Natur keine unvermittelte Differenzen, keine metaphysische Sprünge gibt. Ebenso wichtig wie die Marxsche Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen der Produktion und den politischen, rechtlichen und religiösen Erscheinungen, ebenso wichtig und fördernd ist die Entdeckung Darwins von der Verwandtschaft der Tier- und Pflanzenarten für die Erkenntnis, dass im Kosmos alle Arten verbunden sind und das Naturgesetz jede Stufe durch Mittelwesen ausfüllt.3)
Wiederholt hat Dietzgen es in klaren Worten ausgesprochen, wie sehr die Philosophie auf die Mithilfe aller besonderen Wissenschaften angewiesen ist. Wir wollen hier noch einige bezeichnende Stellen anführen. „Auch die Naturwissenschaft“, heißt es auf Seite 201 der Briefe über Logik (2. Aufl.), „ist eine schätzbare Mitarbeiterin an der Lösung des Weltproblems, … weil sie an so umfassenden Objekten, wie die Einheit der Naturkräfte oder Tierarten, den Geist, das Spezialobjekt der Logik im Lichte schimmern und greifbar macht.“ Im Studium dieses Geistes, wie er nicht nur in der Philosophie, nicht nur in diesem oder jenem Fach, sondern in allen Fächern lebt und webt, d.h. im universalen Wissen erblickte er das Mittel, sich die Denkkunst anzueignen. Auch in der Einleitung zu den „Streifzügen eines Sozialisten in das Erkenntnisgebiet“, einem seiner letzten und reifsten Werke, sagt er von der Verbesserung der menschlichen Denkweise, dass der einzige und natürliche Weg zu ihr in der Vermehrung unserer Spezialkenntnisse besteht. Den Grundgedanken des unzertrennlichen Zusammenhanges zwischen Erkenntnistheorie und Spezialwissenschaft drückt er dort folgendermaßen aus: „Obgleich nun die Erkenntnistheorie, indem sie die Lampe beleuchten will, von der alles Licht ausgeht, die ersehnte Erhellung des Menschenkopfes an der Wurzel angreift, sind wir doch bescheiden genug, anzuerkennen, wie es mit einer solchen Theorie, und wenn sie noch so vollkommen, nicht genug ist. Obgleich alle Spezialitäten dazu behilflich sind, kann doch der Kopf mit keiner Spezialwissenschaft generaliter erhellt werden. Dieser Zweck ist nur stückweise zu erreichen, weshalb wir uns gern bescheiden, wenn der geneigte Leser anerkennen will, dass diese „Streifzüge“ einen kleinen Beitrag zum allgemeinen Zweck der Wissenschaft liefern.“4)
Weder die Philosophie an und für sich, noch das Studium der Generalwissenschaften ohne philosophische, d.h. allgemeine Einsicht, sind für Dietzgen der „wahre Jakob“, der wahre Weg zum Verständnis und zur Beherrschung der Natur, sondern nur das eine mit dem anderen. Nur der Inhalt der Resultate aller Spezialwissenschaften kann die Einsicht in die allgemeinen Weltverhältnisse immer tiefer und besser begründen, und umgekehrt bedarf jede Wissenschaft dieser Einsicht, um sich über ihre Beziehung zum Allgemeinen klar zu werden.
Das zweite Bedenken, das wir jetzt näher betrachten wollen, ist dies: kann eine Philosophie, welche so sehr den Nachdruck auf die Relativität der Gegensätze legt, die Weltanschauung einer kämpfenden Klasse wie des Proletariats sein? Ist sie für eine solche Klasse geeignet? Ist sie für sie nicht eher gefährlich? Ist sie nicht völlig ungeeignet, ihren Willen anzufeuern, ihre Kampfeskraft zu stärken? Vermag dies nicht viel besser die Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Gesellschaft, der historische Materialismus, weil dieser den Gegensatz der Klassen hervorhebt und betont?
Gegen diesen Einwand wäre zu bemerken: wir haben schon oben auf die doppelte Stellung hingewiesen, welche das Proletariat in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt, auf seinen äußersten Antagonismus zu dieser Gesellschaft einerseits, seine historische Aufgabe andererseits allen gesellschaftlichen Antagonismus aufzuheben. Wir bemerkten, wie diese beiden Seiten des gesellschaftlichen Verhältnisses des Proletariats zum besonderen Ausdruck gelangten in der dialektisch-materialistischen Philosophie, welche die Welteinheit über alle Welt–Gegensätze
hinaus zum Grundgedanken hat. Aber diese Philosophie betont keineswegs ausschließlich oder auch; nur übermäßig den Zusammenhang der Dinge, keineswegs ihre Vermittlung auf Kosten ihres gegensätzlichen Charakters. Sie behauptet bloß, dass kein Gegensatz unüberbrückbar, kein Widerspruch unvermittelbar sei. Ob aber in konkreten Fällen das Gegensätzliche oder das Vermittelnde hervorgehoben werden soll, auch das ist eine Frage des guten Unterscheidens,
wozu die materialistische Dialektik ja gerade unseren Verstand schärfen will. Wer als Sozialdemokrat aus der Tatsache, dass die Klassen an ihrer Peripherie durch keine scharfe Grenze voneinander getrennt werden, schließt, dass es mit dem unversöhnlichen Gegensatz
von Bourgeoisie und Proletariat einen Haken habe und diesen bestreitet, handelt keineswegs im Sinne der Dietzgenschen Denklehre; denn nicht das vermittelnde Moment, sondern der Gegensatz zwischen den Klassen ist hier das Wichtigere, dasjenige was als allgemeingültig hervorgehoben werden soll.
Wir werden noch darauf zurückkommen, wie die Eigenschaft der dialektisch-materialistischen Denklehre, ein Ausdruck jener Seite des proletarischen Verhältnisses zur Gesellschaft zu sein, welche die Aufhebung des gesellschaftlichen Antagonismus vorbereitet, zum Resultat hat, die Bedeutung dieser Lehre auch über den Klassenkampf hinaus zu steigern. Hier wollen wir uns damit begnügen, kurz zu zeigen, wie diese Eigenschaft keineswegs einen schwächenden Einfluss auf den Klassenkampf zu haben braucht.
Wir sagen: zu haben braucht; denn wir bestreiten nicht, dass die ausdrückliche Hervorhebung der Relativität aller Gegensätze und Werte, wenn falsch angewandt, wohl imstande ist, zu einem schwächlichen Skeptizismus zu führen. Wer den Begriff der Relativität übermäßig hervorhebt, wird, wie wir oben am Beispiel einer gewöhnlichen revisionistischen Behauptung klarlegen, zweifellos zur Abschwächung des Klassenstandpunktes gelangen und ebenso wird, wer in der Moral in falscher Weise, d.h. ohne rechtes, echtes Unterscheiden sich geriert, durch den Satz, dass der Zweck die Mittel heiligt, zur praktischen Verleugnung der Moral geführt werden. Aber muss auch
nicht derjenige, welcher mit den Grundsätzen des historischen Materialismus falsch operiert, auf die Bahnen des Fatalismus oder in andere Verirrungen gelangen? Ebenso wenig wie Marx daran schuld ist, dass seine Theorie nicht von jedem in ihrer ganzen Tiefe, in ihrem dialektischen Charakter als Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft verstanden wird, ebenso wenig trifft Dietzgen ein Vorwurf, weil es ihm in derselben Weise ergeht. In seiner Lehre ist die Relativität aller Dinge und Unterschiede, aller Gegensätze und Werte nirgends über Gebühr in den Vordergrund gestellt; sie wird nicht mehr betont als der Wirklichkeit entspricht, weil neben der Einheit der Gegensatz, neben der Vermittlung das Trennende seinen vollen Platz behauptet, weil auch die Relativität der Relativität unausgesetzt im Auge behalten wird. Weist doch Dietzgen wiederholt darauf hin, wie auch die Tatsache des Zusammenfließens aller Dinge nur bedingt, relativ richtig ist, nur als Ergänzung des Begriffes ihres schroffen Gegenüberstehens und ihrer Festigkeit Gültigkeit besitzt. Beide Auffassungen sind berechtigt, beide notwendig, zusammen erst bilden sie die richtige Erkenntnis, das annähernd wahre Bild der Welt. Einer Denklehre welche inbetreff der Praxis den Nachdruck darauf legt, dass der Beachtung der einen oder anderen Seite dieses Weltbildes je nach Zeit und Umständen der Vorrang gebührt, wird nur Unverständnis den Vorwurf machen, dass sie durch übermäßiges Hervorheben der Flüssigkeit der Dinge und der Relativität der Werte den wollenden und empfindenden Menschen nicht befriedigen kann.
In der „Hilfe“ hat vor einiger Zeit Herr Pastor Traub, veranlasst, durch die Polemik Plechanows gegen Dietzgen und seine Popularisatoren, behauptet, Plechanow habe in seiner Attacke zwar wissenschaftlich Unrecht, als sozialdemokratischer Agitator dagegen sei er im Rechte; denn vor der Dialektik Dietzgens „zerfließe“ die Welt der Klassenkämpfe, welche der „orthodoxe Marxismus“ sich „so hübsch zusammengezimmert“ hat. Diese Behauptung beweist nur dass Herr Traub sich einen ebenso falschen Begriff von der Dietzgenschen Denk- und Weltlehre, wie vom historischen Materialismus „zusammengezimmert“ hat. Er bemerkt nicht, dass beide statt zueinander im Gegensatz zu stehen, einander ergänzen. Wie sollte es anders möglich sein? Der historische Materialismus ist ja nur die Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode auf die Gesellschaft, und wenn bei dieser Anwendung in der sozialdemokratischen Agitation, den Verhältnissen und dem Zweck entsprechend, der volle Nachdruck auf das Trennende gelegt und der Gegensatz der Klassen scharf betont wird so steht dies ja vollkommen im Einklang mit der Dietzgenschen Auffassung. Hat Dietzgen denn jemals etwas anderes getan, hat er in
seinen zahlreichen Aufsätzen, überall wo es galt die Bedeutung des proletarischen Klassenkampfes ins rechte Licht zu stellen, nicht immer ebenfalls den sozialen Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie hervorgehoben? Nicht nur dies hat er getan, sondern viel mehr; er hat als der Erste deutlich und ausführlich dargestellt, wie dieser Gegensatz auch besteht in der Domäne des Geistes, und welche Formen er darin annimmt.
Nein, der „orthodoxe Marxismus“ hat keinen einzigen Grund, die Verbesserung des Verstandes durch die Pflege des dialektisch-materialistischen Monismus zu scheuen; dieser wird in keinem einzigen Proletarier das Bewusstsein des Klassengegensatzes verringern und schwächen. Wohl aber wird er das kämpfende Proletariat lehren, über die Gegensätze und Differenzen in seinen eigenen Reihen nicht der Gemeinsamkeit des Zieles zu vergessen und erstere nicht über Gebühr aufzubauschen. Es ist eine Eigentümlichkeit der Dietzgenschen Denklehre, dass sie gleichzeitig theoretisch die größte Klarheit in den schwierigsten und heikelsten Fragen, wie die Stellung der Sozialdemokratie zur Religion, und dazu in der Praxis die größte Duldsamkeit fördert, wie auch Dietzgen selbst bekanntlich von einer seltenen Toleranz war nicht nur in Bezug auf innerparteiliche Differenzen, sondern auch dem Anarchismus gegenüber, worüber sich Engels freilich recht wenig erbaut zeigte.5)
Es ist die Hervorhebung dieses Punktes nicht ohne praktisches Interesse, da es nicht wenige Sozialdemokraten gibt, die der Popularisierung der dialektisch-materialistischen Denklehre deshalb nicht zuletzt feindselig gegenüberstehen, weil sie von ihr das Aufkommen eines Sektengeistes innerhalb der Partei erwarten. Sie sind der Ansicht, die Sozialdemokratie habe sich gegen jene Erkenntnistheorie, welche Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein ist, ebenso „neutral“ zu verhalten, wie gegen irgend eine andere neuzeitliche philosophische Lehre. Solche Genossen begreifen nicht, dass die Bekämpfung der Unklarheit, des Konfusionismus betreffs des Verhältnisses zwischen Materie und Geist die Kampfeskraft des Proletariats bedeutend erhöhen wird, und dass das Wesen der neuen Erkenntnistheorie selbst jede Gefahr, sie würde in der sozialdemokratischen Partei unduldsame Tendenzen wachrufen, ausschließt.
Auch Herrn Traubs Behauptung, der dialektische Monismus könne den denkenden und wollenden Menschen nie befriedigen, weil er keine Werte kenne, was er dann an der Beurteilung des Seelenbegriffes bei Dietzgen demonstriert, beruht auf unrichtiger Auffassung der Dietzgenschen Grundgedanken. Hätte Herr Traub gesagt: keine absoluten Werte, so wäre die Sache in Ordnung. Aber weshalb ist es denn notwendig, einen absoluten, überschwänglichen Unterschied zwischen dem Seelengeheimnis und dem Geheimnis der Sinnlichkeit zu konstruieren, um anzuerkennen, dass es zwischen beiden graduelle Unterschiede des Geheimnisvollen gibt, um den Reichtum der Seele mit einer anderen Nuance der Freude zu genießen und der Bewunderung anzustaunen, als die anderen Herrlichkeiten und Wunder des Universums? Wenn Dietzgen vom Sichtbaren und Tastbaren sagt, es sei nicht minder geheimnisvoll, und es gäbe an ihm ebenso Unendliches zu studieren wie an der Seele, so folgt doch aus seiner ganzen Auffassung, er meine mit solchen Äußerungen keineswegs, das Seelengeheimnis sei ununterschiedslos wesensgleich mit dem Geheimnis von Stein und Holz – hat er sich doch wiederholt gegen die Materialisten gewandt wegen ihrer platten Gleichstellung vom Gedanken als „Hirnsekretion“ mit der Galle als „Lebersekretion“ – sondern nur, dass die Ungleichartigkeit zwischen Materiellem und Geistigem deren Verwandtschaft nicht ausschließt.
Ebenso wenig richtig ist es zu sagen, dass Dietzgen in der Moral keine Werte kennt. Wer die Moral auf kein autoritatives oder konventionelles Prinzip stützt, sondern ausschließlich auf menschliche Bedürfnisse, kann selbstverständlich den Gesinnungen, Eigenschaften und Taten der Menschen kein absolutes Wertmaß anlegen, denn er begreift, dass die Moral ebenso wechselnd sein muss, wie diese Bedürfnisse und Interessen es sind. Aber diese realistische Begründung, diese Leugnung jedes absoluten Wertmaßes kann nur zur Verwerfung jedes Wertmaßes überhaupt führen, wo das Recht des Allgemeinen und des Besonderen nicht richtig unterschieden, Gesellschaft und Individuum, Regel und Ausnahme gedankenlos durcheinander geworfen werden. Die Moral hat ihre Wurzeln in gesellschaftlichen Bedürfnissen, in der gegenseitigen Bedürftigkeit der Menschen; jeder Versuch, sie ohne Rücksicht darauf ausschließlich auf die Bedürfnisse der Einzel-Individualität zu begründen, geht von einer falschen Basis aus. Das Individuum kann nur existieren und wirken im Zusammenhange mit dem größeren oder kleinerem Verband (Familie, Stamm, Staat, Nationalität, Klasse), wovon es ein Teil ist. Die Moral besteht, wie wir wissen, für Dietzgen in einer derartigen Regelung der menschlichen Handlungsweise, dass das Recht des Individuums mit jenem der Gesellschaft und seine Existenz in der Gegenwart mit der Zukunft des Menschengeschlechts versöhnt wird.
Aber die Einsicht der Überordnung der Gemeinschaft über die Einzelperson erschöpft noch nicht das Wesen der Moral, und genügt nicht, um dieses ganz zu erfassen. Vollständig lässt es sich erst begreifen im Lichte der Überordnung des Allgemeinen über das Besondere. Genosse Pannekoek hat in seiner vortrefflichen Broschüre „Ethik und Sozialismus“ darauf zum ersten Mal hingewiesen und die Bedeutung der Dietzgenschen Denklehre für das Gebiet der Ethik prägnant dargestellt. Er führt dort aus (Seite 22 und 23), wie das Wesen des Sittlichen im Gegensatz zu dem des Nützlichen nicht nur in der Verschiedenheit zwischen dem, was der Gemeinschaft, und dem, was dem Einzelnen gut und förderlich sei, bestehe, sondern auch in der Verschiedenheit zwischen dem, was allgemein, in der Regel, und dem, was nur ausnahmsweise nützlich sei. Was regelmäßig und normal zweckmäßig und notwendig für die Gesellschaft ist, wird durch unbewusste Absonderung, ohne bewusste Überlegung Norm des Guten und Sittlichen, die sich im Geiste festsetzt, gemacht.
So wie das Denkvermögen aus dem ewig wechselnden Strom der mannigfaltigen Erfahrung das Gemeinsame und Allgemeingültige hervorhebt, und durch Abstraktion die Begriffe bildet, mit Hilfe deren es die Welt geistig reproduziert, so weiß dies Vermögen aus der unendlichen Zahl der wichtigen und unwichtigen, augenblicklichen und bleibenden menschlichen Bedürfnisse solche zu unterscheiden, deren Befriedigung im Allgemeinen nützlich und zweckmäßig ist. Soweit Pannekoek.
Man sieht: wenn der historische Materialismus dadurch, dass er den Ursprung der Moral aus den Klasseninteressen ableitete, dessen gesellschaftliche Natur enthüllte, so gebührt der materialistisch-dialektischen Denklehre der Ruhm, das Wesen der Ethik aus der Natur des Geistes als dem Organ des Allgemeinen abgeleitet und sie damit nach allen Seiten erst vollkommen verständlich und klar gemacht zu haben.
Der Allgemeinheit hat sich das Besondere unterzuordnen; in der moralischen Ordnung heißt dies: dem Willen des gesellschaftlichen Verbandes hat sich die einzelne Persönlichkeit zu unterwerfen; was die Allgemeinheit als gut und recht dekretiert, was ihr nützt, ihr Dasein fördert, ist sittliches Gebot. Hier ist ein moralisches Wertmaß, das zwar nicht das übergeschnappte metaphysische Bedürfnis befriedigt, wohl aber dem redlichen, dem gesellschaftlichen Zweck genügt. Hier liegt das Relativ-Allgemeine der Moral, und weil die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Verbände nur langsam, nur nach und nach sich umwälzen, auch ihre „relative Stabilität. In unseren Zeiten, da die gesellschaftliche Entwicklung zur Auflösung der christlichen und bürgerlichen Moral führt und die proletarisch-sozialistische, welche eine fortgeschrittene Stufe der Moral überhaupt, ein Innigerwerden der gegenseitigen gesellschaftlichen Bedürfnisse darstellt, ihr Geltungsgebiet nur über eine Gesellschaftsklasse ausdehnt, übt die Aufstellung der individuellen Bedürfnisse als Maß der Moral auf zahlreiche Menschen eine verlockende Anziehungskraft aus. Die Abschüttelung von alten und drückenden sittlichen Werten – drückend, weil sie überlebt sind, weil ihnen kein wirkliches gesellschaftliches Bedürfnis mehr zugrunde liegt – empfinden sie als eine wahre Erlösung; sie können sich aber nicht vorstellen, dass neue allgemeine Normen, solche, die in den gesellschaftlichen Bedürfnissen begründet sind, nicht als das Wachstum der Persönlichkeit störend und hemmend, sondern im Gegenteil als dieses fördernd und helfend, d.h. als wohltätig empfunden werden. Daraus resultiert dann die Verneinung nicht nur jener veralteten sittlichen Gebote, sondern jedes sittlichen Gebotes, jeder Rücksicht auf die Gesellschaft überhaupt; die Proklamierung des uneingeschränkten Rechtes der Persönlichkeit oder gar ihrer Pflicht, sich selbst allein zu leben. Solche Verirrungen, in Verkennung der gesellschaftlichen Natur des Menschen, sind natürlich begründet im Wesen der kapitalistischen Produktion, und wir finden sie dementsprechend seit der Renaissance, d.h. seit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Idealisierung durch Kunst und Philosophie, wie es von Ibsen auf kleinbürgerliche, von Nietzsche auf großkapitalistische Weise geschah, verleihen ihnen einen Schönheitsschimmer, der auf gewisse Naturen einen verhängnisvollen Zauber ausübt. Vom Wahne ergriffen, sich selbst leben, ihre Persönlichkeit entfalten zu müssen, zerreißen sie leichtsinnig alle Bande der Familie, verlassen Gatten und Kinder (Nora!), betrachten es manchmal als „Pflicht“ ihrer kostbaren Persönlichkeit gegenüber, jeder flüchtigen Neigung, jeder frivolen Wallung der Leidenschaft oder nur Lust zu folgen; verschmähen sie jede regelmäßige Tätigkeit, jede Berufsarbeit, die ihnen als „erniedrigend“ oder ihrer – oft eingebildeten – künstlerischen Anlagen unwürdig gilt. Solche wurzellose Existenzen, solche eingebildete, ungesellschaftliche Wesen, die sich ihrer Faulheit
und Leichtsinnigkeit als „moralischer Freiheit“ brüsten, gibt es heute nur zu viele. Zwar sind es selten eigentliche Proletarier, die dieser Desiquilibration zum Opfer fallen, sondern überwiegend halb proletarische Intelligenzen. Keine andere Moral ohne religiöse oder autoritäre Sanktion vermag diese Verwirrungen wirksam zu bekämpfen, als die Dietzgensche Auffassung, indem sie lehrt, wie die sittlichen Gebote in der gesellschaftlichen Natur des Menschen begründet sind und die Allgemeinheit einer Zeit oder einer Klasse darüber zu entscheiden hat, was ihren Bedürfnissen entspricht oder nicht, folglich sittlich ist; wie neue Normen, z.B. im Verhältnis der Geschlechter nur als sittlich gelten in dem Grade, dass ihr Nutzen für die Allgemeinheit ins Licht tritt.
So wirkt die Anwendung der materialistisch-dialektischen Erkenntnislehre auf die Moral erhaltend, konservativ dadurch, dass sie zeigt, wie das relativ Feste und Stabile in den Geboten der Sittlichkeit in der Wirklichkeit begründet ist.
Aber auch revolutionär wirkt diese Lehre, indem sie die Notwendigkeit des fließenden Charakters jedes moralischen Gebotes in der Zeit ebenso wie seines begrenzten Geltungsgebietes im Raume aufdeckt. Deshalb kann ihre Anwendung in Bezug auf die Richtung des Willens die Kampfeskraft des Proletariats ganz bedeutend steigern ; denn die Ehrfurcht vor den veralteten Satzungen der Moral ist einer der stärksten Pfeiler, worauf die Macht der Ausbeuter beruht. Die Verwandlung des Proletariers aus einem duldenden Geschöpf in eine rebellische Persönlichkeit erheischt eine Umwertung aller sittlichen Werte, die nur beschleunigt werden kann durch klare Einsicht in das Wesen des sittlich Rechten und Heiligen, durch deutliche Erkenntnis vom relativen Wert aller ethischen Normen und Begriffe. Die alten Tugenden der Unterdrückten: Geduld, Zufriedenheit, Genügsamkeit, Demut sind tugendhaft, solange es für die Unterdrückten aussichtslos ist, ein besseres Leben zu erobern; denn solange verschlimmern Ungeduld und Rebellion nur ihr Los. Sobald jedoch eine Aussicht zur Befreiung sich öffnet, kehren sich jene Tugenden in Untugenden. Die kleinbürgerlichen Eigenschaften, die die bürgerliche Moral der Arbeiterklasse als Tugenden anpreist, wie Arbeitsamkeit, Familiensinn, Bescheidenheit usw. sind es für den kämpfenden Proletarier nur insoweit und solange, als sie nicht in Konflikt geraten mit den Anforderungen des Kampfes. Arbeitsamkeit darf nicht verhindern, dass dem Beschluss der Kameraden, die Arbeit gemeinsam niederzulegen, Folge geleistet wird. Familiensinn und Häuslichkeit sollen hier den Anforderungen des Vereinslebens Konzessionen machen. Bescheidenheit muss überwunden werden, wenn es gilt, für die Ansprüche der Genossen einzutreten usw. Der neue heilige Zweck, das große Werk der Volksbefreiung und die zu diesem erforderlichen Eigenschaften und Handlungen, sollen im Allgemeinen für das Proletariat die Grenzen bilden, wo alles andere als untergeordnet zurückzutreten hat.
Endlich gibt es Situationen und Augenblicke, wo Betätigung der allgemein als Tugenden gepriesenen Eigenschaften wie Wahrhaftigkeit, Milde usw. den großen Zweck des Proletariats nicht fördern, sondern ihm schaden, und folglich die umgekehrte Handlungsweise ihm als tugendhaft gilt. Der Arbeiter, welcher seinen Arbeitsherrn auf dessen Befragen über einen beschlossenen Streik wahrheitsgetreu unterrichtet, auch wenn er weiß, dass diese Tat dem Vorhaben seiner Kameraden verderblich sein kann, ist in ihren Augen ein Schwächling oder Verräter. Wer aber, nach dem allgemein geltenden Grundsatz, dass wir auf indiskrete Fragen zu keinem Wahrheitsbekenntnis verpflichtet sind, den Aushorcher irreführt, um sich und seine Kameraden zu schützen, mithin seine Zuflucht in diesem Falle zur Lüge nimmt, weil die Interessen des Arbeiterkampfes es gebieterisch erheischen, wird von seinen Genossen gelobt und geehrt. Wenn ein wegen großer Ziele unternommener oder mit einer allgemeinen revolutionären Bewegung zusammenhängender Massenstreik, wie es schon tatsächlich der Fall war, auch zahlreichen unbeteiligten Menschen großen Schaden und arge Unannehmlichkeiten verursacht, so wäre die Mildherzigkeit, welche deshalb den Ausstand beendigen würde, schuldhafte Schwäche.
Das Gebot der Solidarität ist einer der Grundpfeiler der proletarischen Sittlichkeit. Sie ist die besondere Form, in die die gesellschaftliche Entwicklung für die Arbeiterklasse das gegenseitige Hilfsbedürfnis kleidet. Jedoch auch dies Gebot ist nicht unbedingt, nicht unter allen Umständen gültig; auch die Solidarität soll nicht überschwänglich und fanatisch, nicht in bornierter Weise aufgefasst und geübt werden, auch hier soll der Mensch mit Verstand unterscheiden, ob nicht ein besonderer Fall die allgemeine Regel durchbricht. Die fanatische Ausübung der Solidarität, wie sie z.B. die Syndikalisten durch die Durchführung des allgemeinen Sympathiestreiks bei jedem Anlass betätigen wollen, führt das Proletariat nicht von Sieg zu Sieg, sondern von Niederlage zu Niederlage. Die Solidarität ist nicht das absolute Gut, der einzige Weg zum Heil für die Arbeiterklasse; sie ist selbst nur ein Mittel, das dem großen Zweck der Vermehrung der Kampfeskraft, der Verstärkung der Machtformation des Proletariats immer untergeordnet bleiben soll. Wo die Ausübung der Solidarität also augenscheinlich die Niederlage der Arbeiter herbeiführen oder verschlimmern, ihre Kampfeskraft folglich schwächen würde, heißt es, auf sie verzichten. So zeigt die Dietzgensche Moral dem Proletariat, in seiner Aktion nicht blinden Impulsen und Trieben zu folgen, sondern sich sowohl von großen Prinzipien leiten zu lassen, wie bei jeder Tat so viel als möglich alle Umstände in Erwägung zu ziehen und ihnen Rechnung zu tragen. Diese Moral ist vor allem realistisch; sie lehrt die Regel mit der Ausnahme zu versöhnen; zwar hilft sie uns, einen festen sittlichen Halt zu finden in demjenigen, was allgemein für gut und recht gehalten wird, mit anderen Worten: was das Interesse der Allgemeinheit erheischt, aber sie lehrt uns auch, dass das Besondere das Allgemeine immer durchbrechen kann, dass die Regel oder Norm nie und nirgends starr, absolut, unbedingt ist. Besondere Umstände können die Aufhebung der selbstverständlichsten Gebote der Moral notwendig machen, besondere Menschen haben das Recht, sich über die Regel hinwegzusetzen, welche zu befolgen die Masse verpflichtet ist. „Kraft“, sagte schon Beethoven, „ist die Moral der Menschen, welche sich auszeichnen.“ Nur soll man nicht vergessen, dass auch hier wiederum nur dem allgemeinen Urteil über eine Tat oder einen Menschen Gültigkeit zukommt; also nicht das, was der Einzelne über sich selbst oder seine Verhältnisse denkt, sondern wie das Urteil der Allgemeinheit darüber lautet, gibt seinem Auftreten moralische Sanktion. Selbstverständlich kann es Fälle geben, wo nur die Nachwelt imstande ist, ein von Vorurteil, Leidenschaft oder Hass ungetrübtes Urteil abzugeben. Ebenso selbstverständlich hat in der Klassengesellschaft nur das Urteil der Angehörigen derselben Klasse, jener Gemeinschaft, deren Mitglieder durch die nämlichen Interessen und Bedürfnisse verbunden sind, Gültigkeit.
Vergleichen wir Dietzgens Ausführungen über die Moral mit Kants berühmtem Grundsatz der praktischen Vernunft: „Handle so, dass die Grundregel Deines Wollens zu jeder Zeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung würde gelten können“ — so wird uns der Unterschied zwischen dem Lebenswert einer Philosophie, welche bei ihren Betrachtungen über die Sittlichkeit von unbedingten, absoluten Werten ausgeht und der realistischen Lehre Dietzgens klar. Kants Grundsatz setzt sich über alle Widersprüche und Gegensätze des wirklichen Lebens hinweg; er rechnet weder mit der Tatsache, dass die menschlichen Interessen in der Klassengesellschaft einander notwendig entgegengesetzt sind, noch mit jener, dass kein Prinzip, keine Grundregel absolut gültig sein kann, sondern besondere Umstände eine jede siegreich durchbrechen können. Kants Grundsatz ist deshalb einfach undurchführbar, sein Wert für das praktische Leben gleich Null. Dietzgens Morallehre dagegen zündet für unseren Geist ein helles Licht an in den dunklen Wirrnissen des Lebens, sie schärft unseren sittlichen Sinn und hilft uns, zur befriedigenden Lösung von ethischen Konflikten zu gelangen. Als ein Führer in der Praxis des Handelns, als ein Licht zur Erhellung des Wesens der Moral leitet die Dietzgensche Erkenntnislehre uns Dienste. Sie lehrt uns durchschauen, wie die Sittlichkeit mit den Naturverhältnissen zusammenhängt. Die von ihr aufgedeckte und begründete allgemeine Tatsache der Abhängigkeit des Bewusstseins von der sinnlichen Welt schließt notwendig die Abhängigkeit auch der sittlichen Empfindungen, Vorstellungen und Anschauungen ein. So wie sie die Wurzel des übersinnlichen religiösen Gefühls gründlich abschneidet, so tut sie es auch mit dem Glauben an jede übernatürliche sittliche Ordnung, jeden geheimnisvollen „kategorischen Imperativ“, jede andere Moral, als die, welche den wechselnden sinnlichen Bedürfnissen der Menschen entspringt.
1) Siehe darüber K. Kautskys „Reform und Revolution“.
2) Das Akquisit der Philosophie, S. 77
3) Das Akquisit der Philosophie, 2. Aufl., S. 41 ff.
4) Vorrede zu den „Streifzügen“.
5) Siehe Anmerkung auf S. 54. Der Herausgeber.
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