Noch auf einem anderen, der Ethik verwandtem Gebiet, ist der dialektische Materialismus unseres Erachtens berufen, viel zur Erhellung der Köpfe beizutragen, nämlich auf dem der Ästhetik, wo ebenfalls noch viel Unklarheit und Überschwänglichkeit herrscht. Auch auf ästhetischem Gebiet finden die bürgerlichen Neigungen zum Mystizismus Gelegenheit, sich zu entfalten, und der Allgemeinbegriff, die Abstraktion der Schönheit, bildet ebenso einen Schlupfwinkel für diese Neigungen, als das Prinzip des Guten. Nicht nur in der Moral und in der Naturwissenschaft hat die Bourgeoisie in den Tagen ihres politischen und moralischen Verfalls das „ignorabimus“ akzeptiert und sich in feiger Demut der Herrschaft eines unergründlichen, übernatürlichen Geheimnisses unterworfen. Auch die Schönheit und die Kunst erklärt sie für unergründliche Geheimnisse, und es ist bezeichnend für die Stellung eben der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft, dass, während sie in Wirklichkeit nur ein äußerliches Anhängsel in ihr bildet – im Gegensatz z.B. zu der klassischen Zeit, dem Mittelalter und der Renaissance, wo sie mit der Gesellschaft organisch verwachsen war – sie dennoch vonseiten der „Kunstsinnigen“ als ein unbegreifliches, übernatürliches Wunder angestaunt und angebetet wird.
Der dialektische Materialismus, zusammen mit den Spezialwissenschaften der Ökonomie, der Geschichte und Kulturgeschichte, der Psychologie und Physiologie ermöglichen es uns, auch das Rätsel der Schönheit zu lösen. Im Lichte der neuen Erkenntnis scheint das ästhetische Vermögen des Menschen, das ihn befähigt, das Schöne zu genießen und hervorzubringen, nicht geheimnisvoller und unbegreiflicher, als irgend eine andere seiner Kräfte oder Fähigkeiten. Die materialistisch-dialektische Denkweise lässt uns begreifen, wie dies Vermögen ebenso wenig, wie jedes andere, feste, unverrückbare Grenzen hat, wie es ebenso zeitlich nach und nach hervortaucht aus der Flut des Natürlichen, sich entwickelt aus unscheinbaren, bis tief in das Tierreich zurückreichenden Anfängen. Sie macht uns klar, wie diese Kraft ebenso sehr, wie jede andere menschliche Kraft und Fähigkeit durch andere Kräfte begrenzt ist, wie daher oft unmöglich zu bestimmen ist, ob eine Empfindung oder Vorstellung „rein“ ästhetisch sei, oder in ihr auch einfache Rührung, sittlich geistige Motive mitspielen. Sie macht uns klar, wie auch das Schöne immer ein Verhältnis zwischen uns und den Dingen, dem Stoff der Sinnlichkeit ist. Sie lehrt uns die Schönheit verstehen als den Inbegriff aller verschiedenen, einander widersprechenden Dinge, welche im Laufe der Zeit das ästhetische Wohlgefallen des Menschen erregt haben. Wir wissen dass es ursprünglich biologische, später überwiegend gesellschaftliche Motive waren, welche das Schönheitsgefühl erweckten und ihm die Richtung wiesen. Wir begreifen, dass, wenn auch der Ursprung der Kunst in der Sinnlichkeit liegt, es eine ungebührliche Einschränkung bedeutet, sie, wie die „Befürworter“ der „l’Art pour l’Art“ tun auf dieses Gebiet beschränken zu wollen, weil das ästhetische Wohlgefallen die Schönheitsfreude, wenn auch ursprünglich an sinnlichen Dingen. an den Sinnen des Gesichts und Gehörs und dem rhythmischen Gefühl dennoch keineswegs ausschließlich an diese geknüpft ist, sondern im Gegenteil wohl vermag, sich mit Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken der verschiedensten Art zu verbinden. Wenn eine Rose, ein Sonnenstrahl schön sind, wenn das Rauschen des Windes über das Plätschern des Wassers ästhetische Empfindungen in uns erwecken so sind diese Empfindungen um so reicher und tiefer, je mehr Assoziationen verschiedener Art in ihnen mitspielen. Und wenn eine Rose, ein Frauenantlitz ein Sonnenuntergang „schön“ sind, so sind eine reine Gesinnung eine tapfere, aufopfernde Tat, ein harmonisches und starkes Leben, ein gesellschaftliches Erwachen es nicht minder, wenn auch in anderer Weise; sinnliche und sittliche Schönheit sind keine unvermittelten Gegensätze. sie schließen einander nicht aus, denn sie sind nicht gänzlich verschieden, sondern im Gegenteil verwandt.
Die Anwendung des dialektischen Monismus auf das Gebiet des Schönen setzt uns instand, sowohl den Hang zum ästhetischen Mystizismus, wie er in der überschwänglichen Anbetung der Schönheit und der Glorifikation des Unbewussten lebt, entgegenzutreten, als auch jene Richtung zu widerlegen, die jeden Zusammenhang der Kunst mit sozialen und ethischen Werten leugnet und sie auf ein bloßes glänzendes Sinnenspiel reduzieren will. Beide Richtungen sind aber zweifellos Äußerungen der allgemeinen Reaktion auf geistigem Gebiete, und es bedarf des materialistisch-dialektischen Denkens, um ihren Zusammenhang mit jener Allgemeinerscheinung nachzuweisen und ihren trügerischen Charakter aufzudecken. Nur von der Grundlage dieser Denkweise aus lässt sich, wie eine proletarisch-demokratische Ethik, so auch eine proletarisch-demokratische Ästhetik schaffen, die in der Form einer Kritik der bürgerlichen Ästhetik mit den geistigen Hindernissen aufräumt, welche sich der Entstehung einer proletarisch-sozialistischen Kunst entgegenstellen, d.h. einer Kunst, welche ihre Aufgabe findet in der Verherrlichung des Klassenkampfes des Proletariats und der Ziele dieses Kampfes.
Außer durch die Anhänger der „reinen“ Kunst, wird die Möglichkeit einer solchen Kunst noch theoretisch geleugnet von den Befürwortern des „allgemein Menschlichen“ in der Kunst. Diese, ebenfalls anti-proletarische, d.h. reaktionäre Strömung geht von dem Grundgedanken aus, die Kunst ist keine Partei- oder Klassensache; der Künstler dürfe sich, will er allgemeines Interesse und Mitgefühl erregen, nur um die Darstellung des Allgemein-Menschlichen bemühen. Es würde uns hier zu weit führen, aus der Weltliteratur den Beweis zu erbringen, dass die großen Dichter in ihren Werken nie das „Allgemein-Menschliche“, sondern immer speziell Menschliches, nämlich das Besondere ihres Volkes, ihrer Zeit und ihrer Klasse abgebildet und verherrlicht haben. Es ist wohl auch nicht anders möglich ; denn das Allgemein-Menschliche ist eine Abstraktion, worauf sich unmöglich eine Kunst gründen lässt. Es bezeichnet entweder den Inbegriff aller einander widersprechenden Neigungen, Eigenschaften und Gesinnungen, welche auf der Welt jemals dem Menschengeschlecht zukamen – in diesem Falle aber schließt es das Besondere der verschiedenen Zeiten und Völker ein. Oder es bedeutet dasjenige, was wirklich allen Menschen aller Zeiten gemeinsam ist: die einfachsten, allgemeinsten Triebe des Hungers und der Liebe, der Selbsterhaltung und der Erhaltung der Art, jene Triebe, die nicht einmal dem Menschengeschlecht ausschließlich eigen sind, sondern die es mit den Tieren teilt. Wer will behaupten, dass sich auf diesen ärmlichen, inhaltsleeren Abstraktionen die Kunst gründen lässt! Es ist auch in Wirklichkeit nie das Allgemein-Menschliche in diesem absoluten Sinne, sondern immer das Allgemeine einer besonderen Zeit, einer besonderen Nationalität, einer besonderen Klasse, das in der Kunst zu neuen, von der Schönheit verklärten Verbindungen entstand. Das Allgemeine der Kunst hat einen besonderen Inhalt, es sind bestimmte Vorstellungen, Anschauungen, Gedanken und Begierden, welche in ihr erscheinen, bestimmte Formen der Liebe und des Hasses, bestimmte Gesinnungen und Eigenschaften, welche sie abbildet, bestimmte Ideale, welche sie verherrlicht: ein bestimmter Bewusstseinsinhalt ist es, welcher zusammenhängend mit der Stellung der Menschen zueinander (d.h. mit der Produktionsweise und den Produktionsverhältnissen) und zur Natur, und, von der besonderen Eigenheit eines bestimmten Künstlers widergespiegelt und umgebildet, in der Kunst einer gewissen Periode erscheint, dieser ihren speziellen Charakter gibt und zu einem idealen Reflex der gesellschaftlichen Bewegung macht.
Auch das Allgemeine einer besonderen Zeit ist jedoch wiederum nichts anderes, als eine Abstraktion, ein Geschöpf unseres Geistes. In der Sinnlichkeit gibt es nichts als unzählige menschliche Regungen, Empfindungen, Vorstellungen und Begierden, unzählige Handlungen und Tätigkeiten: es ist Sache des Geistes, in ihnen das Gemeinsame, d.i. das Allgemeine zu entdecken. Es ist dazu die Sache der schöpferischen Tätigkeit, dies Allgemeine in freier Weise mit Besonderem, d. h. Individuellem zu verbinden, wobei es natürlich sowohl von der Eigenart des Künstlers als von den sozialen Bedingungen der Kunst abhängt, ob Allgemeines oder Besonderes mehr in den Vordergrund tritt. Je mehr das Allgemeine in diesem Sinne in einer Kunstschöpfung hervortritt, desto mehr werden ihre Gestalten zu Typen, welche die eine oder andere „Wahrheit“, d.h. das Gemeinsame, Wesentliche einer Zeit, einer Nation, eines Volkes, einer Klasse, oder einer Kultur verkörpern. Je mehr ein Künstler davon Abstand nimmt, „Allgemeines“ in seinen Gestalten zu verbildlichen und sich dafür mit Vorliebe der künstlerischen Wiedergabe von psychologisch oder physiologisch Eigenartigem widmet, je mehr er mit einem Wort erstrebt, das völlig Besondere, dasjenige, was jedes Individuum zu etwas Apartem, von allen anderen Individuen Unterschiedenem, zu einer Welt für sich macht, auszudrücken, desto weniger wird in seinen Werken die gesellschaftliche Bewegung seiner Zeit sich direkt widerspiegeln,1) desto weniger allgemein und bleibend wird auch ihre Wirkung sein.
In der Regel hat in den Anfängen einer jeden Kunstepoche das Allgemeine über das Besondere den Vorrang. Die Zeit der höchsten Blüte wird durch glückliche Harmonie der Verbindung beider gekennzeichnet, die Zeit des Niedergangs durch das Überhandnehmen des Besonderen, Speziellen, auf Kosten des Allgemeinen. Die Grenze der Kunst bildet nach der einen Seite das Völlig-Unpersönliche, die Auffassung der Gestalt als bloßes Symbol, als Trägerin einer allgemeinen Eigenschaft, Verkörperung einer Abstraktion: hier geht der Kunst das sinnliche Element verloren, sie wird zum Gedankending. Nach der anderen Seite strandet die Kunst an der Bemühung, ausschließlich das Allerpersönlichste und Allerspeziellste, nämlich die rein körperliche Empfindung oder Sensation auszudrücken. Zwischen beiden Extremen liegt das weite Gebiet des künstlerischen Schaffens, wobei die Kunst mehr zum Allgemeinen oder zum Besonderen hinneigen kann, je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen und daraus resultierenden Neigungen der Klasse, der sie entspringt, diese dazu veranlassen, mehr das den Menschen Gemeinsame oder dasjenige, was sie trennt, das Spezielle an ihnen, in den Vordergrund zu stellen.
Jedoch die Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Schönheitslehre ist nicht der einzige Dienst, den sie der ästhetischen Domäne der Arbeiterklasse leisten kann. Viel größer noch als für
die ästhetische Theorie des Proletariats wird ihre Bedeutung sich zeigen für seine künstlerische Praxis.
In allen Epochen hat die Kunst sich auf der gesellschaftlichen Grundlage erhoben, die sowohl die Produktionsverhältnisse, d. h. die Klassenverhältnisse und die daraus hervorgehende Klassenbewegung, also die Beziehungen der Menschen zueinander, als die Produktionskräfte und das mit diesen zusammenhängende Verhältnis der Menschen zur Natur, umfassen. Dies letztere Verhältnis wurde im Allgemeinen von der Kunst mittelbar widergespiegelt, nämlich als Darstellung der mythologischen, religiösen oder philosophischen Gedankenbilder, in denen die Menschen es ausdrückten.
Der historische Materialismus hat zum ersten Male das Wesen und den Untergrund der gesellschaftlichen Beziehungen, d. h. der Verhältnisse der Menschen zueinander klargelegt. Die Natur der Gesellschaft, sowie seine eigene Natur, also ein Teil von ihr, liegt für den proletarischen Künstler hell und durchsichtig zutage, wie es in keiner früheren Periode der menschlichen Entwicklung der Fall war. Er weiß, wie es die Produktionsweise ist, welche in letzter Instanz die gesellschaftlichen Bewegungen und Ziele, die sozialen Kämpfe und sozialen Ideale erzeugt. Er sieht im modernen Sozialismus das Kind der kapitalistischen Produktion und der Arbeiterklasse, er sieht im täglichen Kampf der Arbeiterklasse die Bahn, die Verbindung, die Brücke von der hässlichen, widerwärtigen Wirklichkeit zur goldenen Welt der Träume, zum Ideal. Zum ersten Male in der Entwicklung der Menschheit erfasst der Künstler die Ideale der Liebe und Brüderlichkeit nicht als überschwängliche Vorstellungen, als Erwartungen einer übersinnlichen Welt, sondern als werdende Wirklichkeit, als natürliche Tatsachen, die aus der Umwälzung der Produktion und dem tagtäglichen Kampf der Arbeiter herauswachsen. Und diese Erkenntnis wird der sozialistischen Kunst eine Schwungkraft und eine Vollheit der Realität verleihen, wie keine andere sie besaß.
Aber das Prinzip, welches der Künstler bewusst oder unbewusst aus den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ableitete, bildete, wie gesagt, nur den einen Grundpfeiler seiner Kunst. Der andere Pfeiler war seine allgemeine Auffassung von Natur und Geist, Materie und Bewusstsein, Leben und Welt: das Gedankenbild, in dem sich die theoretische und praktische Stellung, das Verhältnis seiner Zeit, seiner Gesellschaft zur Natur widerspiegelte. Beides zusammen bildete seine Weltanschauung. Der dialektische Materialismus bietet in Verbindung mit den Resultaten der Naturwissenschaften dem proletarischen Künstler die kosmische Seite einer Weltanschauung, deren gesellschaftliche Seite der historische Materialismus bildet.
Dieser letztere, die Einsicht in die historischen Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung, das Verständnis der seiner Klasse zufallenden grandiosen Aufgaben erfüllen ihn mit sittlicher Leidenschaft, mit dem Gefühle der Liebe und des Hasses, welcher aller großen Kunst immer zugrunde lagen. Die dialektisch-materialistische Auffassung des Universums aber erhebt ihn über die Härten und Rauheiten der gesellschaftlichen Gegensätze in die Sphäre der Identität alles Bestehenden und erfüllt ihn mit Harmonie. Sie umgibt seine bewegten Empfindungen und seine leidenschaftlichen Abbildungen vom proletarischen Kampfe mit dem klaren Äther des Einheitsgefühls, sie ermöglicht es ihm, die Schrillheit der menschlichen Dissonanzen ausklingen zu lassen in den Akkord der kosmischen Vermittlung und Versöhnung.
1) Freilich indirekt desto deutlicher, da auch diese Neigung der Kunst mit der Klassenbewegung zusammenhängt.
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