Über die Stellung, welche Dietzgen in der Entwicklung des dialektisch-materialistischen Denkens zukommt, wird heute innerhalb der Sozialdemokratie viel gestritten. Die einen, wie E. Untermann, E. Dietzgen, P. Dauge, sehen in seinen Schriften eine Ergänzung des historischen Materialismus, eine Erweiterung und Vertiefung der marxistischen Lehren. Andere, in erster Reihe Plechanow, sprechen ihm nicht nur jede selbständige Bedeutung ab; sie sind nicht nur der Ansicht, dass Dietzgen den Marx-Engelsschen Lehren nichts Wesentliches hinzugefügt habe, sondern beschuldigen ihn sogar eines gewissen Konfusionismus, einer versteckten Neigung zur idealistischen Philosophie. Und diese vermeintliche Schwäche Dietzgens, bzw. Unfähigkeit, den von Marx und Engels sozialwissenschaftlich begründeten dialektischen Materialismus ganz folgerichtig in sich aufzunehmen und anzuwenden, führt nach ihrer Überzeugung heute die Leute zu ihm, welche „unter dem Einfluss des gegenwärtigen Idealismus, dem historischen Materialismus unbedingt einen idealistischen Kopf aufsetzen wollen.1)
Infolge dieser Kontroverse ist es heute kaum möglich, über Dietzgen zu schreiben, ohne sein Verhältnis zu den Begründern des historischen Materialismus zu berühren, und den ihm zukommenden Platz in der geistigen Bewegung des Proletariats zu untersuchen. Diese Untersuchung wird uns in den folgenden Seiten beschäftigen. Am besten fangen wir, so scheint es uns, damit an, die Interessenten selbst über ihr gegenseitiges Verhältnis zu Worte kommen zu lassen. Wie stellte sich in Dietzgens Bewusstsein sein geistiges Verhältnis zu den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus, zu Marx insbesondere, dar? Was glaubte er ihm zu verdanken? Meinte er durch seine eigenen Schriften – und wenn ja, wie weit – etwaige Lücken in den Marxschen Lehren zu „ergänzen“? War er sich gar eines gewissen Gegensatzes zwischen dem Materialismus von Marx und seinem eigenen „erkenntniskritisch-dialektischen Naturmonismus“ – wie die Dietzgensche Weltanschauung heute wohl genannt wird – bewusst?
Unsere Antwort auf diese Fragen lautet:
Dietzgen bekannte sich sein Lebtag als einen begeisterten Schüler von Marx. Wiederholt hat er es ausgesprochen, ihm verdanke er mehr als wem sonst immer, die Einsicht. in den Weg, welcher ihn zur dialektisch-materialistischen Erkenntnislehre geführt habe. Und zwar war es, neben dem „Kommunistischen Manifest“, in erster Linie die berühmte Vorrede der Marxschen Schrift „Zur Kritik der politisch en Ökonomie“ – man könnte sagen, das wissenschaftliche Manifest des historischen Materialismus – die ihm das Gebiet des Zusammenhanges von Sein und Bewusstsein blitzartig beleuchtete. In seinen „Streifzügen“ äußert sich Dietzgen folgenderweise über die Wirkung dieser „Vorrede“ auf ihn: „Alles, was ich mein Leben lang gelesen und studiert, geschah mit Bezug auf den einen Punkt, den zu erschließen mir am Herzen und im Kopfe lag: wie erlangst Du positive, zweifellose Erkenntnis, das heißt einen Maßstab zur Beurteilung dessen, was wahr und was recht ist? Der zitierte Satz2) führt auf den korrekten Weg, der uns lehrt, was es überhaupt mit der menschlichen Erkenntnis und mit der absoluten und relativen Wahrheit für eine Bewandtnis hat.“3)
Aber nicht nur brachte Marx nach Dietzgens eigenem Zeugnis ihn auf die Spur der neuen materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie. Diese Theorie selbst war schon im Keim, urteilt wiederum Dietzgen, in den Werken von Marx und Engels enthalten: es galt nicht sie zu entdecken, sondern vielmehr auszuarbeiten; Dietzgen brauchte Marx nicht zu erweitern in dem Sinne, als hätte er eine der Marxschen Lehre noch fehlende philosophische Grundlage hinzuzufügen gehabt, sondern nur durch die von Marx selbst unterlassene, systematische Bearbeitung der philosophischen Grundlage der Marxschen Theorie.
In der „Sozialdemokratischen Philosophie“ z.B. spricht Dietzgen das folgende Urteil aus: „Die Philosophie hatte ihnen (Marx und Engels) das Fundamentalprinzip offenbart, dass in letzter Instanz sich die Welt nicht nach Ideen, sondern umgekehrt die Ideen sich nach der Welt zu richten haben.“4) Auch in den in „Erkenntnis und Wahrheit“ neu – oder zum ersten Male veröffentlichten Aufsätzen Dietzgens findet sich eine Anzahl von Belegstellen für die Ansicht, dass er keineswegs die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie und die auf dieser fußende Weltanschauung als seine unabhängig von Marx gemachte Entdeckung ansah.
„Marx hat das Verdienst“, schreibt Dietzgen auf Seite 206 des eben zitierten Sammelwerkes, „eine neue Theorie der Wahrheit, die wahre Erkenntnistheorie, entdeckt zu haben, welche von dem Zusammenhang zwischen Leib und Seele, zwischen Sein und Denken handelt.“5) Und etwas weiter: „Das Fundament (nämlich der Erkenntnistheorie) wurde erst in der Neuzeit entdeckt. Einen besonders schweren Stein hat unser Marx, der Autor des „Kapital“, dazu niedergelegt. Obgleich er denselben nicht erwähnt und nicht besonders bloßlegt, liegt er doch seinen berühmten ökonomischen und geschichtswissenschaftlichen Entdeckungen zugrunde.“6) Schließlich äußert sich Dietzgen noch aus Anlass einer Bemerkung von Engels über Feuerbach wie folgt: „Seine (Feuerbachs) Leistung jedoch betrifft fast ausschließlich den religiösen Teil, während die Philosophie weit mehr umfasst. Marx und Engels haben nicht minder Großes auch im Punkte der Auflösung des philosophischen Rätsels geleistet, obgleich in ihren Schriften mehr davon zwischen, als in den Zeilen zu lesen ist.“7)
So weit über Dietzgens Verhältnis zu Marx und Engels, wie er sich selbst darüber geäußert hat. Man sieht, er nimmt für sich nicht einmal das Recht in Anspruch, mit der Theorie des gesellschaftlichen Materialismus als Ausgangspunkt, den universalen dialektischen Materialismus selbständig entdeckt zu haben. Im Gegenteil, er sagt ausdrücklich: er wolle in seinen eigenen Schriften dasjenige ausgraben, was schon den ökonomischen und geschichtswissenschaftlichen Werken von Marx „zugrunde liegt“; Wahrheiten, die in Marx‘ und Engels‘ Arbeiten zwischen den Zeilen schon zu lesen sind zur Auflösung des philosophischen Rätsels aufdecken. Dietzgen war es bekannt, dass Marx die Absicht hegte, eine Dialektik zu schreiben, sobald er die „ökonomische Last“ abgeschüttelt haben würde. Er erwähnt dies Vorhaben in dem Aufsatz über „Sozialdemokratische Philosophie“, abgedruckt im „Volksstaat“ des Jahres 1876. „Da ich meinerseits nun befürchte“, so fährt er dann fort, „es möchte lang werden, bevor Marx uns mit dieser Arbeit erfreut, und weil ich von jung auf viel und selbständig in diesem Thema geforscht, will ich versuchen, dem wissbegierigen Verstand einen Blick in die dialektische Philosophie zu eröffnen. Sie ist die Zentralsonne, von wo das Licht ausgeht, welches uns nicht nur die Ökonomie, sondern die ganze Kulturentwicklung erhellt hat, und schließlich auch wohl die gesamte Wissenschaft in ihren „letzten Gründen“ erleuchten wird“.8)
Wir werden später sehen, dass Dietzgen sich selbst in diesen und ähnlichen Äußerungen aus übergroßer Bescheidenheit in gewisser Hinsicht Unrecht getan hat. Aber eine wichtige Tatsache erhellen sie zur Genüge: Dietzgen war überzeugt, die Philosophie, das heißt die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie sei die „Zentralsonne“, welche für Marx auch das gesellschaftliche Gebiet beleuchtete. Er hatte wie kein zweiter, – und dies beweist seine große selbständige philosophische Begabung ebenso wie sein tiefes Eindringen in die Lehren von Marx und Engels – von ihrer Methode und gewissen Andeutungen und Fingerweisen in ihren Schriften auf ihre philosophischen Fundamente geschlossen.
Heißt dies nun, Dietzgen habe in seinen Werken schließlich nur eine Erläuterung, eine Paraphrase von Marx und Engels geliefert?
Keineswegs. Erstens schon deshalb nicht, weil die beiden Schriften der großen Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung, welche sich mehr im Besonderen mit dem philosophischen Untergrund des historischen Materialismus befassen, nämlich Engels‘ „Anti-Dühring“ und sein „Feuerbach“, später erschienen sind, als Dietzgens „Wesen der Kopfarbeit“ sowie eine Reihe seiner im „Volksstaat“ veröffentlichten kleinen philosophischen Aufsätze. Und das Vorwort zur zweiten Auflage des „Kapitals“, in der sich die bekannte, von Plechanow als materialistische Erkenntnistheorie von Marx hervorgehobene Stelle9) über die dialektische Denkmethode befindet, erschien erst im Jahre 1873. Die „Thesen über Feuerbach“ wurden erst als Anhang der Engelsschen Schrift über das nämliche Thema im Jahre 1885 veröffentlicht. Folglich kannte Dietzgen, als er sein „Wesen der Kopfarbeit“, das 1869 erschien, verfasste, die Marx-Engelssche materialistisch-dialektische Erkenntnistheorie nicht, konnte sie nicht kennen. Er gelangte zu ihr, wie wir aus der angeführten Stelle der „Streifzüge“ wissen, vorwiegend durch die kurze theoretische Begründung des historischen Materialismus in der Vorrede der Marxschen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“. Er konnte aber diesen Schritt nur tun, weil das Ergebnis seiner langen Studien und seines ganzen Trachtens ihn selbst schon bis an die Schwelle des dialektischen Materialismus geführt hatte: dadurch allein war er imstande, sich die Marxschen Sätze voll anzueignen, von der speziellen Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, zur Einsicht in die allgemeinen, kosmischen Zusammenhänge von Denken und Sein zu gelangen.
Marx und Engels irrten sich also nicht, als sie behaupteten, dass Dietzgen die materialistische Dialektik unabhängig von ihnen noch einmal entdeckt habe; sie ließen ihm damit nur das Recht widerfahren, das heutzutage nicht alle Marxisten mehr dem „Philosophen des Proletariats“ gönnen.
Jedoch die Frage, ob Dietzgen Anspruch machen kann auf das Verdienst, selbständig den „bürgerlichen oder naturwissenschaftlichen“ Materialismus und die Hegelsche Dialektik durch den dialektischen Materialismus „überwunden“ zu haben, kann für den vorliegenden Zweck außer Betracht gelassen werden. Viel wichtiger ist es zu untersuchen, erstens, ob die materialistisch-dialektische Erkenntnistheorie Dietzgens übereinstimmt mit den Äußerungen von Engels auf philosophischem Gebiete und mit den philosophischen Grundanschauungen von Marx; zweitens, ob Dietzgen den allgemeinen Grundzügen des dialektischen Materialismus, wie er sich in den Schriften von Marx und Engels findet, etwas Neues hinzufügt, unsere Einsicht bereichert.
Zwar ist es, was Marx anbetrifft, in gewissem Sinne nicht leicht, uns seine philosophischen Anschauungen vor Augen zu führen. Diese Schwierigkeit ist durch den äußeren Umstand verschuldet, dass Marx bekanntlich seinen philosophischen Standpunkt in keiner systematischen Zusammenfassung ausgearbeitet hat. Wie Max Adler in seiner lehrreichen Untersuchung über „Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft“ mit Recht hervorhebt, pflegen selbst die Anschauungen von Philosophen, welche sie in ausführlichen Schriften dargelegt haben, vielfach umstritten zu werden; wie sollte dies nicht der Fall sein bei Marx, dessen philosophischen Standpunkt wir mit wenigen Ausnahmen aus seinen Schriften auf ökonomischem und geschichtlichem Gebiete abzuleiten haben?
In Übereinstimmung mit dieser Tatsache ist der philosophische Charakter von Marx‘ Lehren nicht ausschließlich oder in erster Linie dadurch aufzudecken, dass wir die spärlichen, auf rein philosophische Fragen. bezüglichen Stellen der Marxschen Schriften erforschen und kombinieren; es liegt auch viel an der richtigen Erfassung des allgemeinen Hintergrundes ihres überreichen Inhalts. Die philosophische Grundlage, welche zugleich den Untergrund der gesamten Lebensarbeit Marx‘ bildet, kommt in jedem Teile seiner ökonomischen und historischen Schriften zum Ausdruck. Wie konnte dies auch anders sein, da Marx‘ Studien auf den Gebieten des gesellschaftlichen Lebens keineswegs für ihn die Bedeutung hatten einer Verdrängung der Philosophie durch die Untersuchung von konkreten Problemen, ein Betreten von neuen Wegen, sondern er im Gegenteil auf diese Wege gelangte, im Fortschreiten auf den Bahnen der Selbstkritik an den philosophischen Problemen seiner Zeit und im Verlangen nach der Ergründung jener Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Bewegung, wozu er den Anstoß durch die Hegelsche Philosophie erhalten hatte.10)
Bekanntlich hat Marx, wo immer er sich über rein-philosophische Fragen aussprach, auf das Bestimmteste gegen die Identifizierung seines philosophischen Standpunktes mit dem „naturwissenschaftlichen“ (oder, wie er sich ausdrückt) bloß anschauenden Materialismus protestiert, wie hoch er dessen kritische Seite auch schätzen mochte. Ebenso hat Engels, dessen philosophischer Standpunkt, nach manchen seiner Äußerungen zu urteilen, diesem naturwissenschaftlichen Materialismus näher war, sich nicht minder bestimmt einer derartigen Identifizierung widersetzt und die im Reifegrad ihrer Zeit begründete Unzulänglichkeit der Materialisten des 18. Jahrhunderts oftmals scharf hervorgehoben. Die Unfähigkeit dieser und aller späteren Materialisten, die Eigengesetzlichkeit des sozialen Prozesses zu erhellen, ihre Auffassung dieses Prozesses als eines totmechanischen, ihre völlige Unfähigkeit, die Änderungen der Menschen durch ihre Umgebung, und umgekehrt die Wandlung der äußeren Umgebung durch die gesellschaftliche Aktivität als eine einheitliche Entwicklung zu begreifen, diese Mängel sind es gerade, welche Marx in seinen „Thesen über Feuerbach“ allen bisherigen Materialisten vorwarf.
Wenn Marx – ungeachtet der Kluft, welche ihn von den materialistischen Schulen verschiedener Observanz trennte – seine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung dennoch als „historischen Materialismus“ bezeichnete, so wissen wir, dass der Grund hierfür in historischen Verhältnissen zu suchen ist, ebenso wie zum Beispiel der Grund dafür, dass er und Engels sich Ende der vierziger Jahre nicht als „Sozialisten“, aber als „Kommunisten“ bezeichneten. Als revolutionäre Denker fühlten sie das Bedürfnis, schon durch die Bezeichnung ihrer Lehre deren bewussten Gegensatz zu der idealistischen Philosophie Hegels auszudrücken. Deshalb wählten sie den Namen „Materialismus“. In Wahrheit bedeutet das Wort materialistisch, wie schon wiederholt bemerkt worden ist, bei Marx genau dasselbe wie empirisch, und Marx wollte durch diesen Ausdruck nur die Tatsache erhellen seines „Zurückgreifens aus der spiritualistischen Sublimierung auf die empirischen Erscheinungsformen des sozialen Daseins“.11) Und genau in demselben Sinne von empirisch, d. h. unserer Erfahrung unterworfen, wendet auch Dietzgen die Bezeichnung materialistisch an. Das Unzulängliche, die Mängel alles bisherigen „Materialismus“ dadurch aufzuheben, dass sie statt von der absoluten von der relativen beziehentlichen Gegenüberstellung von Sein und Bewusstsein ausgingen und die dialektische Natur ihres Zusammenhanges hervorhoben das war der so fruchtbare, Marx wie Engels gemeinsame Grundbegriff, den sie aus der Schule der Hegelschen Philosophie mitbrachten.12) Der zweite Fundamentalbegriff, der, mit dem ersten eng verwandt, zum Angelpunkt der ganzen wissenschaftlichen Arbeit von Marx und Dietzgen wurde, war der Begriff der Entwicklung als einer aus eigener Gesetzlichkeit vor sich gehenden Bewegung. Diese philosophischen Grundgedanken, oder richtiger, diese Verflüssigung und Verlebendigung aller logischen und historischen Kategorien wurden von Marx auf die Untersuchung der gesellschaftlichen Praxis angewendet, während Dietzgen von ihnen aus die kosmischen Zusammenhänge erkenntniskritisch erhellte. Dietzgen demonstriert auf dem Wege der Dialektik die beziehentliche (verwandtschaftliche) Gegenüberstellung alles Seienden, die Entwicklung durch relative Abhebung der Gegensätze und ihre Vereinigung zu höheren Einheiten als das allgemeine Verhältnis zwischen Natur und Geist. Marx zeigt, wie diese selbe Bewegung als relative Opposition von menschlicher Tätigkeit und äußeren Umständen den gesellschaftlichen Prozess bildet. Der Inhalt der Dietzgenschen Schriften bildet die Zusammenfassung des dialektischen Materialismus als universelle Methode oder Denklehre; der Inhalt der Marxschen Werke ihre allgemeine Anwendung auf ökonomisch-historischem Gebiet. Eine Opposition zwischen beiden konstruieren, ist daher sinnlos. Behaupten, dass die genialste Anwendung auf dem Gebiete des gesellschaftlichen Lebens die systematische Darstellung überflüssig macht, ist es nicht minder. Umgekehrt: solange die der Marxschen Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung zugrunde liegende Erkenntnis des dialektischen Zusammenhanges von Sein und Bewusstsein, nicht in einer Spezialuntersuchung zur dialektischen Denklehre entwickelt worden war, fehlte der marxistischen Gesellschaftswissenschaft die erkenntnistheoretische Begründung. Und solange diese fehlte, lag die Wahrscheinlichkeit nahe, dass von den Fortbildnern dieser Wissenschaft manche, die nicht wie Marx durch die Schule der Hegelschen Philosophie gegangen waren, bei ihren historischen Untersuchungen ausschließlich die dialektischen Zusammenhänge in der Gesellschaft berücksichtigen würden, ohne sich über die kosmischen Zusammenhänge klar bewusst zu werden. Was nichts anderes heißt, als dass zwar der Inhalt des Bewusstseins als von der materiellen Welt abhängig erfasst, nicht jedoch dieses selbst immer als eine Form der empirischen Welt erkannt würde.
In seiner „Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie“ gibt Marx, und zwar in dem Abschnitt über „die Methode der politischen Ökonomie“ einige wichtige Aufschlüsse über seine Forschungsmethode, d. h. seine erkenntnistheoretische Stellung zum Gegenstand seiner Forschung.13) Er kennzeichnet sie darin als die „wissenschaftlich richtige Methode“, durch Analyse der vorhandenen abstrakten allgemeinen Bestimmungen wie Wert, Geld, Arbeitsteilung usw. in den Komplex des Konkreten einzudringen. Mit den allen Produktionsstufen gemeinsamen Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden, ist ohne ihre nähere Analyse dieser konkreten Wirklichkeit nicht beizukommen, weil sie nichts sind als die abstrakten Momente, mit denen keine geschichtliche Produktionsstufe begriffen werden kann.14) Nur durch das Analysieren der allgemeinen oder abstrakten Begriffe, ihr richtiges Erfassen und ihre gedankliche Verbindung, kann das Konkrete begriffen, geistig reproduziert werden.
In seiner schon zitierten Abhandlung versucht Max Adler diese von Marx als einzige „wissenschaftlich richtige“ gekennzeichnete Forschungsmethode, die Ergänzung der gewöhnlichen Mittel aller wissenschaftlichen Arbeit durch die logische Untersuchung des Erkenntnisgehaltes der allgemeinen Bestimmungen, in Zusammenhang zu bringen mit der Kantschen Erkenntnistheorie.15) Uns scheint im Gegenteil aus diesen von Marx gegebenen Aufschlüssen über seine Methode die Identität seines erkenntnistheoretischen Standpunktes nicht mit jenem Kants, sondern mit dem Dietzgens hervorzugehen. Marx hat in dem betreffenden Fragment diesen Standpunkt nicht des Näheren auseinandergesetzt; er hat sich nicht in eine Untersuchung der Weise begeben, in der der Geist das mannigfaltige Wesen der Sinnlichkeit zu Einheiten oder Wahrheiten verbindet. Er hat sich begnügt, von der Tatsache der abstrakten Begriffe ausgehend, aufzudecken, wie sie durch Analyse und durch Verbindung mit dem Allgemein-Besonderen einer historischen Periode zu verflüssigen, das heißt mit lebendigem Inhalt zu füllen sind. Er zielt damit auf denselben Prozess der Einteilung und abermaligen Einteilung des Weltbegriffs, auf dieselbe Hervorhebung der menschlichen Freiheit, seiner im Laufe der Zeit sich tätig bereichernden Erfahrung gemäß, diese Einteilung oder Klassifikation nicht als fest und unwandelbar zu betrachten, sondern fortwährend zu prüfen und zu verändern, wie Dietzgen in den Schlusssätzen seines „Akquisit“.
Aber, wie schon bemerkt, Marx streift auch hier mehr vorübergehend die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie, um ihre Anwendung auf die Ökonomie klarzustellen, als dass er selbst eine solche Theorie aufstellt.
Ebenso wenig können wir, im Gegensatz zum Genossen Plechanow, in den berühmten Sätzen, womit Marx in der Vorrede zum „Kapital“ seine Stellung zur Hegelschen Dialektik klarlegt: „Für Hegel ist der Denkprozess . . . . der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ – die Darstellung einer eigenen Erkenntnistheorie erblicken, Marx deutet hier wiederum seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt nur an, und zwar als einen materialistischen, was aber keineswegs gleichbedeutend mit der systematischen Begründung dieses Standpunktes ist. Wie, auf welche Weise, der Menschenkopf das Materielle ins Ideelle um- und übersetzt, darüber gibt uns diese angebliche Erkenntnistheorie keine Auskunft, ebenso wenig wie Engels‘ kurze Erklärung im „Feuerbach“, dass „die Materie nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern der Geist nur das höchste Produkt der Materie ist“ – uns schon einen Aufschluss über das Wesen des Zusammenhangs zwischen Natur und Geist, noch weniger einen solchen über die spezielle Natur des Geistes gibt.
Wir wissen, wie Marx erkannte, dass das Sein sich im Bewusstsein – nach einem trefflichen Ausdruck M. Adlers – „nicht einfach wie in einer plastischen Maske abdrückt“, mit anderen Worten, dass die Erscheinung und das Wesen der Dinge nicht identisch sind oder unmittelbar zusammenfallen.16) Es bedürfe der Wissenschaft, der Abstraktion, das Konkrete geistig zu reproduzieren.
Jedoch durch welche Aktion des Bewusstseins, nach welchen eigenen Gesetzen, die Übersetzung des Erscheinungsstoffes, des Stromes der Sinnlichkeit in Wesen der Dinge oder Wahrheiten, – welche Übersetzung die „Umsetzung“ des Materiellen ins Ideelle ausmacht, – zustande kommt, darüber sagt die betreffende Stelle nichts. Und deshalb ist sie keine Erkenntnistheorie.
Ebenso wenig können wir eine solche in den Sätzen von Engels erblicken, in denen er uns über seine und Marx‘ Richtigstellung der „ideologischen Verkehrung“ Hegels berichtet. „Wir fassten“, so schreibt Engels, „die Begriffe unseres Kopfes wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als die Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs.17) Auch Engels schweigt darüber, in welcher Weise, nach welchen Gesetzen Marx und er annahmen, dass der Menschenkopf die „Abbilder der wirklichen Dinge“ zustande bringt.
Für die Absicht, welche Marx und Engels verfolgten, war dies auch keineswegs notwendig. In all den angeführten Stellen handelte es sich bei ihnen mehr darum, ihren gegensätzlichen Standpunkt zur spekulativen Philosophie hervorzuheben, als zum erkenntnistheoretischen Problem Stellung zu nehmen.
Wenn überhaupt über dieses Problem in den Werken von Marx und Engels nur spärliche Andeutungen zu finden sind, so ist das in erster Linie zurückzuführen auf die historischen Bedingungen, welche in den Jahren ihrer Entwicklung die theoretische Seite der Philosophie Kants, das heißt seine Anschauungen über den Charakter und die Grenzen der wissenschaftlichen Erfahrung, vollkommen zurücktreten ließen hinter seine praktisch-moralischen Lehren. Nicht als Erkenntnistheorie, sondern als metaphysischer Idealismus, als eine Lehre, welche die Priorität des Geistes über die Natur zum Ausgangspunkt nahm, trat die Philosophie ihrer Zeit ihnen entgegen, und diese war es, wozu sie ihren entschiedenen Gegensatz so scharf als möglich betonten.18)
Wohl hat Engels, besonders im „Anti-Dühring“, daneben auch im „Feuerbach“, die dialektisch-materialistischen Auffassungen über das Verhältnis von Natur und Geist im Zusammenhang und ausführlich erörtert. Es soll aber nicht vergessen werden, dass er im ersteren Werke sich nur zum Ziel gesetzt hatte, die Resultate seiner und Marx‘ philosophischen Denkweise polemisch gegen Dühring zu verteidigen; keineswegs jedoch, das Wesen und die Gesetze der Erkenntnisfunktion auf den Grund zu untersuchen. Was er über das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung („Anti-Dühring“, S. 8), über die Auflösung der Philosophie in Logik und Dialektik (daselbst, S. 11) oder über die materielle, reelle Einheit des Seins (S. 31) und die dialektische Natur alles Bestehenden (S. 121) ausführt, deckt sich im Allgemeinen mit den Anschauungen Dietzgens, Der dogmatische Materialismus näherte sich jedoch, wie wir schon hervorgehoben haben, dem philosophischen Standpunkt von Engels mehr als dem von Marx, wie u. a. aus der Stelle im „Feuerbach“ hervorgeht, wo Engels Experiment und Praxis als die schlagendste Widerlegung jener philosophischen Auffassung bezeichnet, welche die Möglichkeit einer erschöpfenden Erkenntnis der Welt leugnet. Es ist klar, dass eine solche Beweisführung keineswegs ausreicht, uns darüber aufzuklären, warum es hinter der Welt der Erscheinungen, womit Experiment und Praxis sich allein befassen, nicht dennoch eine unserem Geiste unerreichbare Welt der Substantialität geben könne. Ebenso ist die Engelssche Bemerkung im „Anti-Dühring“, wo er gegen die tautologische Behauptung Dührings vom einheitlichen Sein polemisierend, obenhin ausspricht, dass die „wirkliche Einheit der Welt in ihrer Materialität besteht“, völlig unzureichend uns einen klaren Begriff von dem Wesen dieser das Geistige einschließenden Materialität zu geben. Die Menschen haben sich seit Jahrhunderten so sehr gewöhnt, materielles Sein und geistiges Sein als zwei ganz verschiedene Welten aufzufassen, die dualistische Weltanschauung hat sich so lange und tief in den Köpfen eingenistet, dass es eingehender Analyse des Wesens des Bewusstseins und seines innigen Zusammenhangs mit der Sinnlichkeit bedarf, ihnen den Dualismus, den metaphysischen Glauben an eine Welt ober- oder außerhalb der Erfahrung auszutreiben. Diese Analyse geliefert, den Beweis des dialektischen Zusammenhangs von Natur und Geist erbracht, und damit den Geist endgültig als eine Naturkraft in die anderen Naturkräfte eingereiht zu haben, dies ist das eigene Verdienst Dietzgens. Die Wissenschaft über den Geist, die Ergründung der Denkfunktion bis zu ihrem Universalzusammenhang ist das Spezialgebiet, durch dessen Erhellung Dietzgen uns instandsetzt, uns in allen Spezialgebieten der Natur- und Geisteswissenschaft systematischer zu orientieren. Und deshalb wird jeder Leser, auch wenn er vorher mit den Werken von Marx und Engels wohlbekannt war, nach einem sorgfältigen und gewissenhaften Studium von Dietzgen seine Einsicht gefördert finden und sich besser imstande fühlen, die historisch-materialistische Geschichts-Auffassung zu verstehen und tiefer aufzufassen. Dietzgen fängt da an, wo Marx aufhört: mit der philosophischen Begründung jener dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie, welche die Grundlage des historischen Materialismus bildet.
Die Bedeutung der Dietzgenschen Lehre für die Theorie und Praxis des Proletariats werden wir in einem besonderen Kapitel behandeln. An dieser Stelle wollen wir nur darauf hinweisen, dass hier das „Plus“ Dietzgens liegt, das neue Glied, welches er hinein geschmiedet hat in die sich immer mehr ausstreckende Kette der werdenden materialistisch-dialektischen Weltanschauung, welche das gemeinsame Werk vieler Geschlechter, zahlloser Denker, Erfinder und Künstler ist. Er hat dadurch, dass er uns enthüllte, wie die geistigen Abbilder der Dinge zustande kommen, nämlich als Verbindungen von dem Stoff der Sinnlichkeit und der subjektiven Einheit des Bewusstseins innerhalb des natürlichen Universalzusammenhanges, den letzten Schleier gelüftet, der noch über dem Wesen des Geistes hing und einen mysteriösen Nimbus verbreitete. Die materielle, natürliche Einheitlichkeit des Seins, die auszusprechen Engels sich begnügt: Dietzgen lehrt sie uns erst begreifen. Er macht uns durch eingehende Betrachtung und mannigfaltige Beispiele klar, wie Materie und Geist nicht absolut zu trennen sind, wie es zwischen ihnen keinen klaffenden Riss gibt, sondern unzählige Abstufungen; er hat als erster den Begriff der Materie so weit gezogen, dass alles was empfunden wird, darin Platz finden kann. Durch ihn erst fassen wir, was es heißt, dass das Denken ein Stück des Seins, durch ihn erst wird es uns klar, wie das Sein das Denken nicht nur bestimmt, sondern wahrhaft erzeugt, das heißt wie nicht nur der Inhalt des Bewusstseins abhängig ist von den materiellen Verhältnissen, sondern wie dieses nur im Zusammenhang mit der Sinnlichkeit überhaupt existieren und arbeiten kann, so wie das Auge nur im Zusammenhang mit dem Sichtbaren sehen und das Ohr im Zusammenhang mit dem Hörbaren hören kann. Engels hat die Behauptung ausgesprochen, „der Geist ist ein Produkt der Materie, das heißt der Natur“, Dietzgen hat uns erst durch seine Analyse der Denkfunktion, durch die Aufdeckung ihres dialektischen Verhältnisses zum Universum, diese Behauptung verständlich gemacht.
Es mag hier die Bemerkung des Genossen Plechanow unberührt bleiben, dass schon die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, speziell Holbach, sich um die Aufklärung des Zusammenhanges von Sein und Bewusstsein wohl verdient gemacht und den Geist, als mit dem ganzen Dasein verbunden, dargestellt haben. Es mag die Ansicht unbestritten bleiben, dass der Gedanke der Verwandtschaft aller Formen des Daseins von Heraklit bis Hegel, Feuerbach und Marx das Gemeinsame in der Weltanschauung aller dialektisch denkenden Philosophen gebildet hat. Dietzgen würde der letzte sein zu bestreiten, dass er von ihnen allen gelernt hat, dass er den Spuren gefolgt ist, welche diese großen Forscher durch das Feld des Gedankens gezogen haben. Hat er selbst nicht immer wiederholt, die menschliche Wissenschaft, die Erhellung des Kopfes sei das gemeinsame Werk aller Menschengeschlechter und zahlloser Kopfarbeiter; hat er nicht immer wieder darauf hingewiesen, dass „der Denkapparat ein demokratisches Instrument“ sei, und das „Akquisit der Philosophie“ ein Produkt der gesamten Entwicklung?
Er war sich vollkommen bewusst, dass seine Philosophie wurzelte im gesellschaftlichen und geistigen Zusammenhang der Jahrhunderte, in der „geschichtlichen Völkerbewegung“, wie er sich ausdrückt.19) Er erkannte, wie die materialistische Dialektik ebenso sehr das Resultat war einer jahrtausendlangen Entwicklung der Philosophie, als die Frucht des Aufsteigens einer neuen Klasse, fähig die letzten Hüllen, welche das Wesen des Geistes wie des Universums
noch verbargen, abzustreifen.
Worauf es jedoch ankommt, was es gilt festzustellen, ist, ob Dietzgen das Kollektivprodukt der Kulturentwicklung vergrößert, zum Akquisit der Philosophie etwas Neues hinzugefügt hat. Mag er auch selbst in übergroßer Bescheidenheit sich manchmal dahin geäußert haben, dies herauszufinden sei „wahre Schildbürgerarbeit“, so war er sich doch zweifellos bewusst, einen selbständigen Beitrag zur erkenntnistheoretischen Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus geliefert zu haben und dies Bewusstsein erfüllte ihn mit gerechtem Stolze. Schrieb er doch selbst in den „Briefen über Logik“: „ich mache Anspruch darauf, in der Sache, wovon ich hier reden will, Erkenntnisse getan zu haben, die über das hinausgehen, was ich sonst wo in der Fachliteratur finden konnte.“ Und auch in dem bekannten Brief an Marx spricht er deutlich aus, eigenem Nachdenken die wissenschaftliche Einsicht in die Natur des Denkprozesses, „des Fundamentes aller Wissenschaft“, und damit in das Wesen des Allgemeinen zu verdanken.
Dies Wesen klar erkannt und damit die bisherigen Ergebnisse der Philosophie wesentlich bereichert zu haben, – das ist die wissenschaftliche Großtat Dietzgens. In seiner Untersuchung über das Problem der Erkenntnis hat er ein neues helles Licht angezündet neben all den anderen Lichtern, deren seit Jahrhunderten wachsende Zahl die Natur des Bestehenden aufklärt und die menschliche Unwissenheit immer mehr beseitigt. Er hat getan, was den französischen Materialisten nicht gelang, und was nur einem durch die Schule der deutschen idealistischen Philosophie hindurch gegangenem Materialismus gelingen konnte, nämlich die „tätige Seite“ des Idealismus entwickelt. Er hat klargemacht, wie und weshalb der Geist nicht nur Produkt, sondern ebenso sehr wirkende Ursache ist. Dadurch hat er die Rolle der menschlichen Aktivität in der gesellschaftlichen Entwicklung und deren Eigengesetzlichkeit erkenntnistheoretisch begründet.
Das Verdienst Dietzgens auf philosophischem Gebiete nicht anerkennen wollen, ihm jede selbständige Bedeutung Marx und Engels gegenüber absprechen, heißt: einen ganz falsch verstandenen Kultus mit den großen Vorkämpfern des wissenschaftlichen Sozialismus treiben. Es wird doch wirklich der Ruhm ihrer bahnbrechenden Leistungen und die Bedeutung des universellen Genius Marx um nichts geschmälert durch die Anerkennung, dass auf dem speziellen Gebiete der Philosophie ein anderer, und zwar nach eigener Aussage von Marx selbst, das Allgemeine, was die für viele verborgene Grundlage ihrer Lehren und ihrer Methode bildete, ans Licht gezogen und in allen seinen Konsequenzen durchdacht und entwickelt hat. Denn – wir wollen dies nochmals hervorheben, weil wir es für äußerst wichtig halten – die Marxsche Gesellschaftswissenschaft entsprang unseres Erachtens keiner auf sich selbst beruhenden Auffassung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern war eine Anwendung seiner dialektisch-materialistischen Weltanschauung, seiner Erfassung der kosmischen Zusammenhänge.
Deshalb können wir uns auch keineswegs einverstanden erklären mit der Ansicht Eugen Dietzgens, es ließen sich im 19. Jahrhundert vier Hauptrichtungen der Dialektik unterscheiden: nämlich die Hegelsche oder rein gedankliche, die Darwinsche oder biologische, die Marxsche oder historisch-ökonomische und die Dietzgensche oder die universell-naturmonistische.20) ) Wir sind, wie gesagt, im Gegenteil der Ansicht, dass die Einsicht in die materialistisch-dialektischen Gesamtweltzusammenhänge, so wie Dietzgen diese zuerst in allen Konsequenzen entwickelt hat, auch die allgemeine philosophische Grundlage der Marxschen Schriften bildet.21) Wir können also dem Genossen Eugen Dietzgen nicht beipflichten, wenn er sagt, dass in dem historischen Materialismus die dialektisch-materialistische Weltanschauung nur so enthalten war, wie etwa mit dem gegebenen Hauptteil eines Organismus, dessen übriger Zusammenhang angedeutet ist. Und wir berufen uns gegen diese Auffassung auf das Zeugnis Josef Dietzgens selbst, der, wie die vorher angeführten Belegstellen beweisen, im Gegenteil der Meinung war, dass die ökonomischen und gesellschaftlichen Entdeckungen von Marx auf einer materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie beruhten.
Diese Auffassung scheint uns für die Aussichten der Dietzgenschen Lehren selbst, das heißt für ihre Verbreitung unter das Proletariat, und darauf kommt es uns, seinen Anhängern und Verehrern doch an erster Stelle an, vorteilhafter, als anzunehmen, dass Marx und er zwei verschiedene Phasen in der Entwicklung der Dialektik verkörpern; denn aus einer solchen Auffassung lässt sich nur allzu leicht von „Über-Marxisten“ ein gewisser Gegensatz zwischen Marxismus und Dietzgenismus konstruieren. Auch den in der Kontroverse der letzten Jahre geprägten Ausdruck „engerer“ und „weiterer“ Marxismus verwerfen wir als ein unglückliches und verwirrendes Wort.22) Wird die Dietzgensche Erkenntnistheorie ihre Rolle als Führerin des Proletariats auf philosophischem Gebiete erfüllen können – und wir glauben, dass diese Rolle ihr zukommt – so müssen ihre Anhänger so viel als möglich zu verhüten suchen, dass sie von gewissen enragierten Marxisten in Gegensatz zur Marx-Engelsschen Lehre gebracht und den Arbeitern als eine halb idealistische Abschwenkung präsentiert wird. Gerade Ausdrücke, wie „erweiterter“ im Gegensatz „zum „engeren“ Marxismus, bieten eine Handhabe zur Konstruierung eines solchen Gegensatzes. Erschwert dagegen wird sein Aufkommen, wenn wir uns bestreben, die unseres Erachtens augenscheinliche Identität des Marxschen und Dietzgenschen Standpunktes ins Licht zu stellen und klar zu machen, wie in dem Punkte, wo man zuerst eine Neigung zur Abschwächung des Materialismus bei Dietzgen annehmen könnte, nämlich in Betreff der angeblich von ihm bestrebten „Versöhnung“ zwischen Materialismus und Idealismus; hier ist es nur die – freilich in der ganz gewaltigen Verschiedenheit der psychologisch-moralischen Anlage wurzelnde – Verschiedenheit der Vorstellungs- und Ausdrucksweise, welche den Schein eines Gegensatzes zwischen Marx und Dietzgen aufkommen lässt.
Marx war – nach dem trefflichen Ausdruck M. Adlers – ein „Welteroberer auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften“, ein Denker von titanischer Kraft. Gleichzeitig war er ein hervorragender Mann der Tat, ein gewaltiger Kämpfer auf praktischem Gebiete. Die bei ihm in erstaunlichem Grade sich darstellende harmonische Vereinigung von intellektuell-moralischen Fähigkeiten, die häufig einander ausschließen, bildet eins der prägnanten Merkmale seines Genius. Und wir glauben, dass im Wesen seines Denktypus auch der eigentliche, tiefere Grund dafür zu suchen ist, weshalb es nicht zur Abfassung der von ihm geplanten Logik und Geschichte der Philosophie kam. So wie er in der letzten These über Feuerbach das Resultat seiner philosophischen Studien zusammenfasste: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ – so wie er den innigen Zusammenhang, den er zwischen der wissenschaftlichen Erfassung der Weltzusammenhänge und dem proletarischen Klassenkampf erblickte, in dem prachtvollen Aphorismus ausgedrückt hat: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“, so hat er sein ganzes Leben hindurch Wissenschaft und Kampf vereint. Vereint nicht nur in dem Sinne, dass er immer bereit war, wo das Interesse der proletarischen Bewegung es erheischte, seine theoretischen Arbeiten zu unterbrechen, um der Organisierung wie dem Kampfe des Proletariats seine kostbare Zeit und seine besten Kräfte zu widmen, sondern vereint vor allem in dem tieferen Sinne, dass, so wie seine agitatorische und organisatorische Tätigkeit sich immer nach allgemeinen, das heißt wissenschaftlichen Gesichtspunkten richtete, umgekehrt auch durch jede Zeile seiner wissenschaftlichen Werke die Leidenschaft des revolutionären Kämpfers, die Empörung des kämpfenden Proletariats selbst gegen seine Unterdrücker und Ausbeuter hindurch leuchtet. Diese geistige Disposition ist nicht die des Philosophen. Gewiss kann sie zusammengehen – und bei Marx ging sie praktisch zusammen – mit der größten Begabung zum abstrakten Denken. Aber sie schafft keine Vorliebe zur Beschäftigung mit abstrakten Problemen wie sie zur Sphäre der eigentlichen Philosophie gehören, sondern im Gegenteil eine Neigung für die Untersuchung der Fragen des gesellschaftlichen Lebens.
Denn es ist selbstverständlich: die Leidenschaft des Kämpfers kann nur hinzielen auf die Sphäre der menschlichen, gesellschaftlichen Verhältnisse und Zusammenhänge. Deshalb, als Folge dieser außerordentlichen Verbindung der höchsten philosophischen Veranlagung mit der Psyche des Kämpfers waren die philosophischen Studien von Marx seit seiner Jugend instinktiv auf die Gesellschaft gerichtet. Deshalb wurde er mit solcher Macht hingezogen zur Untersuchung der Triebkräfte der ökonomisch-sozialen Entwicklung, zur Aufdeckung der tiefsten Wurzeln der Klassengegensätze unserer Zeit, zur Analyse ihrer Klassenkämpfe. Im „Kapital“, in der Darstellung der ökonomischen Begründung der Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat, fand er das seiner Begabung adäquate, sozusagen epische Thema, dessen Darstellung nicht nur die größte Macht des abstrakten Denkens, verbunden mit der höchsten Fülle der Wissenschaft, sondern auch die glühende Leidenschaft des revolutionären Kämpfers erheischte.
Arbeiten rein philosophischer Art erfordern eine ganz andere Geistesverfassung, eine Natur, deren ursprüngliche Veranlagung an erster Stelle auf die Hervorhebung des Zusammenführenden, Vermittelnden und Auslösenden gerichtet ist, während Kämpfernaturen umgekehrt das Trennende und Scheidende vor allem zu betonen pflegen.
Eine solche philosophische Natur war Josef Dietzgen. Eine philosophische Natur nicht nur in dem Sinne, dass eine eigenartige Begabung, sein spezielles Talent in der klaren Erfassung des Allgemeinen lag – während Marx als ein universelles Genie ebenso das Gebiet des Allgemeinen wie die speziellen Geistes- und Naturwissenschaften beherrschte –, sondern eine philosophische Natur auch in seinem ganzen Verhältnis zum Leben, in seiner Persönlichkeit, wie er uns diese in seinen Werken und nicht minder in seiner Korrespondenz erschließt. Ein friedfertiger Geist, von ruhiger Heiterkeit, der das tiefste Substrat, die eigentliche Essenz aller dialektischen Philosophie, das „Alles in Allem“ immer und unmittelbar empfand, dem das Herauskehren des Vermittelnden und Verbindenden im Leben wie in seinen Lehren deshalb natürlich war: so war Dietzgen.
Vergegenwärtigen wir uns zum Beispiel seine allgemeine Stellungnahme zum Anarchismus sowie sein praktisches Verhalten zu den Anarchisten von Chicago in den bewegten Tagen von 1886.23) Und wie wir wissen, entsprang dieses Verhalten keineswegs bei Dietzgen einem schwächlichen Konfusionismus, sondern ausschließlich der Auffassung, dass es in gewissen Umständen gezieme, nicht das Sozialisten und Anarchisten Trennende, sondern das ihnen Gemeinsame hervorzuheben. Vergleichen wir mit dieser Haltung Dietzgens das Vorgehen von Marx gegen Bakunin, seinen ganzen unerbittlichen, unversöhnlichen Kampf gegen den Anarchismus in der Internationale, so ermessen wir auf einmal den ganzen gewaltigen Gegensatz – hier ist das Wort am Platze – in der Eigenart beider Männer. Eine andere Illustration dazu liefert uns ein Vergleich der Marxschen mit der Dietzgenschen Polemik. Marx sieht in dem, gegen den er polemisiert, immer den Gegner, den er im Interesse der proletarischen Bewegung treffen und wenn möglich vernichten will; er fasst das Trennende zwischen seiner Anschauung und jener des Gegners scharf ins Auge und führt es auf die Spitze, er zermalmt ihn unbarmherzig unter seiner mächtigen Löwentatze. Dietzgen dagegen zeigt sich in den zahlreichen Stellen seiner Werke, wo er gegen bürgerliche Philosophen oder Gelehrte auf dem Gebiete der Naturwissenschaft polemisiert, immer bemüht, das Gemeinsame in ihrer und seiner Auffassung hervorzukehren, zu zeigen, wie der Gedanke sich von einem zum anderen nicht sprunghaft und unvermittelt, sondern in ununterbrochenem Wachstum entwickelt.
Man kann den oben von der psychologisch-individuellen Seite aufgefassten wirklichen Gegensatz zwischen Marx und Dietzgen jedoch in ganz anderer, nämlich allgemeiner Weise ausdrücken. Die proletarische Bewegung hat zwei Seiten, die der antagonistischen Stellung des Proletariats in der bürgerlichen Gesellschaft entsprechen. Als Klasse steht es im schärfsten Gegensatze zu dieser Gesellschaft, gleichzeitig jedoch strebt es und muss es streben nach Aufhebung aller Klassengegensätze; seine ganze gesellschaftliche und geistige Aktivität arbeitet unaufhaltsam diesem Ziele zu. So ist seine Bewegung teils Klassenbewegung, teils nicht; alle Maßnahmen, die es durchsetzen will, die ganze gesellschaftliche Umgestaltung, die es erstrebt, haben diesen gegensätzlichen Charakter: seine Klasseninteressen laufen gleichzeitig sämtlichen Interessen anderer Klassen zuwider und verbinden sie.
Einen doppelten gegensätzlichen Charakter hat ebenfalls die materialistisch-dialektische Weltanschauung. In ihr verbindet sich die Aufdeckung der beziehentlichen Gegenüberstellung aller Attribute oder Wesen, der Relativität aller Gegensätze, mit der Darstellung der Entwicklung durch die Bewegung dieser voneinander abgehobenen Gegensätze und deren Vereinigung zu höheren Einheiten. Bei der Darstellung des Zusammenhangs zwischen Natur und Bewusstsein gelangt besonders die erste dieser Seiten in den Vordergrund, die zweite dagegen bei der Anwendung der Grundgedanken des dialektischen Materialismus auf die Entwicklung von Natur und Gesellschaft. Die Hervorhebung der ersten Seite, das heißt die Ausarbeitung der allgemeinen Grundlinien des dialektischen Materialismus bildete die Lebensarbeit des beschaulichen, mehr die Relativität aller Gegensätze als diese selbst empfindenden Philosophen Dietzgen. Die Aufdeckung der Bewegung der Gegensätze in der menschlichen Gesellschaft – und nicht Hervorhebung ihres relativen Charakters, sondern im Gegenteil ihre notwendige scharfe Abhebung und Gegenüberstellung bildete das Lebenswerk des mit Kampfesleidenschaft durchtränkten Denkers Karl Marx. Die „proletarisch-demokratische Logik“, wie Dietzgen seine Philosophie mehrfach nennt, die Lehre von der nur relativen Opposition, von Natur und Geist, vom Ineinanderfluss beider in das Sein, konnte unmöglich die Abhebung, das Trennende und Scheidende in den Dingen in den Vordergrund stellen, und der historische Materialismus, die Wissenschaft von der Klassenbewegung und ihre Aufdeckung in den gegensätzlichen Interessen der Klassen musste umgekehrt auf die trennenden Momente, auf die Abhebung der Gegensätze den Nachdruck legen.
Nur auf ungenügendes Erfassen des Kernes des dialektischen Materialismus ist deshalb die gegen Dietzgen erhobene Beschuldigung zurückzuführen, als sei seine Lehre eine verkappte Wendung zum Idealismus, dadurch, dass sie als eine „Aufhebung des Gegensatzes zwischen Idealismus und Materialismus“ sich präsentiert.
Was bedeutet dieser Ausdruck bei Dietzgen? Welcher Art ist die Versöhnung, welche er im dialektischen Materialismus zwischen den beiden großen gegensätzlichen Weltanschauungen der Vergangenheit zu erreichen strebt?
Unsere ausführliche Übersicht seiner Lehre enthebt uns der Notwendigkeit, im Detail zu zeigen, dass er keineswegs bezweckte, dem Idealismus wieder ein Hintertürchen zu öffnen. Insoweit materialistisches Denken bedeutet, die Natur als das Ursprüngliche, Primäre, Schaffende, den Geist als das Sekundäre, Abgeleitete zu betrachten, war Dietzgen ein ganz folgerichtiger Materialist. Wir wollen dies zum Überfluss noch durch Anführung einiger charakteristischer Stellen beweisen, in denen seine Stellung zum Idealismus, auch zu dessen abgeschwächter Form, besonders drastisch zum Ausdruck kommt.
„Einem vorurteilsfreien Menschen“, heißt es in der „sozialdemokratischen Philosophie“, „kann es nicht zweifelhaft sein, dass der geistige Stoff, oder besser ausgedrückt, dass die Erscheinung unseres Erkenntnisvermögens ein Teil der Welt ist und nicht umgekehrt. Das Ganze regiert den Teil, die Materie den Geist, wenigstens in der Hauptsache, wenn auch nebensächlich wiederum die Welt vom Menschengeist regiert wird. In diesem Sinne also mögen wir die materielle Welt als höchstes Gut, als erste Ursache, als Schöpfer des Himmels und der Erde lieben und ehren“.24) Deshalb verspottet Dietzgen die Idealisten als „reaktionäre Retraite-Bläser“;25) ihre Sekte nimmt aber von Tag zu Tag ab, ihre letzten Überbleibsel sind solche, welche über den religiösen Aberglauben wohl längst hinaus sind und doch von dem „Glauben“ nicht ablassen können, dass Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Schönheit usw. die Menschenwelt gestalten.26)
Wir könnten dergleichen Stellen noch viele anführen, in denen Dietzgen sich als ein konsequenter Bekämpfer des philosophischen Idealismus, auch in dessen schwächeren und mehr versteckten Formen zeigt. Was er unter der „Versöhnung von Materialismus und Idealismus“, der Aufhebung ihrer Gegensätze verstand, war nichts anders als die Widerlegung jenes bornierten metaphysischen Materialismus, welcher den Geist einfach als ein Anhängsel der Materie betrachtet, durch die „Einsicht in die dialektische Natur ihres Zusammenhanges“. Zwar erklärt Dietzgen ganz bestimmt, dass, wenn die Frage also „klobig“ gestellt wird, der moderne Sozialismus sich auf die Seite des Materialismus stellt gegen den Idealismus; jedoch weiß er, dass „solche Stellung der Frage eine geistlose, unzulängliche Antwort hervorrufen muss“.27) Er, der die übermäßige, unvermittelte Trennung zwischen Materie und Geist, den Mangel an tieferem Verständnis ihres allgemeinen Zusammenhangs als die Grundursache des jahrhundertealten Zwistes zwischen den beiden großen Richtungen der Philosophie betrachtete, verstand, dass nur die Erkenntnis, sie seien koordinierte Subjekte – jedoch immer mit dem Vorbehalt, dass „das Dritte – Höhere“, die Natur das Primäre sei – dem dialektischen Wesen des Seins entsprach und daher eine bessere Erkenntnis, ein trefflicheres Abbild dieses Seins, darstellte. Wenn der Geist zweifellos der Allmaterie untergeordnet, wenn er eine Eigenschaft, ein Prädikat des natürlichen Weltalls ist, so ist umgekehrt die Materie dem Geiste unterworfen, denn er durchschaut, erkennt, beherrscht und modelt sie.28) Im Menschenkopf wird das Weltall sich bewusst: die Materie kann also denken, und umgekehrt bedeutet jede künstlerische Schöpfung, jede erfolgreiche politische und soziale Tätigkeit eine Materialisation des Geistes.
Dietzgens Verurteilung des „alten“ anschauenden oder metaphysischen Materialismus als unzulänglich wegen seines Mangels an Bewertung des Geistes als einer nicht nur bedingten, sondern auch bedingenden, nicht nur bewirkten, sondern ebenso wirkenden Kraft, entspringt folglich keineswegs irgend einem Konfusionismus und zielt keineswegs auf den Versuch, „dem Materialismus einen idealistischen Kopf aufzusetzen.“ Es führt ihn zu dieser Verurteilung genau dieselbe Einsicht, welche Marx in der ersten These über Feuerbach Ausdruck verleiht mit der Bemerkung, dass aller bisheriger Materialismus die Wirklichkeit oder Sinnlichkeit nur unter der Form des Objektes oder der Anschauung statt als menschliche sinnliche Tätigkeit und Praxis fasst. „Daher geschah es“ – fährt Marx dann fort – „dass die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde“ … Gerade diese vom Idealismus, wenn auch abstrakt, gepflegte tätige Seite, das heißt die Einsicht in die Natur des Geistes und die Erkenntnis, dass er nicht bloß Produkt, Eigenschaft ist, sondern auch seinerseits auf die Materie einwirkt, sie beherrscht und modelt – ist es, die Dietzgen dem Materialismus einverleibt, wodurch er ihn vertieft und erweitert. Statt in Opposition zu Marx, befindet sich Dietzgen hier, d.h. in dem Kernpunkt seiner Philosophie, mit Marx im vollkommenen Einklang. Wer Dietzgen beschuldigen will, durch diese „Einverleibung“ der tätigen Seite des philosophischen Idealismus, diese Aufhebung seiner Gegensätze zum Materialismus durch dessen Erweiterung, den Materialismus geschwächt zu haben, muss füglich gegen Marx denselben Vorwurf richten. So ungerecht und widersinnig er in einem Falle wäre, so ungerecht und widersinnig ist er im anderen. Der dialektische Materialismus, wie er von Marx mit Bezug auf die Gesellschaft (schon in den Thesen über Feuerbach augenscheinlich) konzipiert, – von Dietzgen als Umriss einer Weltanschauung erkenntniskritisch und systematisch ausgearbeitet wurde, bildet die reifste Frucht der menschlichen Erkenntnis auf philosophischem Gebiete und daher auch die Grundlage des Denkens des Proletariats als derjenigen Klasse, welche selbst die reifste Frucht der gesellschaftlichen Entwicklung ist.
1) Josef Dietzgen, von G. Plechanow (In „Erkenntnis und Wahrheit“ S. 387.)
2) Das heißt die berühmte Stelle, welche anfängt: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens usw.“
3) Streifzüge, (Kl. philos. Schriften), S. 194. Daselbst, S. 213-215, macht Dietzgen den Leser bekannt mit dem vorwiegend ökonomisch-historischen Materialismus von Marx-Engels und seinem universell-dialektischen Materialismus (Monismus). Der Herausgeber.
4) Kleinere philosophische Schriften, S. 95. Ebenda heißen die nächstfolgenden Sätze: „Sie folgerten, dass die rechten Staatsformen und sozialen Einrichtungen nicht in den Eingeweiden des Geistes zu suchen sind, nicht ausspekuliert, sondern materialistisch aus den objektiven Verhältnissen erforscht sein wollen. Das Material zu dieser Forschung fand sich in der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft, welche in der politischen Ökonomie ihren greifbaren Leib besitzt, der stofflich konsumiert und produziert.“ Der Herausgeber.
5) An derselben Stelle folgen unmittelbar die Säte: „Er beansprucht das nicht, und wir wollen auch keinen Personenkultus an seine Leistungen knüpfen. Es hieße die marxistische Lehre durchaus verkennen, wenn man das, was ein Produkt mannigfaltigster Beiträge ist, die im Verlauf der Kultur von Generationen angesammelt wurden, als Wunderleistung irgend einer Persönlichkeit betrachten wollte. Das wäre das Gegenteil des marxistischen wissenschaftlichen Geistes. Wir knüpfen die neue Wahrheit oder vielmehr die neue Theorie der alten Wahrheit an den Namen Marx, weil man eben für alles eines Namens bedarf; so ungefähr, wie man die Reformation an den Namen Luthers knüpft, obgleich viele Reformatoren vor ihm und neben ihm geholfen haben, die Reformation zu machen, die doch wohl viel sicherer ohne den Luther zustande gekommen wäre, wie der Doktor Martin Luther ohne seine Helfershelfer.“ Der Herausgeber.
6) Erkenntnis und Wahrheit, S. 223.
7) Erkenntnis und Wahrheit, S. 231.
8) Kl. philos. Schriften, S. 101.
9) Josef Dietzgen,. S. 362 von „Erkenntnis und Wahrheit“. Die Stelle selbst lautet: „Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen „Idee“ in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes, als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“
10) Siehe über diesen Punkt die Ausführungen Max Adlers in dem XI. Abschnitt („Marx‘ Verhältnis zur Erkenntniskritik“) seiner oben angeführten Abhandlung, sowie seine zum 25. Todesjahre von Marx erschienene Schrift „Marx als Denker“, welche beide Schriften wir für unsere Erörterung gern zu Rate gezogen haben.
11) Max Adler: Marx als Denker, S. 57.
12) Ebenso wie bei Marx und Engels fließen auch bei Dietzgen die Dialektik als Methode des Denkens und die Dialektik als Antagonismus der Daseinsformen ineinander, wie wohl nicht anders möglich bei Denkern, die das Denken auffassen als ein Stück des natürlichen Seins, welches also notwendigerweise dieselben Bewegungsgesetze wie das übrige Sein enthält.
13) Neue Zeit, XXI, Bd. 1, S. 772 ff.
14) Daselbst, S. 774.
15) Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft, S. 319.
16) „Kapital“, Bd. III, 2, S. 352.
18) Man vergleiche: M. Adler: Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft, S. 312–314.
19) Erkenntnis und Wahrheit, S. 206.
20) Zitiert im Aufsatz Plechanows, „Erkenntnis und Wahrheit“, S. 370.
21) Das wird auch nicht bestritten von Eugen Dietzgen, der lediglich behauptet, dass weder Marx noch Engels eine materialistisch-dialektische Erkenntnistheorie und Weltanschauung klar ausgearbeitet haben, wie dies seitens Josef Dietzgens geschehen. Der Herausgeber.
22) Welche Bezeichnung inzwischen durch Untermanns ausführliches Werk über „Die logischen Mängel des engeren Marxismus“ nach unserer Ansicht als zutreffend begründet wurde. Der Herausgeber.
23) Hier ist zu beachten, dass der überwiegende Teil der damaligen Chicagoer „Anarchisten“ in der Tat teils Sozialdemokraten, teils Syndikalisten waren. Der Herausgeber.
24) Kl. philos. Schriften a. a. O., S. 142.
25) Daselbst, S. 135.
26) Daselbst, S. 97.
27) „Der Menschengeist ist eine körperliche Eigenschaft“ (Erkenntnis und Wahrheit), S. 210
28) „Der Menschengeist ist eine körperliche Eigenschaft“ (Erkenntnis und Wahrheit), S. 211.
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