August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 845, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 41, 1. Oktober 1887, S. 5 f.]

Aus Norddeutschland, 26. September. Die Berichte der Handelskammern, welche seit einiger Zeit einer nach dem andern über das Jahr 1886 erscheinen, lassen zwar erkennen, das zum Teil und im Vergleich zum Jahre 1885 sich die gewerblichen Verhältnisse etwas gebessert haben, in manchen Branchen die Ausfuhr sogar eine erhebliche Zunahme erfuhr, das aber im Ganzen und Großen die seit Jahren beobachtete stetige Preisermäßigung der meisten Waren sich auch in 1886 fortsetzte. Gleichzeitig wird aber auch, und hierin liegt das Entscheidende für die ganze ökonomische Situation, von überall her gemeldet, das die Zahl der neu angelegten Fabriken und die Vergrößerung der bestehenden eine ganz auffällige ist und sich überall das Bestreben kund tut, durch verbesserte Technik Ersatz der menschlichen Arbeitskräfte durch Maschinen und erhöhte Massenproduktion die Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen.

Eine ziemlich drastische Betrachtung erfährt die ökonomische Situation des industriellsten Landes im Deutschen Reich, des Königreichs Sachsens, durch die jetzt veröffentlichten Berichte der Fabrikinspektoren aus dem Jahre 1886. Diese malen die geschäftliche Lage noch etwas trüber als dies durch die Berichte der Handelskammer geschah und man darf annehmen, das ihre Darlegung mehr der Wirklichkeit entspricht als jene der Handelskammern, die ein gewisses Interesse daran haben, die Situation nicht zu schwarz darzustellen.

Die Berichte konstatieren in der Hauptsache alle, das es 1886 an Beschäftigung in den meisten Industriezweigen nicht gefehlt, das aber die Preise sehr gedrückte gewesen seien und die Gewinne diesen entsprechend niedrig. Trotzdem lagen im Zwickauer Inspektionsbezirk allein nicht weniger als 283 Gesuche wegen Neu- und Veränderungsbauten von gewerblichen und 169 Gesuche von Dampfkesselanlagen zur Begutachtung vor. Die Berichte konstatieren, das der Übergang vom Hand- zum Dampfbetrieb bzw. Elementarbetrieb ein ganz augenfälliger sei. Der Handbetrieb werde immer mehr konkurrenzunfähig, auch handle es sich darum, den erhöhten Ansprüchen der Arbeiter zu begegnen, indem man sie durch die Einführung der Maschinen selbst überflüssig zu machen suche. Als die Sozialdemokraten dies behaupteten, bestritt man es.

Aber die Berichte lenkten die Aufmerksamkeit noch auf eine andere, immer mehr sich einbürgernde Gewohnheit in unserer industriellen Entwicklung, wodurch die Überproduktion und die Preisschleuderei immer chronischer und verderblich zu werden droht. Das ist die Verlängerung der Arbeitszeit über alles menschliche Maß hinaus und insbesondere die Durchführung des kontinuierlichen Betriebs in unseren Fabriken durch Einführung der Nachtarbeit. schon gegenwärtig gibt es eine ganze Anzahl von Fabriken besonders in der Textilindustrie, welche Tag und Nacht mit 12stündigem Schichtwechsel arbeiten lassen. In diesen Fabriken kommt mit Ausnahme weniger Stunden am Sonntag und an den Feiertagen das gangbare Werk das ganze Jahr nicht mehr zum Stillstand und verdoppelt so die Produktion, wodurch zugleich die Generalunkosten erheblich vermindert werden. Gegen eine solche an Wahnsinn grenzende Konkurrenz kann der solide Fabrikant nicht mehr aufkommen, er wird wider Willen gezwungen die tolle Jagd mitzumachen und ist erst ein Teil der Industriellen in diesem Cancan verwickelt, so dauert es nicht lange und die Tag- und Nachtarbeit wird im ganzem Industriezweig zur Regel. Und diese tolle Jagd greift gerade in den Gewerbezweigen am raschesten um sich, in denen in Folge von Überproduktion die Preise schon auf dass Äußerste reduziert sind und also eine Einschränkung der Produktion am Platze wäre.

Wohl warnen die Berichte vor diesem gefährlichen Treiben, wohl kündigt insbesondere der Leipziger Fabrik-Inspektor an, dass wir uns der Periode einer allgemeinen Überproduktion immer mehr näherten, aber was helfen alle diese Warnungen? Alle diese Übelstände, die mit jedem Tage mehr hervortreten und den Anhängern des herrschenden Systems selbst in immer erschreckenderer Deutlichkeit zum Bewusstsein kommen, sind mit diesem System aufs Engste verknüpft, sie sind somit notwendige Konsequenzen und sie können und werden erst verschwinden, wenn die bestehende ökonomische Ordnung einer anderen, vernünftigeren Platz macht. Dahin treibt unsere ganze Entwicklung mit Riesenschritten in einer die Anhänger des Alten bestürzt machenden Hast.

Dass die Einsicht von der Unvernunft und der Unhaltbarkeit der bestehenden Ordnung durch die immer mehr zu Tage tretenden Übel wächst, ist die Vorbedingung für den Sieg des Neuen. Die Übel müssen sich so steigern – und sie werden es – dass schließlich in der ganzen herrschenden Klasse nicht ein überzeugter Verteidiger der bestehenden sozialen Ordnung mehr vorhanden ist.

Herrscht erst auf Seite der die Macht Besitzenden der absolute Zweifel an die eigene Kraft und an die Möglichkeit, in befriedigender Weise die Übelstände zu hoffen, so hat die Gegenpartei gewonnen, ihrer durch die Macht der Tatsachen unterstützten Logik kann Niemand mehr widerstehen, der Tag kommt, wo das Alte unrettbar stürzt, das Neue mit unwiderstehlicher siegender Gewalt den Platz einnimmt. Das „Wie“ beunruhigt uns nicht, es genügt zu wissen, dass es kommt, weil es kommen muss. –

Im Laufe dieses Jahres haben nach allgemein übereinstimmenden Berichten die geschäftlichen Verhältnisse insofern weiter einige Besserung erfahren, als die Ausfuhr mit den Hauptartikeln, gegenüber der in der gleichen Zeit des Vorjahres, nicht unerheblich stieg. Den Hauptanstoß zu diesem Aufschwung gab der Bedarf nach den Vereinigten Staaten. Das aber die Steigerung des Absatzes der Waren nicht gleichbedeutend ist mit einer Steigerung des Werts, zeigen z.B. die Berichte über die Herbstsaison des Berliner Konfektionsgeschäfts, dass eine der maßgebendsten Branchen der Berliner Export-Industrie bildet. Danach heißt es, dass der Umsatz an Waren zwar im Ganzen sehr erfreulich sei, wenn er sich auch sehr ungleich auf die einzelnen Geschäfte verteilt habe, das aber allgemeine Klagen über die unzureichenden Preise laut wurden. Von Saison zu Saison müsste billiger produziert werden, der Wert der Waren sinke immer mehr und selbst wenn man nur die alten Umsätze erzielen wolle, sei man gezwungen, das Doppelte zu fabrizieren Aber es halte schwer für die Fabrikation regulären Absatz zu finden. Daraus entständen Zwangsverkäufe, Unterbieten der Preise, kurz Schmutzkonkurrenz der allerschlimmsten Art, wodurch das Geschäft immer mehr untergraben werde.

Ähnlich lauten die Klagen aus Dutzenden von anderen Erwerbszweigen Und was dann, wenn wir innerhalb eines Zeitraums von 6-12 Monaten – wie sicher zu erwarten ist – auch die auswärtige Nachfrage wieder erlahmen sehen, weil alle Märkte mit Waren überschwemmt wurden? Wir sind sehr zufrieden uns in der Rolle des Zuschauers zu befinden , der keinerlei Verantwortung zu übernehmen hat.

Im Innern geht die Konsumtionsfähigkeit der Massen immer mehr zurück, trotz der Billigkeit der Waren und Lebensmittel. Um billig produzieren zu können, ist die wichtigste Voraussetzung billige Löhne zu haben, und dafür sorgen die Arbeiter durch die Konkurrenz, die sie untereinander machen müssen. Versuchen sie durch ihre Vereinigung der Lohndrückerei der Unternehmer entgegen zu treten, oder versuchen sie gar für bessere Arbeits-Bedingungen einzustehen, so sorgt die Polizeigewalt, gestützt auf das Sozialistengesetz und die weitherzigste Auslegung der Koalitions-Paragrafen der Gewerbeordnung dafür, das diese Bemühungen zu Wasser werden.

In ganz besonderem Maße ist das System Puttkamer in Preußen bemüht, die fromme Denkungsart noch so unzählig vieler Arbeiter in gärend Drachengift zu verwandeln. Einer ganzen Reihe von Arbeiter-Verbänden, die Unterstützungs- und Versicherungskassen auf Grund der bestehenden Reichsgesetzgebung, zum Teil seit vielen Jahren, gegründet haben, ist neuerdings vom preußischen Ministerium die Nachricht zugegangen, das ihrer Existenz der gesetzliche Boden fehle, weil sie keine, auf Grund des Gesetzes über das Versicherungswesen in Preußen notwendige behördliche Konzession besäßen Die Arbeiter-Unterstützungskassen sollen hiernach wie die kapitalistischen Lebens-, Feuer-, Hagelversicherungs- und ähnliche Gesellschaften behandelt werden.*) Das ist nur ein neuer Schritt seitens der preußischen Regierung zu dem schon seit Jahren systematisch erstrebten Ziele, die selbstständigen Arbeiter-Unterstützungs-Verbände um jeden Preis tot zu machen. Man verfolgt zwar dabei die schlaue Taktik, kein öffentliches Aufheben davon zu machen, eine Kassenverwaltung nach der andern mit dem betreffenden Ukas in aller Stille zu treffen, aber die Aufregung in den Arbeiterkreisen ist nichtsdestoweniger sehr groß. Die Absichten der Regierung werden klar durchschaut und es hat sich der bisher loyalsten Gemüter eine Erbitterung bemächtigt, von welcher der Urheber dieser sauberen Maßregeln, Herr von Puttkamer, schwerlich eine Ahnung hat. Nur immer so fortfahren, der Tag kommt noch, wo die Steine schreien.

Unsere Zeitungen philosophieren allerlei über das Schicksal des Sozialistengesetzes in der nächsten Reichstagssession. Das ist unnütze Verschwendung von Zeit und Druckerschwärze. Das starke Deutsche Reich, das die Welt für unüberwindlich hält, kann ohne das Sozialistengesetz nicht existieren Voilà tout. –

In Breslau hat man für den Mitte oder Ende Oktober bevorstehenden Monster-Sozialisten-Prozess 28 der Angeklagten wieder verhaftet, „damit sie die Zeugen nicht beeinflussen können“. Das ist ein lächerlicher Vorwand, denn für diese „Beeinflussung“ hatten die Angeklagten genug Zeit, wenn sie eine solche überhaupt für notwendig hielten. Andere Leute behaupten das Anklagematerial sei so dürftig, das kaum eine Verurteilung erfolgen könne und da wünsche die Staatsanwaltschaft die längere Untersuchungshaft, damit wenigstens eine Strafe herauskomme. Was wahr daran ist, lassen wir dahingestellt sein. Schlimm genug, das das Vertrauen in die richterliche Rechtsprechung so erschüttert ist, das solcher Verdacht entstehen kann.

Die ganze Schwere des Sozialistengesetzes hat in verflossener Woche die in Hamburg erscheinende „Bürgerzeitung“ zu kosten bekommen. sie wurde nebst ihrer Wochenausgabe kurzer Hand unterdrückt. Das Blatt hatte 15.000 Abonnenten, seine Wochenausgabe 9000. Ein ganzes Vermögen ist damit zugrunde gerichtet, eine ganze Reihe von Existenzen sind vernichtet. Das Verbot erfolgte auf den Inhalt des Leitartikels der letzten Sonntags-Nummer, der die charakteristische Überschrift hatte: „Force is no remedy“ (Gewalt ist kein Heilmittel) und sich obendrein auf – irische Zustände bezog. Der Artikel war in gar keiner Beziehung aufreizend. Nun wir wissen, das der Artikel nur ein Vorwand war, um dem verhassten und gut situierten Blatte, das in Arbeiterkreisen viel gelesen wurde, den Garaus zu machen. Ähnliches ist in Europa, außer im Deutschen Reich wohl nur noch in – Russland möglich, (? Die Red.) daher auch die großen Sympathien unserer offiziellen Kreise für Russland, trotz aller Fußtritte, die der russische Bär Woche für Woche uns an der Grenze durch Misshandlung deutscher Reichsangehöriger versetzt. Ja, wenn Frankreich nur den hundertsten Teil uns zu bieten wagte, wir hätten längst den Krieg. Doch à propos „Bürgerzeitung“. Der Verleger will an die Reichskommission gehen und sich wegen des Verbots beschweren und er hofft auch auf Erfolg. Wir bewundern diese Hoffnung, aber teilen sie nicht.

*) Ganz wie bei uns. Die Red.


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