[Nr. 844, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 40, 24. September 1887, S. 5 f.]
Aus Norddeutschland, 20. September. Unsere Zeitungen beschäftigen sich bereits mit der Einberufung des Reichstags, die in den letzten Jahren in der Regel im Laufe des November erfolgte. Unter den Vorlagen werden sich zwei befinden, die das Interesse der deutschen Arbeiterklasse in sehr entgegengesetztem Sinne in Anspruch nehmen. Angeblich soll, um das Gebäude der Sozialreform zu „krönen“, eine Vorlage über die Invalidenversicherung der Arbeiter eingebracht werden, und ferner muss die Regierung um die Verlängerung des Sozialistengesetzes einkommen, dessen Termin nächsten Herbst mit September abläuft. Ob die Vorlage über die Invalidenversicherung eingebracht wird, ist noch zweifelhaft. Einmal ist die Frage eine solche, die unseren Sozialreformern noch schweres Kopfzerbrechen bereiten dürfte und dann heißt es, das der Hauptvertreter all dieser sozialreformerischen Vorlagen, der Unterstaatssekretär von Bötticher, krank und deshalb die Ausarbeitung ins Stocken geraten sei. Neugierig darf man auf diese Vorlage sein. Das sie die beteiligten Arbeiterkreise befriedigt, ist mehr als zweifelhaft. Es scheint sich, nach dem zu urteilen, was bisher über die zu zahlenden Invalidenentschädigungen verlautete, um Sätze zu handeln, die kaum die Beträge überschreiten, welche leidlich organisierte Gemeinden ihren Armen als Armenunterstützung zahlen. Wo soll auch das Geld dazu herkommen? Die Arbeiter vermögen außer den Leistungen, die ihnen das Gesetz schon auferlegt hat, höhere kaum zu tragen, die Unternehmer erklären nicht viel mehr leisten zu können, d.h. zu wollen, und das Reich braucht die neuen Steuern in so reichlichem Maße für die erhöhten Militärausgaben, denen weitere folgen werden, das es für die Sozialreform kaum viel übrig hat. Aber gibt das Reich auch eine größere Summe alljährlich her – und ohne eine solche ist die Arbeiter-Invalidenversicherung unmöglich – was ist damit für den Arbeiter gebessert? Das Reich zahlt damit dem Arbeiter im Alter lotweise, was es ihm während seines arbeitsreichen Lebens Jahr für Jahr zentnerweise genommen hat. Denn woraus setzen sich die ungeheuren Summen, die das Reich alljährlich erneuert und hauptsächlich für die militärischen Rüstungen verbraucht, zusammen? Aus Zöllen und indirekten Steuern auf die hauptsächlichsten Verbrauchsartikel der großen Masse. Wie immer in der bürgerlichen Welt die Sozialreformen organisiert werden, die Unternehmerklasse und der Staat werden stets bemüht sein, soweit die Reformen finanzielle Opfer erfordern, dieselben durch Diejenigen aufbringen und decken zu lassen, zu deren Gunsten sie ins Leben gerufen werden, die Arbeiter. Die ökonomischen Gesetze der gegenwärtigen sozialen Ordnung sind immer auf diese Art „Ausgleichung“ bedacht.
Ist die Vorlage über die Invalidenversicherung der Arbeiter an den Reichstag noch zweifelhaft, so ist die zweite Vorlage, die Verlängerung des Sozialistengesetzes, um so gewisser. Der bei früheren ähnlichen Gelegenheiten auftauchende Zweifel – den vernünftige Leute, die ihre Pappenheimer kannten, nie teilten – ob sich eine Mehrheit für die Verlängerung des Gesetzes findet, kann diesmal nicht auftauchen, die Mehrheit ist diesmal von vornherein vorhanden und sie wird eine so große werden, wie nie zuvor, da auch das Zentrum, jetzt, seinem innersten Herzensdrange folgend, in seiner großen Mehrheit für das Gesetz stimmen wird. Die Zustimmung und der Segen des Papstes ist ihm bei diesem christlichen Liebeswerke sicher. Zwar schreibt die Bibel den Christen vor: Liebet die euch hassen, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch verfolgen, aber wo und wann hat die offizielle Kirche und ihre Vertreter je sich an diese Grundsätze gehalten? Sie stehen auf dem Papier für – die Naiven. Kurz das Sozialistengesetz wird mit Zustimmung der Mehrheit des Zentrums angenommen und es fragt sich nur auf wie lange. Vor vier Jahren kam die Reichsregierung um 2 Jahre Verlängerung ein und sie erhielt dieselben; man glaubte, der Kaiser werde mittlerweile sterben und wollte dem Thronfolger nicht vorgreifen, darum wählte man diesen ungewöhnlich kurzen Termin. Vor zwei Jahren verlangte die Regierung die Verlängerung auf drei Jahre, der Reichstag hielt sich aber moralisch an zwei Jahre gebunden und bewilligte das Gesetz auf diese Dauer. Nunmehr, wo die politischen Verhältnisse im Innern, durch die letzten Reichstagswahlen nicht unerheblich andere, dem heute herrschenden Systeme günstigere geworden sind, darf man gespannt sein, wie hoch diesmal die Regierung ihre Forderung stellen wird. Die kleine sozialistische Reichstagsfraktion hat moralisch eine so günstige Stellung, als sie dieselbe sich nur wünschen kann, das Anklagematerial gegen das System hat sich im Laufe des letzten Jahres bergehoch angehäuft und sie wird es auszunützen wissen, aber auf Erfolg darf sie nicht rechnen. Die Majorität wird murrend und lärmend sich die Anklagen ins Gesicht schleudern lassen müssen, aber sie wird stimmen, wie von Oben gewünscht wird und ihr eigenes Bourgeoisgewissen ihr befiehlt.
Zwar fehlt es in den Reihen der Anhänger des Sozialistengesetzes nicht an Zweiflern über die Nützlichkeit desselben, und der Sisyphuskampf, den seit nahezu 10 Jahren die Staatsgewalt gegen den Sozialismus führt und in dem sie moralisch auf allen Seiten unterlegen ist, fordert zur Kritik und zu Zweifeln heraus. Aber was tun? Das Sozialistengesetz hat der Staatsgewalt nichts genützt, es hat aber den Hass und die Erbitterung der Arbeiterklasse gegen das herrschende System ganz unglaublich gesteigert; soll man es nun aufheben und es mit dem gemeinen Recht versuchen? Das hieße den Teufel durch Beelzebub austreiben und brächte die bürgerlichen Parteien in Gefahr, am Tage einer Missliebigwerdung bei der herrschenden Gewalt mit der eigenen Rute gezüchtigt zu werden. so wird nach wenigen Jeremiaden alles beim Alten bleiben und die Geschicke werden sich vollziehen wie sie sich vollziehen müssen. Daran werden auch die klugsprecherischen Professoren vom Schlage des Dr. Schmoller nichts ändern. Schmoller befürwortet im letzten Heft der Jahrbücher, das man gegen die extremen Sozialisten das Ausnahmegesetz noch verschärfe , dagegen es zu Gunsten der bei den Wahlen für die Sozialisten stimmenden Arbeiter und Spießbürger (!) – wem Herr Schmoller sich hierunter wohl vorstellen mag? – erleichtere, damit diese dem bösen sozialistischen Einfluss entzogen würden. Schmoller ist unter unsern streberischen, speichelleckenden Professoren einer der schlimmsten und das will viel sagen. Wenn daher ein solcher Byzantiner selbst findet, das wie bisher es nicht mehr weiter geht, so spricht dies am deutlichsten dafür, wohin wir gekommen sind. Aber der liebedienerische Professor hat vergessen mitzuteilen, wie er sich seine Vorschläge verwirklicht denkt. Hier ist seine Weisheit zu Ende, und so wird auch er wie all die übrigen seiner Meinungs-Genossen, die klar einsehen, das der Staatskarren bei den jetzigen Zuständen immer mehr in den Sumpf kommt, sich zufrieden geben, wenn Alles beim Alten bleibt. Das ist das Schicksal aller starr auf das Bestehende gerichteten Parteien, so lange es eine politische Geschichte gibt.
Die bessere Einsicht hat ihnen oftmals nicht gefehlt, aber der Mut der Konsequenz. Schließlich zwang sie stets ihr Klassen- und Lebensinteresse, gegen ihre bessere Einsicht zu handeln, und so beschleunigten sie gerade das, was sie vermeiden wollten: den Untergang des Bestehenden. Alle geschichtliche Entwicklung gipfelt schließlich in der Tatsache, dass die jeweils Herrschenden stets ihre eigenen Totengräber waren, und mit diesen tröstlichen Gedanken blicken wir auch auf die Arbeit Derjenigen, die gegenwärtig den gleichen Liebesdienst an sich selbst verrichten. Das in unserm heutigen Wirtschaftssystem der Militarismus auch eine wichtige ökonomische Potenz ist, zeigt sich gegenwärtig in Deutschland mehrfach in drastischster Weise. Die Neubewaffnung der Armee mit Repetiergewehren veranlasste, das in den staatlichen Gewehrfabriken zu Spandau und Erfurt viele tausend Arbeiter neu angestellt wurden, die dort einige Jahre Tag und Nacht, Sonn- und Werktag zu schanzen hatten. Nachdem die Aufträge fertig gestellt sind, erfolgt rapide die Entlassung dieser Arbeitermassen; so wurden in Spandau von 2000 Mann vorige Woche 1000 gekündigt, in Erfurt traten ebenfalls Massenentlassungen ein. Die vom letzten Reichstag in Höhe von circa 500 Millionen Mark bewilligten Ausgaben für strategische Bahnen und die Verstärkung der Befestigung von Festungen hat auf die gesamte Eisen-Großindustrie stimulierend gewirkt und erhöhte Preise herbeigeführt. Da auch diese Arbeiten par force hergestellt werden, dürfte schon im Laufe des nächsten Jahres ein sehr bedeutender Rückschlag in dieser Industrie erfolgen. Wie ist aber unsere Bourgeoisie bei diesen Unternehmungen interessiert? Erst erfolgen die Anleihen, bei welchen die Bourgeoisie das „gesparte“ Kapital dem Staat gegen gute Zinsen und größte Sicherheit leiht und dann empfängt dieselbe Bourgeoisie einen guten Teil desselben Kapitals in der Form von Unternehmergewinn zurück, den sie zum guten Teil zu neuen Staatsanleihen aufspart. Der Unternehmergewinn ist aber bei diesen Arbeiten hoch, weil die Lieferungsfristen sehr kurz bemessen sind und die gesamten Aufträge der inländischen Industrie ausschließlich zugewiesen werden. Man sieht, unsere Bourgeoisie hat an den Staatsanleihen das allerlebhafteste Interesse, jede Staatsanleihe schafft ihr zwei- und dreifachen Nutzen, und so ist es nicht zufällig, das die Herrschaft der Bourgeoisie in Europa mit einer rapiden, bis dahin für unmöglich gehaltenen Steigerung der Staatsschulden, zusammenfällt. Wir leben aber in einer vertrackt materiellen Welt, in der sich Alles um Moses und die Propheten dreht.
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