August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 933, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 15, 14. April 1889, S. 6]

:: Die Amnestie oder der „kaiserliche Gnadenakt“, wie ihn die Zeitungen zu nennen belieben, hat zum Teil nicht die erwarteten Folgen gehabt. Unter den Amnestierten befanden sich auch eine große Zahl von wegen Bettelns, Vagabundierens usw. Bestraften. Diese glücklichen Unglücklichen, die plötzlich am ersten Osterfeiertag aus der Haft entlassen wurden, fanden sich durch die kaiserliche Gnade in einer sehr zweifelhaften Lage, welche zeigte, das sogar eine Amnestie geeignet ist unsere sozialen Zustände in ihrem ganzen Jammer zu beleuchten. Aus dem Gefängnis entlassen, wussten diese armen Teufel nicht, was anfangen. Arbeit gab es der Feiertage wegen nicht, Geld besaßen sie auch nicht, was blieb ihnen also übrig als das Betteln sofort wieder aufzunehmen. Die Folge war, das diese Art von Amnestierten fast sämtlich binnen zweimal 24 Stunden aufs Neue hinter Schloss und Riegel saßen und nun Muße hatten, über diese Sonderbarste aller Welten nachzudenken Unsere Liberalen sind über die Ausschließung der Sozialisten von der Amnestie etwas betroffen, sie wussten nicht recht wie sie diese mangelnde – Weitherzigkeit, wollen wir einmal sagen – rechtfertigen sollten und so gingen sie möglichst eilig über den Akt hinweg. Am leichtesten haben sich die Sozial-Demokraten damit abgefunden, sie wissen, das durch Amnestien der soziale Klassenkampf weder beseitigt noch gemildert wird.

Die Polizei und der Staatsanwalt haben den Ausschluss der Sozialisten von der Amnestie als eine Aufforderung angesehen, gegen dieselben möglichst scharf ihres Amtes zu walten. Ausweisungen aus dem Berliner Belagerungszustandsgebiet und Massenhaussuchungen und Verhaftungen, namentlich im Rheinland, folgten dem „Gnadenakt“ auf dem Fuße und hie und da wird man auch ein Geheimbunds-Prozesschen herausdestillieren.


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