August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 930, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 14, 7. April 1889, S. 5 f.]

:: Aus Norddeutschland, 3. April. Max Kayser, der frühere sozialistische Reichstagsabgeordnete, ist tot. Das ist die Trauerbotschaft, die seit dem 29. März, dem Todestag des Genannten, die Reihen der sozialistischen Arbeiter Deutschlands durcheilt. Ein eifriger, treuer und opferwilliger Genosse hat aufgehört zu leben. Früh hat die Sichel des Todes ihn aufgesucht, er hätte am 9. Mai d. J. erst sein 35. Lebensjahr vollendet. Die Partei wird das Andenken des Toten in Ehren halten und auch der hinterlassenen Witwe und des Kindes nicht vergessen, denn obgleich M. Kayser auch zu den Agitatoren gehörte, die nach Herrn von Puttkamers geschmackvollem Ausspruch „von den Arbeitergroschen sich mästeten“, hinterlässt er die seinen in proletarischen Verhältnissen, wie er selbst sein Leben lang in den bescheidensten wahrhaft proletarischen Verhältnissen verbracht hat. Die Menschen, die ein ganzes Vermögen als Jahresgehalt für eine sehr zweifelhafte öffentliche Tätigkeit beziehen, haben von dem Opfermut und dem schweren Existenzkampf sozialistischer „Agitatoren“ keinen Begriff. Wer von Geburt eine Art unveräußerliches Recht auf die gefüllte Staatskrippe besitzt, begreift nicht, wie Andere sich Not und Entbehrungen auferlegen können, um den Niedergetretenen in der Gesellschaft zu menschenwürdigen Zuständen zu verhelfen.

Die Krankheit, an der Kayser starb, war Kehlkopfkrebs, und dieser trat in solcher Heftigkeit auf, das der Kranke auch ohne die Operation in Kürze seinem Leiden erlegen sein würde, aber auf weit qualvollere Art. In der ärztlichen Umgebung des deutschen Kaisers hat der Tod des Sozialisten Kayser die größte Aufmerksamkeit erregt, wegen der Ähnlichkeit des Krankheitsfalles mit dem deutschen Kaiser. Man hat seitens der kaiserlichen Ärzte den Breslauer Operateur um eine ausführliche Mitteilung des Krankheitsfalles ersucht so nützt vielleicht ein toter Sozialist dem noch lebenden deutschen Kaiser. Es geht nichts über die Ironie der Weltgeschichte

M. Kayser ist am ersten Osterfeiertag auf dem jüdischen Friedhofe in Breslau – nicht weit von der Grabstätte Ferdinand Lassalles – beerdigt worden. Auf Betreiben der Polizei durfte die Beerdigung nur von der Leichenhalle des Friedhofes aus stattfinden. Eine Begleitung der Leidtragenden durch die Straßen der Stadt drohte die Polizei zu verbieten. Auf dem Friedhofe hatten sich mehrere Tausend Gesinnungsgenossen des Verstorbenen eingefunden, darunter zahlreiche Deputationen von Auswärts, so aus Berlin und Dresden. Die sozialistische Fraktion war durch die Abgeordneten Singer und Kräcker vertreten. Reicher Kranz- und Blumenschmuck ward dem Toten auf den Sarg gelegt, noch durfte keiner der Leidtragenden ein Wort sprechen, auch entfernte die Polizei eigenhändig – da die Angehörigen des Toten sich dessen weigerten – die roten Schleifen, die an einer Anzahl Kränze befestigt waren. Ungefähr fünfzig Polizisten waren zugegen, um die „öffentliche Ordnung“ zu schützen, die Niemand zu stören Veranlassung oder Neigung hatte. so werden heute im Deutschen Reiche, im Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte und im Beginn der neuen „liberalen Ära“ deutsche Sozialisten begraben. Der Staat muss trotz seiner vier Millionen Soldaten sehr schwach sein, der zu solchen Schutzmaßregeln bei dem Leichenbegängnisse eines Sozialisten zu greifen sich gezwungen fühlt.

Die Amnestie ist also endlich auch da. Am 1. April wurde die Welt mit derselben überrascht und entsprechend diesem ominösen Tag, an dem die Täuschung ihr Fest feiert – und der, beiläufig bemerkt, auch der Geburtstag Bismarcks ist – blieben die Enttäuschungen nicht aus. Nur gehören die Sozialisten nicht zu den Enttäuschten, obgleich es auf sie abgesehen war. Die Enttäuschten sind unsere ewig vertrauensseligen Liberalen, die davon träumten, das der neue Kaiser von dem Rechte der Amnestie den umfassendsten Gebrauch machen und mit vollen Händen die Straferlasse austeilen werde.

Von der Amnestie getroffen sind die Majestätsbeleidigungen, eine Reihe von Vergehen wider die Staatsgewalt, wider die öffentliche Ordnung und die öffentlichen Beleidigungen, wider politische Körperschaften, Staatsbeamte und Religionsdiener. Ferner die Pressevergehen und Übertretungen und die Strafen, die aus der Verletzung des Vereins- und Versammlungsrechtes hervorgingen, die in den bezüglichen Prozessen entstandenen noch rückständigen Kosten sollen ebenfalls erlassen und die etwa aberkannten Ehrenrechte den Betreffenden wieder verliehen, resp. die Stellung unter Polizeiaufsicht aufgehoben werden. Weiter werden alle Freiheitsstrafen von nicht mehr als 6wöchentlicher Dauer und die Geldstrafen bis zu 150 M. erlassen. Auch soll die Begnadigung auf vorsätzliche Körperverletzung und Beleidigung Anwendung finden, wenn der Verurteilte die Verzichtleistung des Verletzten auf die Bestrafung beibringt. Die Amnestie bezieht sich nur auf Preußen, da der Kaiser ein Amnestierecht im Reiche nicht besitzt.

Ausgeschlossen von der Amnestie sind die wegen Hoch- oder Landesverrats Verurteilten, die Verurteilten wegen Verletzung der §§. 128 und 129 des Strafgesetzbuches (geheime Verbindungen) und die Vergehen wider das Sozialistengesetz; ferner die Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen. Die Sozialisten sind also von der Amnestie ausgeschlossen. Die Verurteilten profitieren nur insofern von derselben, als sie auch wegen Vergehen bestraft wurden, die von der Amnestie betroffen werden. Ein heruntergekommener, zur Vagabondage gezwungener armer Teufel, der eine schwere Majestätsbeleidigung ausgestoßen, um im Gefängnis ein Unterkommen zu finden, wird begnadigt, ein Sozialist, der aus Begeisterung und aus Überzeugung für seine Ideen kämpfte und den §§ 128 oder 129, oder den Schlingen des Sozialistengesetzes verfiel, muss brummen.

Der Amnestie-Erlass enthält zwischen den Zeilen ein Regierungsprogramm und dies besagt, das der Kampf wider die Sozialdemokratie in der alten Weise fortgeführt werden soll und dass die Ära der Ausnahmegesetze in Blüte bleibt. Das ist in der Ordnung. Das Kaisertum kann nicht liberaler sein, als die Bourgeoisie, auf die es sich stützt, und den Bismarck-Puttkamer, die erst vor wenig Monaten das verschärfte Sozialistengesetz einbrachten und damit so schmählich Schiffbruch litten, zuzumuten, eine Amnestie der verhassten Gegner gutzuheißen, grenzt an das Verlangen des moralischen Selbstmordes Klassenkämpfe, in denen zwei diametral sich gegenüberstehende Weltanschauungen sich bekämpfen, werden nicht durch Gemütsergüsse aus der Welt geschafft. Alle Täuschung ist vom Übel und so geht der Hass gegen die Sozialdemokratie auf der ganzen Linie lustig weiter. Zunächst hat die neue Ära trotz der Kürze ihres Bestehens bereits drei Verbote von Blättern auf Grund des Sozialistengesetzes aufzuweisen. In Darmstadt wurde die hessische „Bürger-Zeitung“, in Hamburg das im Dietzschen Verlag erschienene „Unterhaltungsblatt für das deutsche Volk“ und ein Gewerkschaftsblatt „Der neue Bauhandwerker“ verboten. Ferner sind in Folge der Verbreitung von Flugblättern in einer Anzahl deutscher Städte am 18. März eine ganze Reihe von Soziallistenprozessen wieder in Aussicht. Der zufällige Umstand, das in Hamburg-Altona, Leipzig, Mainz, Mannheim, Frankfurt a/O. etc. an diesem Tage gleichzeitig Flugblätter verbreitet wurden, veranlasst die gegnerische Presse zu der Flunkerei, diese Verbreitung sei auf Anordnung der geheimen Zentralleitung erfolgt, die endlich durch die bei den Haussuchungen vorgefundenen Papiere entdeckt sei. Die gegnerische Presse ist in der Wiedergabe solchen Kohls unermüdlich, sie hat seit zwei Jahren schon mindestens sechsmal dasselbe behauptet und wird es noch zehnmal behaupten, ohne dass ihre Angaben sich bewahrheiten werden und zwar aus dem sehr einfachen und natürlichen Grunde, weil es eine solche Zentralleitung nicht gibt. Auch sonst wurden aber in der gegnerischen Presse über angebliche Vorgänge im sozialdemokratischen Lager die absurdesten Behauptungen verbreitet, die ein Zwanzigstel Wahrheit und neunzehn Zwanzigstel Erdichtung enthalten. Unsere armen Spitzel sind in großer Verlegenheit, sie suchen und finden nichts, so legen sie sich aufs erfinden, was den Vorteil hat, das man dabei dem Spießbürger die schauerlichsten Dinge über das Treiben der verruchten Sozialdemokraten aufbinden kann. Auch sollen alle diese erdichteten und erlogenen Nachrichten einen hohen Herrn in die richtige Stimmung versetzen, beziehentlich in ihr erhalten. Man schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe und das System lebt davon.

Bekanntlich tat seinerzeit Herr v. Puttkamer sehr dick im Reichstag mit dem Urteil des Posener Landgerichtes im dortigen Sozialistenprozess Seinen Worten nach hatte das Posener Landgericht die Geheimpolizisten Ihring-Mahlow und Naporra als die bravsten Ehrenmänner hingestellt und damit das Landgericht zu Berlin bloßgestellt.

Das jetzt bekannt gewordene Urteil des Posener Landgerichtes gibt Herrn v. Puttkamer keinen Grund, so herausfordernd zu seinen, des Ministers, Gunsten, von ihm zu sprechen Das Posener Landgericht spricht sich über die genannten Beamten mit großer Reserve aus, wenn es auch annimmt, das die beiden in dem vor ihm spielenden Prozess die Wahrheit aussagten. Besonders interessant aber ist, wie sich das Gericht über den Wert polizeilicher Berichte auslässt. Da solche nicht bloß in politischen Prozessen in Deutschland eine Rolle spielen und oft mehr Beachtung erhalten, als sie verdienen, wollen wir die bezügliche Stelle wörtlich hier folgen lassen. sie lautet:

„Die Berichte über die verschiedenen Kongresse sind von dem königlichen Polizeipräsidenten in Berlin übersandt worden. Der Inhalt derselben ist aber derart, das dieselben unmöglich auf persönlichen Wahrnehmungen dieses Beamten beruhen können; sie müssen daher solche Tatsachen betreffen, welche diesem in seiner Amtsausübung bekannt geworden sind. Um sie alsdann aber als Beweismittel verwerten zu können, müsste dem Gerichtshofe die Möglichkeit gegeben sein, zu prüfen, welchen Anspruch auf Glaubwürdigkeit diese Berichte gegenüber dem Polizeipräsidenten von Berlin machen können, und insbesondere, durch welche Personen und auf Grund welcher Art von Wahrnehmungen sie demselben erstattet worden sind; in dieser Hinsicht aber fehlt es an jeder Unterlage zur Untersuchung. Da nun die Möglichkeit, dass die Berichte nicht auf zuverlässigen eigenen Wahrnehmungen der Berichterstatter beruhen, oder dass diese getäuscht seien oder auch das Wahrgenommene nicht korrekt genug wiedergegeben haben können, nicht auszuschließen ist, so konnten die bezeichneten Berichte keine hinreichende Sicherheit gewähren, um zu Grundlagen einer gerichtlichen Entscheidung gemacht zu werden; es war daher von ihnen gänzlich abzusehen.“

Diese Auffassung entspricht genau jener des Berliner Landgerichtes im letzten Sozialistenprozess über die Bedeutung der Aussagen der geheimen Hintermänner der Polizei. Verwunderlich ist nur, wie das Posener Landgericht bei solcher Auffassung der Sachlage zu so harten Verurteilungen kommen konnte. Das tatsächliche Material rechtfertigte diese nicht. Ein Teil dieser Urteile wird durch die Amnestie betroffen und wird eine entsprechende Ermäßigung des Strafmaßes eintreten. Was übrig bleibt, ist noch hart genug.

– Wir brachten in einer unserer letzten Nummer einen Aufruf der Leipziger Steinmetze zum Abdruck Wie schwer ihr Kampf ist, werden unsere Leser aus der folgenden Korrespondenz ersehen, welche wir dem Züricher „Sozialdemokrat“ entnehmen:

„Wie die deutsche Polizei, das Instrument der politischen Gewalthaber, auch im Dienste der ökonomischen Gewalthaber steht, das zeigt sich so recht deutlich in Leipzig. Von der Aussperrung der dortigen Steinmetzen durch die „christlichen“ Zunftmeister haben wir schon Meldung getan, und auch wie die Leipziger Polizei den Fachverein der Steinmetzen auf den Wunsch der christlichen Innungsmeister auflöste – nur um den besagten antisemitisch-christlichen Ausbeutern einen Gefallen zu tun und die rebellischen Steinmetzen wehrlos zu machen. Letzterer Zweck ist jedoch nicht erreicht worden: Die Steinmetzen krochen nicht zu Kreuz, sondern hielten fest zusammen und setzen den reaktionären Angreifern geschlossene Reihen und unüberwindlichen Widerstand entgegen. Das ist natürlich ein großes Verbrechen, und da die frommen Herren Innungsmeister mit „ihren“ Arbeitern nicht fertig werden, so musste die Polizei ihnen wieder zur Hilfe eilen.

Wie könnten die Steinmetzen so geschlossen dastehen und so einmütigen Widerstand leisten, wenn sie nicht „organisiert“ wären? Sintemalen sie aber, nachdem der „Fachverein“ aufgelöst worden, keine öffentliche Organisation haben, so müssen sie eine geheime haben – §§ 128, 129! – so argumentierte die Polizei und ihre Handlangerin die Staatsanwaltschaft. Gedacht, gehandelt! Die Polizei verhaftet erst drei der ehemaligen Vorstandsmitglieder des ehemaligen Fachvereins – dann noch vier andere Mitglieder des nämlichen Exvereins, und verlegt sich darauf, nach „Material zu suchen“. Das ist ja heutzutage Regel in Deutschland, erst verhaften und dann nach dem Grund „suchen“. Es wurde jedoch nichts gefunden. Nach veralteten Rechtsbegriffen hätten die so schnöde ihrer Freiheit Beraubten nun entlassen werden müssen. Nach modernen Rechtsbegriffen ist jedoch die Nichtauffindung von belastendem Material ein „erschwerender“ Umstand, denn sie beweist die Raffiniertheit des Verhafteten, der mit diabolischem Scharfsinn die Beweise seiner schuld aus dem Wege zu räumen gewusst hat. – Und wenn wir noch ferner in Erwägung ziehen, das in Leipzig vor Kurzem an Stelle dess anständigen Oberstaatsanwalts Hofmann der sattsam bekannte Händschel zum Oberstaatsanwalt ernannt worden ist, so kann man sich die Lage der Verhafteten lebhaft vorstellen.

Genug – die Untersuchungshaft zieht sich in die Länge – die drei zuerst Verhafteten sitzen bereits 6, die anderen 5 Wochen lang, und dieser Tage ist endlich auch gegen die 7 Verhafteten und gegen 21 andere Steinmetzen eine Anklage auf Geheimbund erhoben worden.

So wird folglich auch Leipzig seinen „großen Geheimbundsprozess“ haben, und zwar einen Geheimbundsprozess, den die Leipziger Polizei im Dienste der Leipziger Innungsmeister gegen Angehörige eines Fachvereins veranstaltet hat, der sich niemals, so lange er bestand, auch nur einen Moment mit Politik oder gar sozialdemokratischer Politik und Agitation beschäftigte!

Wir werden auf den Prozess zurückkommen, sobald er zur Verhandlung gelangt. Wir wollen aber die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, auf die Pflichten aufmerksam zu machen, welche die schmachvolle Verfolgung der Leipziger Steinmetzen jedem ehrlichen Arbeiter auferlegt. Abgesehen von materieller Unterstützung ist vor Allem dafür zu sorgen, das die Sachlage in den weitesten Arbeiterkreisen – auch des Auslandes, worauf wir namentlich die Genossen in Paris und London und die dortige Arbeiterpresse aufmerksam machen – bekannt wird, damit es den Zunftmeistern nicht gelingt, die braven Leipziger Steinmetzen durch fremden Zuzug niederzuwerfen und zu verdrängen. Unterstützungen sind schleunigst an Franz Kitzing, Steinmetz, Kreuzstraße (Bellevue), Leipzig zu senden.

– Noch eine charakteristische Tatsache aus dem Leipziger Steinmetzenstreik sei hier erwähnt, weil sie ein lehrreicher Beitrag ist zur Kennzeichnung des modernen Innungsschwindels.

„Die Innungsmeister“ – lesen wir in einem von den ausgesperrten Arbeitern versandten Zirkular – „versuchen es, die Arbeit zum Teil mit Nichtsteinmetzen fertig zu stellen. Uns wollen sie von der Hebung des Handwerks vorschwatzen, ihre Taten sind gerade das Gegenteil und müssen auf das Schärfste verurteilt werden.“

Allerdings. Diese „Hebung des Handwerks“ ist das Gegenstück des „Schutzes der nationalen Arbeit“, den gerade die erbittertsten Feinde der nationalen Arbeit beständig im Munde führen. Hebung der Meistervorrechte, Schutz der nationalen Ausbeuterprofite – – das ist der wahre Kern, der in der verlogenen Umhüllung steckt.


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