Franz Mehring: Die zweite Auflage

[Die Neue Zeit, X. Jahrgang 1891-92, I. Band, Nr. 7, S. 193-198]

 Berlin, 2. November 1891.

Der Erlass, den der König von Preußen vor einigen Tagen gegen das Prostitutions- und Zuhälterwesen gerichtet hat, ist in der Tagespresse von den verschiedensten Gesichtspunkten aus beleuchtet, aber er ist noch nirgends auf seinen geschichtlichen Zusammenhang hin untersucht worden, Und doch ist eine solche Untersuchung schlechthin unerlässlich, wenn die königliche Kundgebung nach ihrer grundsätzlichen und tatsächlichen Tragweite richtig gewürdigt werden soll

Will man über die angeschnittenen Fragen in der Gesetzgebung des preußischen Staates klare Bestimmungen finden, so muss man auf das alte, brave Landrecht zurückgehen. In seinem zweiten Teile, Titel 20, handelt es in den §§ 999 bis 1027 von der „gemeinen Hurerei“*) und bestimmt gleich im § 999: „LiederIiche Weibspersonen, welche mit ihrem Körper ein Gewerbe treiben wollen, müssen sich in die unter der Aufsicht des Staates geduldeten Hurenhäuser begeben.“ In § 1023 wird die Hurerei ohne polizeiliche Aufsicht mit dreimonatlicher Zuchthausstrafe und danach Einsperrung in ein Arbeitshaus auf so lange bedroht, bis die betreffenden „Weibsbilder“ zu einem ehrlichen Unterkommen „Lust und Gelegenheit“ erhalten. Mit dieser sonst verwirkten Strafe sollen sie aber verschont werden, wenn sie schwanger werden und „sich bei ihrer Niederkunft vorschriftsmäßig verhalten,“ Beiläufig eine für den aufgeklärten Despotismus Friedrichs II. höchst charakteristische Bestimmung! Je weniger er die Junker hindern konnte, ihre Bauern zu legen, um so mehr war er auf die anderweitige Beschaffung von Rekruten bedacht, Und wie er den „verfluchten Fafen“ [Pfaffen] verbot, über gefallene Mädchen Kirchenbuße zu verhängen, so sollte auch die Winkelhure straflos ausgehen, wenn sie zur „Peuplierung“ seiner Staaten beitrug. Weiter verbot das Landrecht den Ausschank von Getränken in „dergleichen Häusern“ es ordnete an, das keine Person, welche sich wieder auf eine ehrliche Weise nähren wolle, in denselben zurückgehalten werden dürfe, selbst nicht „wegen gegebener Vorschüsse oder sonst gemachter Schulden“ und auch in allem anderen suchte es dem Menschenhandel der „Hurenwirte und Hurenwirtinnen“ durch die Androhung schwerer Zuchthausstrafe, „nebst Willkommen und Abschied“ nach Möglichkeit zu steuern, Wie immer man sonst über diesen Abschnitt des Landrechtes denken mag: er war in seiner Art ehrlich und klar, offen und unzweideutig.

Eine ebenso deutliche Sprache versuchte auch noch das preußische Strafgesetzbuch in seinen ersten Entwurfe von 1836 zu führen; derselbe bestimmte in § 513: „Wer ohne ausdrückliche polizeiliche Erlaubnis ein Bordell oder eine zu gleichem Zwecke bestimmte Wirtschaft oder Anstalt hält, hat zwei- bis vierjährige Zuchthausstrafe verwirkt,“ Aber ehe dieser Entwurf noch gesetzliche Kraft erlangte, kam Friedrich Wilhelm. IV. zur Regierung und mit ihm das Phantom des „christlichen Staates.“ In einem neuen Entwurfe zum Strafgesetzbuche vom Jahre 1843 wurde die Beseitigung aller Bordellwirtschaften ausgesprochen, aber das genügte dem Eifer Friedrich Wilhelms IV. noch nicht. Er richtete gleichzeitig eine feierliche Kundgebung an den Staatsrat und sagte darin: „In dem Entwurf finde ich die Absicht, das die Polizei der Unzucht überall, wo solche sich öffentlich oder gewerbsmäßig zeigt, entgegentreten und dieselbe nirgends dulden solle, nicht klar genug ausgesprochen“ und er verlangte demgemäß eine noch strengere Fassung. Über diese Kabinettsorder schreibt Julius Duboc, ein Freund und Schüler Feuerbachs, in seiner 1878 erschienenen Schrift „Die Behandlung der Prostitution im Reiche“ Folgendes: „Ihr Grundgedanke ist: die gewerbsmäßige Unzucht hat überhaupt aufzuhören. Sic volo, sic jubeo. Die Gesetzgebung hat dies auszusprechen, die Polizei hat dafür zu sorgen, das sie sich „nirgends“ mehr blicken lasse. Der gordische Knoten der Prostitution wird durchhauen, ein Schwertstreich löst die Verwicklung. Der christliche Staat, ohne sich irgend mit hausbackenen und philisterhaften Erwägungen zu beflecken, ob das, was er dekretiert, möglich sei, stellt sich ungefähr auf den Standpunkt des unfehlbaren Papstes, der die „Tatsache“ Italien nicht anerkennt, und unbekümmert um seine eigene Machtsphäre, ihre Vernichtung im Prinzip ausspricht, Angesichts einer so visionären Auffassung über die Befugnisse und Obliegenheiten der staatlichen Aufsicht, unter dem Drucke dieser sic volo, sic Jubeo-Politik geriet die Gesetzgebungsarbeit ins Schwanken.“ In der Tat – und wie geriet sie ins Schwanken!

Das preußische Strafgesetzbuch kam 1851 zustande. Ministerium und Volksvertretung, so reaktionär damals das eine, wie die andere war, konnten sich der Einsicht nicht verschließen, dass die sic volo sic jubeo-Politik des „christlichen Staats“ gegenüber der Prostitution eine Schimäre sei, aber sie wagten nicht, dem Könige offen zu widersprechen. In diesem Dilemma halfen sie sich in einer verdammt gescheiten Weise, sie bestimmten in § 147 des neuen Strafgesetzbuches: „Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Gefängnis bestraft; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden“, ohne irgend eine Ausnahme zuzulassen. Aber sie bestimmten zugleich in § 146, dass nur eine den polizeilichen Anordnungen zuwiderlaufende Unzucht von Frauenzimmern zu bestrafen sei. Julius Duboc kennzeichnet diese Sorte von Gesetzgebung ganz treffend dahin, das jener Paragraf polizeilich konzessionierte Bordelle zu verbieten, dieser Paragraf sie aber zu gestatten scheint, Die beiden Paragrafen sollten in Wirklichkeit mit dem „christlichen Staate“ ein wenig Augenverblenden spielen, Hinter den Kulissen, d.h. in den Kommissionen beider Kammern einigte man sich dahin, das der § 147 für konzessionierte Bordelle nicht gelten solle. Demgemäß wurden die nach der Kabinettsorder von 1843 unterdrückten Bordelle 1851 in Berlin wieder zugelassen, und der preußische Justizminister stellte in einem Reskripte vom 7. April 1853 ausdrücklich fest, dass § 147 des Strafgesetzes auf polizeilich genehmigte Bordelle nach Absicht der Gesetzgebung keine Anwendung finden solle.

Allein mit der sic volo sic jubeo-Politik des „christlichen Staats“ haben sich nicht nur Ministerium und Parlament, sondern auch noch andere Leute abzufinden, so die Polizei, welche zwar dem Ministerium untersteht, aber gerade in Berlin, wo der Polizeipräsident Immediat-Vortrag beim Könige hat, eine gewisse Selbstständigkeit genießt; so die Gerichte, welche dem Justizminister in „ihrer Rechtsprechung nicht unterstehen, wohl aber „im Namen des Königs“ ihre Urteile verkünden; endlich aber auch die Anhänger des „christlichen Staats“ im Lande, Diese gingen sofort mit Denunziationen gegen die neu eröffneten Bordelle vor; die Polizei fegte dieselben 1856 wieder aus Berlin fort und das Obertribunal entschied, dass, welches immer die Absicht der Gesetzgeber gewesen sein möge, „nach dem klaren und unbedingten Wortlaute von § 147 des Strafgesetzes die Inhaber aller Bordelle, auch der polizeilich genehmigten, der Kuppelei schuldig seien. In der Praxis begann nun das holdeste Durcheinander auf diesem unholden Gebiete: je nach Gelegenheit und Laune des Polizeistaats würden die Bordelle geschlossen oder geduldet, wurden ihre Inhaber ins Gefängnis gesteckt und für ehrlos erklärt oder aber ganz unbehelligt gelassen.

Kam das neue deutsche Reich und das neue deutsche Strafgesetzbuch. Die bürgerlichen Parteien des Reichstags wussten sowohl, welche Folgen die Feigheit des preußischen Landtags von 1851 gehabt hatte, als auch kannten sie die größere Ehrlichkeit der bisherigen bayerischen, hamburgischen, sächsischen etc. Gesetzgebung in diesem Punkte. Das hinderte sie aber keineswegs, die preußische Landratskammer an Feigheit noch zu überbieten. Ein von sämtlichen Ärzten des Hauses eingebrachter Antrag auf eine, gleichviel ob richtige oder unrichtige, aber jedenfalls klare, gesetzliche Regelung der Materie wurde mit den bekannten Kulissenmittelchen heimlich beseitigt; dann nahm der Reichstag ohne jede Debatte, um nicht au „allerhöchster Stelle“ irgendwie anzustoßen, die §§ 146 und 147 des preußischen Strafgesetzbuchs in das deutsche Strafgesetzbuch hinüber. Nur dass sie nicht mehr neben einander gestellt, sondern durch einen weiten Zwischenraum getrennt wurden, wodurch sich das in ihnen enthaltene Trugbild noch mehr verschleierte. § 147 wurde § 180, § 146 aber wurde in § 361 mit untergebracht.

Nach dieser herrlichen Leistung bürgerlicher Gesetzgebung entwickelte sich dasselbe Tohuwabohu, welches von 1850-70 im preußischen Staate getobt hatte, auf größerer Stufenleiter nun auch im deutschen Reiche. Schon im Jahre 1871 wandte sich ein bei Hamburg wohnhaftes Ehepaar, Inhaber einer sogenannten „christlichen Herberge, “ an die Hamburgische Staatsanwaltschaft um strafrechtliche Verfolgung einiger in ihrer Nähe wohnhafter Inhaber von Bordellwirtschaften, wurde aber mit diesem Gesuche von sämtlichen Hamburgischen Instanzen, Staatsanwaltschaft, Senat und Anklagekammer des Obergerichts, abgewiesen. Die Beschwerdeführer richteten darauf eine Eingabe an sechzehn deutsche Hochschulen, von denen zwölf (Berlin, Erlangen, Freiburg, Göttingen, Halle, Heidelberg, Leipzig, Marburg, Rostock, Straßburg, Tübingen und Würzburg) die Frage, ob das deutsche Strafgesetzbuch polizeilich genehmigte Bordelle zuließe, verneinten, während vier (Bonn, Kiel, Jena und München) diese Frage bejahten. Die betreffenden Rechtsgutachten, welche interessante Einblicke in die Geheimnisse bürgerlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung gewähren, sind gesammelt in der 1877 erschienenen Schrift: „Aktenstücke einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem deutschen Reichskanzleramte und dem Senate von Hamburg mit Rechtsgutachten von sechzehn deutschen Universitäten,“ – Gestützt auf die Mehrzahl dieser Gutachten ersuchte der Bundesrat im Juni 1876 den Senat von Hamburg, „wegen Abschaffung der daselbst bestehenden Bordelle das Geeignete zu. Verfügen.“

Es war ungefähr um die Zeit, als die Parole ausgegeben wurde von der „Religion,“ die dem „Volke erhalten werden müsse.“ Gerichte und Polizeibehörden boten die äußerste Dampfkraft auf, die Prostitution auszurotten bis auf die letzte Spur. Das Reichsgericht in Leipzig verbaute der Kuppelei auch das kleinste Schlupfwinkelchen. Es ging im Jahre 1885 sogar so weit, eine der berühmtesten und gefeiertsten Gestalten der deutschen Dichtung, nämlich Immermanns Hofschützen, für einen zuchthauswürdigen Kuppler zu erklären. Man entsinnt sich aus dem Münchhausen der Szene, in welcher Oswald im Hause des Hofschützen sein Gewehr sucht, dabei in die Schlafkammer der Tochter vom Hause gerät und eine „unzweideutige Gruppe“ entdeckt, Über welche ihn der Bräutigam dahin aufklärt: „Das müssen sie nicht für übelnehmen, denn das zweite Aufgebot ist gewesen und nächsten Donnerstag ist Hochzeit, und wenn es soweit ist, fragt der Pastor oder der eigene Vater nichts danach; diese Nacht wird bei uns Korn gesackt und so musste ich meine Braut zu Nachmittage besuchen.“ Immermann aber, der bekanntlich auch ein strammer Jurist war, lässt seinen Oswald fröhlich zum Walde eilen und dabei philosophiere: „Ist der Bursche aus Unenthaltsamkeit vor der Zeit in sein Recht getreten? Gewiss nicht. Es ist so herkommen, lieblicher, lustiger Branch, und sein Mädchen würde sich vielleicht für verachtet halten, wenn er ihn nicht mitmachte.“ Nun wohl, die Duldung dieses „lieblichen, lustigen Brauchs,“ dem bekanntlich auch Luther gehuldigt hat, indem er gleich nach der Verlobung mit Katharina v. Bora sein Beilager hielt, erklärte der dritte Senat des Reichsgerichts im Jahre 1885 für Kuppelei, Er verkündete den Rechtssatz: „Eltern, welche (derartigen) Vorschub leisten, werden dadurch nicht entschuldigt, dass der Vollzug der Heirat nahe bevorsteht und die Volkssitte angeblich in einem solchen Verkehre nichts Ungehöriges findet.“ Solche Vorschubleistung liege auch ohne positives Tun schon in Gewährung von Gelegenheit durch ungestörtes Alleinlassen der Liebenden bei entsprechender Einrichtung des Orts der Zusammenkunft und bei Kenntnis des Umstands, das sich solche Dinge voraussichtlich dort ereignen würden. Die betreffenden Eltern, also in dem Immermannschen Falle der Hofschütze, unterlägen den §§ 180 und 181 des Strafgesetzes; sie müssen mit Zuchthaus von mindestens einem bis zu fünf Jahren und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte bestraft werden; auch könne die Polizeiaufsicht über sie verhängt werden. Man wird anerkennen, dass mit dieser Entscheidung des Reichsgerichts die denkbar äußersten Grenzen des Kuppelei-Paragrafen erreicht sind.

Ebenso bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit verfolgte die Polizei die Prostituierten, jene unglücklichen Opfer der Gesellschaft, von denen die Münchener Universität in ihrem erwähnten Rechtsgutachten sagt, dass sie mehr zu beklagen, als zu verdammen seien. Die Tanzsäle und Weinkeller, welche ihnen Unterschlupf gewährten, wurden auf die Polizeistunde gesetzt oder durch die Entziehung der Konzession ganz geschlossen ; Hausbesitzer, welche ihnen Wohnungen vermieteten, wurden wegen Kuppelei denunziert, angeklagt und auch verurteilt. Es blieben ihnen nur zwei Schlupfwinkel, in welche der Arm der Polizei nicht reichte: der Schoß der bürgerlichen Familie und – in beschränktem Maße – die offene Straße. Hören wir über den ersten Punkt eine sehr christliche Quelle, eine von dem „Zentralausschusse für innere Mission“ verfasste Denkschrift, in welcher es heißt: „Die gegenwärtigen Bordelle unterscheiden sich von den früheren nur dadurch, das sie inmitten des bürgerlichen Verkehrs, unter demselben Dache und Wand an Wand mit dem Familienleben der Bevölkerung sich befinden und von keinem Reglement belästigt sind, ohne das die Behörde die Möglichkeit oder ein Recht hätte, das zu hindern.“ Und was die offene Straße anbetrifft, so vermag die Polizei dieselbe den Prostituierten zwar bis zu einem gewissen Grade, aber nicht völlig zu versperren; in dem Kampfe um den – neben der bürgerlichen Familie – letzten Zufluchtsort hat sich das Zuhältertum als eine Sauvegarde der Prostitution gegen die Polizei zu jener abschreckenden Ausdehnung entwickelt, welche in dem Mordprozesse Heinze zu Tage getreten ist.

Soweit war die geschichtliche Entwicklung gediehen, als der königliche Erlass vom 22, v. M. erschien. Nachdem die Gerichte und die Polizei mit ihrem halbhundertjährigen Kampfe gegen die „gemeine Gefahr für Staat und Gesellschaft“ nichts anderes erzielt haben, als die Erkenntnis, dass sie diese Gefahr unmöglich überwinden können, so sehr sie mit ihrer äußersten Kraft bis an die äußersten Grenzen des Möglichen gegangen sind, treibt der Erlass die Gerichte und die Polizei von Neuem an, das Unmögliche gleichwohl möglich zu machen, Er ist in der Tat nichts anderes als die zweite Auflage der Kabinettsorder von 1843.

Unter diesem Gesichtspunkte begreift sich zweierlei sehr leicht. Erstens, dass keiner der Minister, von denen jeder die Akten studiert haben dürfte, den Erlass gegengezeichnet hat. Zweitens aber, dass die bürgerliche Presse die königliche Kundgebung trotz allem sonstigen Byzantinismus mit sehr unwirscher Laune erörtert, Die Prostitutionsskandale der letzten Zeit hatten sie gar sehr erschreckt, und sie war eben daran, zwar nicht die Prostitution, welche sie klug genug ist, als ein unveräußerliches Erbteil der „besten aller Welten“ zu erkennen, aber doch den Skandalen durch die Einführung von Bordellen ein Ziel zu sehen. Darin waren alle die ehrbaren Blätter einig, von der altjüngferlichen „Vossischen Zeitung“ bis zur zimperlichen „National-Zeitung“ und dem frommen „Konservativen Wochenblatt,“ Nur einige Organe des „christlichen Staates“ auf der äußersten Rechten schlossen sich dieser Agitation nicht an, und auf der Linken nicht Herr Eugen Richter, der in der „Kasernierung der Prostitution“ unklaren Staatssozialismus wittert und auch die gewerbsmäßige Hurerei nach den ewigen Prinzipien von St. Manchester betrieben haben will. Aber sonst sind die bürgerlichen Pressorgane in ihrer Sehnsucht nach Bordellen einig, und ferner sind sie in altgewohnter Heuchelei auch darin einig, das sie die gesetzliche Befriedigung ihrer Sehnsucht vermieden wissen und wenn möglich die Mogeleien von 1851 und 1871 mit besserem Erfolge wiederholen wollen, sie verrieten die tiefsten Geheimnisse ihrer Herzen, als sie urplötzlich die Nachricht aufbrachten, die hiesige Polizei gedenke „binnen kürzester Frist“ Bordelle zu konzessionieren. Leider hatte der Humbug sehr kurze Beines; in seinem Kampfe gegen die Prostitution hat das Reichsgericht die von ihm beliebte Auslegung des Kuppeleiparagrafen so niet-und nagelfest gemacht, das jede Polizeibehörde, welche Bordelle konzessioniere wollte, sofort wegen Kuppelei belangt werden müsste. Kaum hatte die bürgerliche Presse diese schwierige Lage erkannt, als der königliche Erlass sie des Weiteren belehrte, dass selbst die gesetzliche Anerkennung des Bordellwesens nicht ohne einen ernsthaften, politischen Kampf mit der Krone zu erreichen ist, Man kann den Ingrimm der bürgerlichen Presse daran ermessen, das Einzelne ihrer Organe sogar auf die verzweifelte Behauptung verfielen, der königliche Erlass steuere auch auf Bordelle los und verschweige sein Endziel nur, weil sein Urheber, nachdem er so oft den Bau von Kirchen empfohlen habe, nicht auch den Bau von Bordellen empfehlen könne. Diese Finte starb schon im Augenblicke ihrer Geburt an ihrer Lächerlichkeit. Man mag über den königlichen Erlass denken, wie man will, und wir haben ihn grundsätzlicher kritisiert, als irgend ein bürgerliches Blatt ihn benörgelt hat, aber so viel ist klar: er ist einem ehrlichen Glauben an den „christlichen Staat“ entflossen und wer diesen Glauben hat, darf niemals, und wird auch schwerlich jemals mit der Prostitution paktieren.

Es muss abgewartet werden, ob die bürgerlichen Klassen, was sie im Kampfe für die Freiheiten und Rechte der Nation stets vermissen ließen, nunmehr bewähren werden: nämlich Konsequenz und Courage im Kampfe für – Bordelle, Der Kampf selbst ist natürlich durchaus ein Internum der heutigen Gesellschaft: wer zu der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis gelangt ist, dass es nur ein Heilmittel gegen die Prostitution und das Zuhältertum gibt: nämlich die Beseitigung der Gesellschaft, deren Sumpfboden jene Sumpfpflanzen unerschöpflich neu erzeugt, kann in dem ganzen Streite einzig die Rolle des Zuschauers übernehmen.

*) Den Lesern der „Neuen Zeit“ gegenüber ist wohl kaum ein Wort der Entschuldigung nötig, wenn in den obenstehenden Ausführungen das Wort „Hure“ überall gebraucht wird, wo es sich nicht vermeiden lässt. Wir möchten der Prüderie der bürgerlichen Presse in diesem Punkte um so weniger ein Zugeständnis machen, als wir für unseren Teil uns nicht getroffen fühlen, wenn Lessing schreibt: „sehr oft sind das verschämteste Betragen und die unzüchtigsten Gedanken in einer Person. Nur weil sie sich dieser zu sehr bewusst sind, nehmen sie ein desto züchtigeres Äußerliche an. Durch nichts verraten sich dergleichen Leute aber mehr, als dadurch, das sie sich am meisten durch die groben, plumpen Worte, die das Unzüchtige geradezu ausdrücken, beleidigt finden lassen und weit nachsichtiger sind gegen die schlüpfrigsten Gedanken, wenn sie nur in feine unanstößige Worte gekleidet sind. Und ganz gewiss sind doch diese den guten Sitten weit nachteiliger, weit verführerischer. Man hat über das Wort Hure in meiner Minna geschrien Der Schauspieler hat sich nicht einmal unterstehen wollen, es zu sagen. Immerhin: ich werde es nicht ausstreichen und werde es überall wieder brauchen, wo.ich glaube, das es hingehört.“


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