[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 18, 6. Juni 1910, S. 273 f.]
Die Komödie der parlamentarischen Behandlung der preußischen Wahlrechtsreform ist aus. Sie hat geendet, wie sie begonnen: als dreiste Verhöhnung der Rechtsforderung, welche die breiten Massen der preußischen Bevölkerung erheben. Auf das herrenhäuslerische Zwischenspiel, das den plutokratischen Charakter der sogenannten Wahlrechtsreform noch verschärft hatte, ist der Komödie letzter Akt im Dreiklassenhaus gefolgt. Er war kurz und wurde im Wesentlichen durch die Bestimmungen entschieden, mittels welcher die stockreaktionäre Erb- und Zunftweisheit der Herrenhäusler die Größe der Drittelungsbezirke innerhalb der Wahlkreise und die Maximierung regeln wollte. Unsere Leserinnen finden die Einzelheiten darüber an anderer Stelle.
Der Ausgang bedeutet den vollständigen Bankrott der gesetzgebenden Gewalten von Geburts und Geldsacks Gnaden in Preußen, eine Wahlrechtsreform ohne die proletarischen Massen und gegen sie zu machen. Diesem edlen Zwecke sollten dienen: zusammen acht Lesungen der Regierungsvorlage im Abgeordneten- und im Herrenhaus; wochen-, ja monatelange Arbeiten zweier Kommissionen; unzählige Sitzungen der preußischen Minister und der parlamentarischen Fraktionen, mitsamt interfraktioneller Konferenzen; noch ungezähltere Drahtziehereien hinter den Kulissen zwischen den „führenden“ und „regierenden“ Männern. Dieser ganze parlamentarische Aufwand aber ist „umsonst vertan“. Sein Ergebnis ist gleich Null.
Äußerlich betrachtet stellt sich dies klägliche Ende als das Resultat des Schacherns und Feilschens um Mandate dar, eines Schacherns und Feilschens, das zumal die Zentrümler und Nationalliberalen nicht unter den Hut einer trügerischen Scheinreform des Dreiklassenwahlrechts kommen ließ. Jedoch hinter dem bürgerlichen Familienzwist um die Mandatbeute steht als letzte entscheidende Kraft der große weltgeschichtliche Handel zwischen Proletariat und ausbeutenden Klassen. Er ist soweit gediehen, dass er Regierung und bürgerliche Parteien wohl vor die Reform des Dreiklassenwahlrechts peitscht, sie aber gleichzeitig erschreckt vor der Aufgabe zurückscheuen lässt, die politischen Rechtsansprüche der Massen zu befriedigen. Denn sie sind sich über das vollständig im Klaren, was den Massen der Habenichtse noch nicht unverwischbar genug ins Bewusstsein geprägt ist: dass politische Rechtsfragen, dass Verfassungsfragen ihrem Wesen nach Machtfragen sind. Daher suchen sie alle nach jener Quadratur des Zirkels einer Wahlrechtsreform, welche dem Wahlrechtskampf die Spitze abbrechen könnte, ohne zugleich die politische Macht der besitzenden Klassen um ein Jota zu mindern.
Regierung und Konservative haben bei dem Tasten nach solcher Lösung nichts zu verlieren gehabt als höchstens den Ruf der Geschicklichkeit, geschäftliche Gerissenheit mit einem gewissen äußerlichen würdigen Anstand zu vereinigen. Anders der bürgerliche Liberalismus. Er hat durch sein Verhalten in der preußischen Wahlrechtsfrage die letzten Hoffnungen auf seine Wiedergeburt erschlagen, welche liebenswürdige politische Kinder noch hegen mochten. Sein unaufhaltsamer Verfall tritt nicht nur in der schmachvollen Haltung der Nationalliberalen zutage, sondern stärker und charakteristischer noch in dem schmachvolleren Verrat des Zentrums. Das Zentrum nennt sich selbst eine Volkspartei, die Partei, welche die stolze Devise in die Praxis umsetzt: „Für Wahrheit, Freiheit und Recht“. Für große Teile Preußens, Deutschlands überhaupt, hat es jene kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten in sich aufgenommen, die der Grundstock und die vorwärtstreibende Kraft der bürgerlichen Demokratie sind. Diese geschichtliche, viel zu wenig beachtete Tatsache hat ganz beträchtlich zur schwächlichen, krüppelhaften Entwicklung der bürgerlichen Demokratie in Deutschland beigetragen. Sie hat den Fraktiönchen des „Linksliberalismus“, die sich vor kurzem zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammengeschlossen haben, beträchtliche und wertvolle Kräfte entzogen, und das zu der gleichen Zeit, in der in steigendem Maße ihre frühere proletarische Gefolgschaft zu der Sozialdemokratie überging. Im Zentrum aber sind die kleinbürgerlich-kleinbäuerlichen Elemente mit demokratischen Tendenzen – ebenso wie die proletarischen – durch den überragenden Einfluss des agrarisch-großkapitalistischen Flügels gebunden. Gebunden allerdings im letzten Grunde – den protestantischen Mittelständlern, Antisemiten usw. gleich – dank der Ohnmacht der hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Schichten, welche durch die gesellschaftliche Entwicklung aus der früheren bedeutsamen Position gedrängt worden sind.
Nach der Finanzreform hat die Wahlrechtsfrage die völlige Unterwerfung oder wenn man will Knebelung der demokratischen Fähnlein im Zentrum bestätigt und damit den Verfall des bürgerlichen Liberalismus vollendet. Wenn die Fortschrittliche Volkspartei zukünftig den Wahlrechtskampf außerhalb des Parlamentes so energisch aufnehmen wollte, als sie ihn bis dato dort schmählich im Stiche gelassen hat; wenn sie hinter die frische Abrechnung mit der Reaktion, die Herr Fischbeck im Abgeordnetenhaus gab, und die noch weit größeren Worte ihrer Presse wirklich Taten stellen wollte: müsste sie sich angesichts der Lage der Dinge doch als ohnmächtig erweisen, einen demokratischen Wahlrechtssturm im Bürgertum auszulösen und zu führen. Das Zentrum aber will keinen solchen Wahlrechtssturm und darf ihn seinem proteusartigen Wesen nach nicht wollen. Soweit sich das Bürgertum noch zu einer leidlich kraftvollen Wahlrechtsbewegung aufraffen wollte, wird diese nicht das Werk der bürgerlichen Parteien sein, die den Schwerpunkt ihres Lebens im Parlament haben. Sie kann vielmehr nur kommen als Reflex des ungestümen, unaufhaltsamen Vorwärtsdrängens der proletarischen Massen unter Führung der Sozialdemokratie. Welche Förderung der Kampf der Arbeiterklasse um ihr Recht durch die Reste eines freiheitlich gesinnten Bürgertums erhält, hängt daher zu guter Letzt von dem Maße ihres Selbstvertrauens und der Betätigung ihrer eigenen Macht hat.
So lenkt der Ausgang der parlamentarischen Wahlrechtskomödie die Blicke immer wieder auf die schöpferischen Kräfte des politischen Lebens außerhalb des Parlamentes. Wo die Komödie endet, wo der parlamentarischen Weisheit letzter Schluss eine große Null ist: da setzt die Tat der proletarischen Massen ein. Nicht abrüsten im Wahlrechtskampf, aufrüsten muss ihre Losung lauten. Als Machtfrage kann die Wahlrechtsfrage nur durch den Einsatz von Macht gelöst werden. Die Macht der Masse liegt aber in der Straße, liegt in der Fabrik und Werkstätte. Diese Erkenntnis zum unveräußerlichen Eigentum der Besitzlosen zu machen, ihnen damit den Quell zu erschließen, aus dem unerschütterliches, ernstes Vertrauen auf ihre eigene Kraft fließt, ist die dringliche Aufgabe der Stunde. Es gilt, die Massen bereit zu machen, selbst darüber zu entscheiden, welche Steigerung sie dem Wahlrechtskampf verleihen, welches Maß der Macht sie in ihm aufbieten wollen. Sie können diese Entscheidung nur treffen im Bewusstsein der Opfer, die der Kampf fordern muss, der Gefahren, durch die er führen kann, aber auch des Preises, um den es geht. Die Lösung dieser Aufgabe stellt die Organisationen des klassenbewussten Proletariats vor neue, verantwortungsreiche Pflichten und verleiht ihnen eine erhöhte Bedeutung. Sie werden in der Sorge nicht erlahmen, ein großes Geschlecht für die große Stunde bereitzustellen, wo das parlamentarische Possenspiel der Privilegierten vor der zwingenden Macht des politischen Massenwillens abdanken muss.
Schreibe einen Kommentar