Clara Zetkin: Weihnachten

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 10. Jahrgang, Nr. 26, 19. Dezember 1900, S. 201 f.]

Über die Lande fliegt wieder feierlicher Weihnachtsglockenschall und mahnt an die alte Verheißung: Friede auf Erden!

Friede auf Erden, so tönt es von den Kanzeln, so klingt es um Weihnachtsbäume, unter denen nicht immer die Liebe ihre Gaben aufbaut, unter denen sich vielmehr oft nur die kalte, protzige Hoffahrt spreizt, und satter Reichtum hungernder Armut dürftige Brocken beschert. Friede auf Erden, so zittert es durch Millionen und Abermillionen von Herzen, in demütigem, weltfremdem Glauben, in sehnsüchtiger Hoffnung, in schmerzensreicher Verzweiflung, hier ein frommer Dank, dort ein herzzerreißender Notschrei oder eine furchtbare Anklage.

Denn ach! noch ist sie nicht erfüllet, die Zeit des Friedens auf Erden. Noch ist das Doppeljoch nicht gebrochen: „die Not der Sklaverei, die Sklaverei der Not“, das die Menschheit unter schwerer Fron hält, einer Fron, welche den Frieden von der Erde scheucht.

Mit eindringlichster Wucht predigt aber der Tatsachen Fülle gerade in diesem Jahre, wie unerfüllt die Verheißung geblieben ist, welche die liebliche Bethlehemlegende von den himmlischen Heerscharen künden lässt. Ein blutiger Hohn auf die friedensselige Weihnachtsbotschaft, so stellen sich die Ereignisse und Verhältnisse dar. Es ist, als wollten sie mit gewaltigen Zügen den Bankrott der zweitausendjährigen christlichen Kulturentwicklung schreiben, welche den ethischen und den demokratisch-revolutionären Inhalt des Christentums nicht zum Siege zu führen vermocht hat.

Friede auf Erden! In Transvaal und in China haben Goldfieber und Weltmachtkitzel der Besitzenden und Herrschenden – die doch Christen sein wollen – die entsetzlichen Furien des Krieges entfesselt. Erhobenen Hauptes schreiten alle Gräuel der Barbarei für Besiegte wie Sieger in ihrem Gefolge. In dem Dröhnen des Schlachtfeuers, in dem Knattern der Exekutionssalven – die nicht Verbrecher, die Kämpfer für die Freiheit ihres Landes in den Sand strecken – schreit der Mord, der Massenmord nicht bloß geduldet, nein, zynisch verherrlicht zum Himmel. Das Stöhnen der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden ist eine grause Begleitung der gepredigten Friedensworte, und der Schein brennender Häuser, dem Verderben geweihter Ortschaften überstrahlt den Glanz der friedlichen Weihnachtslichter. Der Friedensbotschaft der christlichen Bethlehemsnacht stellt die letzte Phase der kapitalistischen Entwicklung, stellt der Weltmachtwahnsinn das neue Hunnenevangelium entgegen: Pardon wird nicht gegeben!

Friede auf Erden! Vom tiefsten Misstrauen, von missgünstigster Eifersucht gegen einander erfüllt, stehen die christlichen, die zivilisierten Staaten bis an die Zähne bewaffnet bereit, übereinander herzufallen, sich gegenseitig zu vernichten. Tausende von Menschenleben zu opfern, die Werke vielhundertjähriger, mühevoller Kulturarbeit zu zerstören. Der Transvaalkrieg und die Chinawirren haben neuen, gefährlichen Brennstoff aufgehäuft. Ein Fünkchen, und es schlägt lodernd die Flamme empor, die zum Weltkrieg. zum Weltbrand anwächst.

Friede auf Erden! Den christlichen Deutschen wird als Weihnachtsgeschenk die frohe Nachricht beschert, dass die Profite der Kanonenkönige sich mehren werden, weil die Einführung verbesserter Mordwerkzeuge bevorsteht. „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“, mag wohl Herr Krupp im Chor mit seinen „Erwerbsgenossen“ singen. Stimme auch du ein, deutscher Steuerzahler, auch dir fällt dein Teil der Gnade zu: du darfst die Rechnung begleichen. In allen Ländern, die sich zum Friedensevangelium bekennen, Rüstungen und kein Ende. Gelehrte, Ingenieure, Techniker zermartern sich das Hirn, um für den Krieg zu Wasser und zu Lande die vollkommensten, „leistungsfähigsten“ Mordmaschinen, die furchtbarsten Zerstörungsstoffe auszuklügeln. Tausende und Tausende von Händen sind durch die Not des Lebens gezwungen, auf nützliche Arbeit zu verzichten und im Dienste der Mordkultur zu fronden. Millionen und Milliarden von Mark den Bedürfnissen des Volkes abgepresst, Pfennig um Pfennig den Darbenden, den Hungernden aus den Fingern genommen: Millionen und Milliarden von Mark den dringlichsten Kulturzwecken entwendet – dem Unterricht der Jugend, der Versorgung der Kranken, Alten und Bresthaften [Gebrechlichen], der Pflege von Wissenschaft und Kunst – werden zu Nutz und Frommen des Völker verderbenden Militarismus und des Ægirkultus vergeudet.

Friede auf Erden! Innerhalb der christlichen Nationen tobt der Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten in aller Schärfe. Die Kapitalistenklasse braucht und missbraucht ihre Geldsacksmacht, um die Klasse der Habenichtse und wenig Besitzenden so schonungslos auszuplündern, so vollständig zu versklaven, wie es fremde Eroberer nicht schonungsloser, vollständiger zu tun vermöchten. Die Kapitalistenklasse braucht und missbraucht ihre politische Macht, die Gewalt ihres Staates, um die Masse der Arbeitssklaven in Ausbeutung und Unfreiheit zu halten, um jedes Ringen ihrerseits für Brot, Bildung, Freiheit, für alles, was das Leben lebenswert macht, durch Gesetzestexte, Gesetzesauslegungen und Zwangsmaßregeln zu ersticken.

Friede auf Erden! Von dem Kriege der Genießenden und Unterdrückenden wider die Entbehrenden und Unterworfenen zeugt das Gespenst der Zuchthausvorlage, das in den berüchtigten Streikpostenverordnungen umgeht und Büttelbelieben zu Gunsten des Unternehmertums über Reichsrecht zu Gunsten der Arbeitenden stellt. Von diesem Kriege erzählt der Zwölftausendmarkskandal, der staatliche Gewalten in einem Trinkgelderverhältnis zur Clique der bösartigsten Scharfmacher zeigt. Von diesem Kriege berichtet der Kohlenwucher, der Brot- und Fleischwucher, die Auspowerung armer Mieter durch das Hauspaschatum.

Friede auf Erden! Den Unfrieden einer Gesellschaft, die sich auf der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen aufbaut, empfindet die sorgenbelastete Arbeiterfrau, die kärglich entlohnte Arbeiterin, deren schmales Einkommen durch die Besteuerung und Verteuerung der unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse noch mehr geschmälert wird. Im kalten Stäbchen, inmitten der frierenden Kinderschar erinnert die Kohlenteuerung die Frau daran, dass ihr und ihren Angehörigen in Gestalt der Zechenbarone und Kohlenritter ein rücksichtsloser Feind gegenübersteht. Die Arbeiterin, der kurz vor den Feiertagen der Lohn gekürzt wird, oder die des Brotes ganz verlustig geht; die proletarische Hausfrau, der der Mann seit Monaten schon ein geringeres Wirtschaftsgeld als sonst in die Hand drückt, oder der er scheu die Kunde bringt, dass er aufs Pflaster geflogen ist: sie spüren, dass sie Besiegte im Kampfe mit einem übermächtigen Gegner sind. Die nämliche Tatsache flüstert die Mutterliebe der Frau zu, die schmerzdurchbebten Herzens vor den glänzenden Schaufenstern steht, hinter denen sich in bunter Herrlichkeit der Tand birgt, der so viel Lust, Anregung und Glück in das Kindesleben hineinträgt. Nur ein Stückchen von all der lockenden Herrlichkeit, wie würden die Kleinen daheim jauchzen! Aber die Hand der Mutter ist leer. Die Proletarierin und ihr Mann haben mit ihrer Arbeit den lichtstrahlenden Baum in der Villa des Fabrikanten geschmückt, haben mit ihrem Mühen die kostbaren Geschenke auf seine Tafel gebreitet, und sie selbst und ihre Kinder stehen vor leeren Tischen, glücklich, wenn sie die Feiertage über genug zu brocken und zu beißen haben. Sie sind Besiegte im wirtschaftlichen, im sozialen Kampfe, für sie kein Frieden auf Erden, kein Wohlgefallen.

Friede auf Erden! In all den Ländern, die sich mit pharisäerhaftem Stolze ihrer Kultur, ihres Christentums rühmen, lebt die breite Masse des werktätigen Volkes in Dürftigkeit dahin, wenn nicht gar in schwarzer Not, aus den lichten Gefilden der Wissenschaft und Kunst verbannt, der Verkümmerung ihres Menschentums preisgegeben. Jeden Zollbreit Kulturland, jeden Schritt aufwärts und vorwärts muss sie im heißen Kampfe erstreiten. Auch die kleinste Verbesserung ihres Loses fällt ihr nicht mühelos in den Schoß, sie muss unter harten Opfern dem ausbeutenden und unterdrückenden Gegner abgerungen werden. Je zehrender die Sehnsucht nach einem Empor ihres Wesens und ihres Lebens in der Brust der Enterbten lodert; je klarer die Aufgabe vor ihrem Auge steht, ihr eigener Heiland zu sein; je leidenschaftlicher sie an ihren Ketten rütteln: um so brutaleren Widerstand setzen ihnen die Nutznießer der Heutigen Ordnung der Dinge entgegen, um so erbitterter entbrennt der Kampf von Klasse zu Klasse.

Die Furchtsamen und Kurzsichtigen mag das Tosen der sozialen Kämpfe unserer Tage schrecken. Wer das Walten der geschichtlichen Kräfte verfolgt, die am sausenden Webstuhl der Zeit ihr Werk tun, dem kündet es feierlicher, zuversichtlicher als Weihnachtsgeläut das Nahen des Friedens auf Erden. Denn nicht am Baume der Klassenausbeutung und Klassenherrschaft wächst als köstliche Frucht die Harmonie der Interessen von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk. Sie reift nur in der sozialistischen Ordnung, die mit dem Gegensatz zwischen ausgebeuteter Arbeit und ausbeutendem Besitz auch die Feindschaft zwischen den Staaten und Nationen beseitigt. Und nicht erhabene Traumbilder, vielmehr die harten Notwendigkeiten seiner Klassenlage zwingen das Proletariat, nicht eher zu ruhen und zu rasten, bis es aufbauend und kämpfend zugleich die sozialistische Gesellschaft begründet hat. Was das Christentum der erlösungsbangen Menschheit nicht zu bringen vermochte, das kämpfende Proletariat wird es ihr erringen: Friede auf Erden. In den Kampf denn, auf dass es Friede werde!


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