[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 10. Jahrgang, Nr. 25, 5. Dezember 1900, S. 193 f.]
Die Arbeiten des wieder versammelten Reichstags haben mit Verhandlungen eingesetzt, die mit der Schärfe des Scheinwerfers unsere heutigen Verhältnisse beleuchten. Das Parlament musste Stellung nehmen zum Hunnenzug mit seinen absolutistischen Begleiterscheinungen, zur Zwölftausendmarkbettelei des Reichsamts des Innern und sein Lakaienverhältnis zum Verband der Scharfmacher. Sowohl die Debatten zu der einen wie zu der anderen Materie zeigten die gähnende Kluft, welche die Sozialdemokratie, ihre Auffassung, ihre Kulturideale von der bürgerlichen Welt scheidet, eine Kluft, die so groß ist, dass sie auch durch die vernichtende Kritik nicht ausgefüllt und überbrückt werden kann, die ein Munckel an dem skandalösen Klingelbeutelumgang des Reichsamts des Innern übte. Was einander in unversöhnlicher Gegensätzlichkeit gegenüber stand, das war nicht bloß die Politik verschiedener Parteien. Es war die Sittlichkeit und Kultur verschiedener Klassen, es war die Sittlichkeit und Kultur zweier verschiedener Welten. Auf der einen Seite die brüchige, verwesende Sittlichkeit, die heuchlerische Kultur übertünchter Barbarei einer Welt, die sich der Rüste zuneigt; auf der anderen Seite die starken, jugendfrischen, reinen Sittlichkeits- und Kulturideale einer Welt, die unter dem unwiderstehlichen Drängen von Dingen und Menschen allmählich emporsteigt. Bürgerliche und proletarische Welt sind einander betreffs ihrer politischen, sittlichen, kulturellen Ideale so fremd geworden, dass die eine kaum noch die Sprache der anderen versteht. Das Klasseninteresse der ausbeutenden und herrschenden Schichten wirkt dahin, jedes politische Recht, jeden Sittlichkeitsbegriff, jeden Kulturwert zu fälschen. Das Klasseninteresse der ausgebeuteten und für ihre Befreiung kämpfenden Massen bedingt dagegen mit zwingender Gewalt, dass diese an Stelle widerlichen Talmis echtes, lauteres Gold setzen, dass sie die in den Staub getretenen Ideale edlen Menschentums schützen.
Für den politischen und sittlichen Verfall der Kapitalistenklasse spricht sinnenfällig die über alle Maßen verächtliche Haltung der bürgerlichen Parteien gegenüber der Politik des Evangeliumkurses mit seinem possenhaften Weltmarschallszwischenspiel, seinen barbarischen Gräueln, seinem wirtschaftlichen Widersinn, seinem verfassungswidrigen Gehaben. Wohl bemäkelten die Vertreter der bürgerlichen Opposition, ja sogar Konservative, ein Weniges den und jenen gar zu hässlichen „Auswuchs“ der Raubpolitik des Weltmachtskitzels. Aber in grundsätzlicher Gegnerschaft wies keine einzige bürgerliche Partei jede politische und moralische Solidarität mit ihr zurück. Von Lieber an, der sich in grotesk-regierungsfreundlichen Sprüngen geradezu überschlug, bis zu Richter, der wie stets groß im Kleinen und klein im Großen war, spannten sich die Wortführer aller bürgerlichen Parteien an den Wagen der reaktionären Weltmachtspolitik der gepanzerten Faust. Der Volksparteiler Payer aber, dessen ketzerischer Sinn durch Hunnenreden und Weltmarschallsbilder noch nicht von der Notwendigkeit und den Segnungen des Kreuzzugs wider China überzeugt worden ist, erklärte ausdrücklich, nur seine persönliche Auffassung zu vertreten. Ja, es blieb sogar das angedrohte furchtbare Gewitter aus, das bürgerlicherseits den Verfassungsbruch der Regierung strafen sollte, die einen Krieg begonnen, neue Regimenter geschaffen. Tausende in den Tod geschickt, Millionen verausgabt hat, ohne die verfassungsgemäß erforderliche Zustimmung des Reichstags einzuholen. Der schlecht inszenierte Theaterdonner, den die bürgerlichen Politiker durch das Parlament rollen ließen, war mehr dazu angetan, die Umstürzler von oben zu ergötzen, statt sie von weiteren Attentaten gegen die Rechte der Volksvertretung zu schrecken. Die bürgerliche Majorität erquickte sich alleruntertänigst an den höhnischen Dienerchen, mit denen der geschmeidige Bülow vor dem Worte „Indemnität“ knixte und ließ sich dafür als ein „nicht-beachtliches Etwas“ behandeln. Weil sie den grundsätzlichen Kampf gegen die Weltmachtspolitik nicht wollte, so konnte sie auch nicht ihren absolutistischen Allüren mit allem Nachdruck entgegentreten. Das kapitalistische Klasseninteresse fordert die Weltmachtspolitik, um der Überproduktion entgegen zu wirken, um die Ausbeutung des einheimischen werktätigen Volkes zu festigen, um die werktätigen Massen des ganzen Erdballs der kapitalistischen Auspressung zu unterwerfen. Diesem Begehren gegenüber wiegt Wahrheit, Menschlichkeit, Achtung vor dem Rechte fremder Nationalität, Achtung vor den Werken einer Jahrtausende alten Kultur, bürgerliche Freiheit nicht einen Strohhalm.
Ebenso eindringlich wie die Chinadebatten predigen die Verhandlungen über den Zwölftausendmarkskandal den politischen und sittlichen Verfall der bürgerlichen Welt. Urkundlich liegen die Beweise vor, dass ein hoher Beamter im Reichsamt des Innern – sicherlich mit Kenntnis und Einwilligung seines obersten Vorgesetzten – Gelder zur Agitation für die Zuchthausvorlage von den nämlichen Großindustriellen erbettelt hat, in deren Interesse der dem gesamten Proletariat verhasste und verderbliche Gesetzentwurf lag. Der Almosengang der Herren Woedtke-Posadowsky besiegelte gleichsam offiziell das Gesindeverhältnis, in dem der deutsche Kapitalistenstaat zum Großunternehmertum steht. Denn das ist das charakteristischste seiner Merkmale und darin beruht seine große Bedeutung: er stellt nicht eine „Verfehlung“ einzelner Personen dar, er ist vielmehr die natürliche, unvermeidliche Frucht des Systems der gepanzerten Faust gegenüber dem deutschen Proletariat Auch für die naivsten Gemüter, welche noch an die „Unparteilichkeit“, an die „Gerechtigkeit“ des Staates glauben, löst sich von der Zwölftausendmarkbettelei ein Urteil los, das ebenso vernichtend für das System wie schimpflich für seine Träger ist. Wie aber hat die bürgerliche Majorität des Reichstags gerichtet?
Sie ermangelte des politischen Scharfblicks wie des sittlichen Reinlichkeitsgefühls, um in die Forderung einzustimmen, welche Auer im Namen der Sozialdemokratie erhob: „Fort mit diesem System und hinaus mit den Schuldigen.“ Mit den nationalliberalen und konservativen Gesellen der Scharfmacher innig verbrüdert, gab sich das „auch-arbeiterfreundliche“ Zentrum mit der nichtssagenden Erklärung des Reichskanzlers zufrieden. Ein Akt sträflichster Korruption verklärte sich für das reaktionäre Geschwister zu einem harmlosen „Missgriff“, dem in Gestalt löblichsten Amtseifers mildernde Umstände zugebilligt werden mussten, der allenfalls sanft-väterlichen Tadel verdiente, aber keineswegs gebieterisch strengste Sühne heischte. In fast überströmender Dankbarkeil drückten die Herren – Allen voran Lieber – die Finger der Regierung, die nach Munckels mannhaftem Ausspruch durch die zusammengefochtene Summe „beschmutzt“ waren. Ihr kapitalistisches Empfinden und Denken ließ das alte Wort vergessen: „Wer Pech angreift, besudelt sich.“ Das kapitalistische Klasseninteresse fordert Knebelung der aufsässigen Proletariermassen um jeden Preis, fordert eine reaktionäre Sozialpolitik Es erschlägt die Unparteilichkeit des Staates, die Würde und das Solidaritätsgefühl der Beamten, das Sittlichkeitsempfinden der durch „Besitz und Bildung einflussreichen Kreise“.
Denn über den politischen Verfall der bürgerlichen Parteien hinaus zeigen die Reichstagsdebatten über Khakiwahnwitz und reichsamtliche Klingelbeutelpolitik den Verfall der Sittlichkeit und Kultur der herrschenden Klassen. Von der bürgerlichen Welt wird der ekle Verwesungsgeruch des wieder verschlossenen Skeletts im Schranke nicht empfunden, weil ihre gesamte Atmosphäre erfüllt ist von den widerlichen Miasmen einer modrigen, faulenden Sittlichkeit, einer verfallenden Kultur. Die Rohheit, Barbarei, Ungerechtigkeit, Kulturwidrigkeit der Weltmachtspolitik gelangt der bürgerlichen Welt nicht zum qualvollen Bewusstsein, weil ihre gesamte Atmosphäre schwer ist von Rohheit, Barbarei, Ungerechtigkeit, Kulturwidrigkeit gegenüber den Massen der Enterbten, weil ihre Sittlichkeit sich nicht empor geläutert hat zur Sittlichkeit des gleichen Rechts für Alle, weil ihre Kultur das Privilegium ist einer Minderheit, keine Kultur für Alles, was das Menschenantlitz trägt.
Mit der gewaltigen Kraft einer reinen, starken Überzeugung hat die Sozialdemokratie der verfallenden bürgerlichen Sittlichkeit und Kultur die Sittlichkeits- und Kulturideale des aufsteigenden Proletariats entgegengestellt. „Ich bin ein Kämpfer der Wahrheit“, so konnte Bebel leidenschaftlich-stolz Denen erwidern, welche seine wuchtigen Anklagen durch das alberne Mätzchen von der verdienten „Boxerführerschaft“ zu verkleinern suchten. „Wir sind Kämpfer der Wahrheit, Kämpfer für echte Sittlichkeit und Kultur“, so tönt es aus den Reden Auers, Singers, Schoenlanks, so tönt es aus dem Proteste Aller, welche die hunnische Eroberungspolitik und die korrupte Sozialpolitik an den Schandpfahl der Geschichte schlagen. Neuland! das ist der trostreiche Ausblick, der sich den Kultursehnsüchtigen über den Verfall der herrschenden Klassen hinweg aus dem Entwicklungsgang des kämpfenden, vorwärtsdrängenden Proletariats eröffnet.
Schreibe einen Kommentar