[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 24, 27. November 1895, S. 185]
Dass es heutzutage noch Richter gibt, und nicht bloß in Berlin, hat das Urteil des Breslauer Gerichtshofs in dem Majestätsbeleidigungsprozess gegen Genossen Liebknecht wieder einmal klärlich bestätigt.
Gewiss, schon eine ganze Reihe der zu Alltagserscheinungen gewordenen Majestätsbeleidigungsprozesse hat in neuester Zeit Zeugnis davon abgelegt. Was aber die letzte, äußerst respektable Leistung zeitverständiger Richter über den Durchschnitt von ihresgleichen heraushebt, ist ihre erquickliche, äußerst beredte Offenheit. Der Gerichtshof anerkennt, dass die Absicht einer Majestätsbeleidigung seitens des Genossen Liebknecht nicht vorhanden war; er anerkennt, dass Genosse Liebknecht nichts des Kaisers Majestät Beleidigendes gesagt habe. Aber – welch Glück für strebsame Juristen, dass ein Mann das „Wenn und das Aber erdacht“ – aber, so schlussfolgert der Gerichtshof dem Sinne nach weiter, unter der Zuhörerschaft könnte sich irgend wer befunden haben, der aus irgendetwas der Liebknechtschen Äußerungen irgendwelche Majestätsbeleidigung herausgehört haben könnte. Die logische Operation mit dem irgendwer, irgendetwas und irgendwelche eröffnet salomonisch beanlagten Juristen neue Horizonte. Wenn das Strafbare nicht mehr in der Absicht und in der Tat bzw. dem Vorgang selbst liegen soll, vielmehr in der möglichen Wirkung auf mögliche deutungskräftige Personen: gibt es überhaupt keine mündliche und schriftliche Äußerung mehr, die nicht eventuell als strafbare Gesetzesverletzung geahndet werden könnte. Die Konsequenzen des Breslauer Gerichtsspruchs, der den fast siebzigjährigen Liebknecht auf vier Monate hinter Kerkermauern verbannen will, sie tönen in holder Internationalität der Auffassung zusammen mit dem berüchtigten Ausspruch des berüchtigtsten französischen Polizeigenies: „Sire, geben Sie mir drei geschriebene Worte von irgend Jemand, und ich bringe ihn damit an den Galgen.“ Sollte das Breslauer Urteil Schule machen, so bliebe jedem Deutschen, der sich nicht inbrünstig nach vaterländischem Rumfutsch sehnt, nur übrig, in einem tiefgefühlten Stoßseufzer von der Mutter Natur zusammen mit dem Schwanz zum Wedeln auch noch den Maulkorb zu erflehen.
Das Urteil gegen Liebknecht ist ein dauerndes Merkmal für die rückständige, verkümmerte politische Entwicklung Deutschlands Und damit für die tiefe politische Verkommenheit der deutschen Bourgeoisie, insbesondere des bürgerlichen Liberalismus. Laut, eindringlich redet es von der Tatsache, dass die deutsche Bourgeoisie weder genügende Einsicht noch Kraft besessen hat, um die Gewalt des alten Feudalstaats zu brechen und mit seiner Auffassung, seinen Einrichtungen gründlich aufzuräumen. Das englische Bürgertum hat die Rechte und Vorrechte des Monarchen derart beschränkt, dass er weder herrscht, noch regiert, nur repräsentiert und dekoriert. Majestätsbeleidigungsprozesse sind ein in England unbekanntes Ding. Deutschland, dem auch-konstitutionellen Staate, haben wir dagegen einen Majestätsbeleidigungsparagrafen, in Deutschland, der „frommen Kinderstube“, kommen Majestätsbeleidigungsprozesse in Formen und unter Umständen vor, welche lebhaft an die römischen Verhältnisse zur Zeit des Verfalls und an Byzanz gemahnen.
Die deutsche Kapitalistenklasse, mehr und mehr bedrängt in ihrem politischen Besitzstand durch die zielklaren Männer der Arbeit, mehr und mehr geschreckt in ihrer verdauungsseligen Stimmung eines gläubigen Vertrauens in den ewigen Bestand des Alles-Ausbeutens, sie wähnt in der Monarchie über ein Bollwerk zu gebieten gegen die schwellende Hochflut des proletarischen Klassenkampfes. Und wie der Kapitalistenklüngel die Monarchie so nachgiebig als möglich will gegenüber den zügellos und ungebärdig heischenden Stimmen von Besitz und Bildung, so will er sie so fauststark als möglich gegenüber der aufsteigenden Bewegung des klassenbewussten Proletariats.
So äußerst kennzeichnend, so lächerlich ist es, wenn der Kapitalistenstaat den Majestätsbeleidigungsprozess gleichsam zur Staatseinrichtung erhebt, weil er in ihm eine besonders gesegnete Waffe gegen Umsturz und Umstürzler erblickt; wenn er, um strafen zu können, die Majestätsbeleidigung künftig dort, wo sie nicht existiert, mit regem Fleiß und heißem Bemühen aus „irgend etwas“ heraus zu destillieren beginnt. Wenn irgend eine politische Überzeugung ihrer ganzen Grundlage, ihrem innersten Wesen nach die Tendenz zur Majestätsbeleidigung ausschließt, so ist es die auf dem geschichtlichen Erfassen der Persönlichkeiten und Zustände beruhende sozialdemokratische Überzeugung.
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