Clara Zetkin: Die Liebesmüh umsonst

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 23, 13. November 1895, S. 177 f.]

Dass den Besitzenden und ihrem Staat die proletarische Frauenbewegung herzlich unangenehm ist, darüber haben hohe und höchste Behörden wiederholt recht prompt quittiert, darüber quittiere sie noch reichlich und täglich mit schönem Eifer. Begreiflich genug. Eine Bewegung, welche im Kampf von Geschlecht zu Geschlecht die unwürdige Rechtsstellung der Frau zu beseitigen trachtet, fordert wohl den komischen sittlichen Zorn des Philisteriums heraus, aber sie lässt die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft unangetastet und muss deshalb den staatlichen Züchtigungsneigungen „tabu“ bleiben. Eine Bewegung dagegen, welche im Kampf von Klasse zu Klasse die Befreiung des Proletariats anstrebt, ruft die schärfste Abwehr von Seiten des Staats hervor, denn sie bezweckt eine grundlegende Umgestaltung der sozialen Ordnung, deren Aufrechterhaltung zu Nutz und Frommen der Besitzenden die vornehmste Aufgabe des Staats ist. Der „Racker Staat“ handelt nur seinem innersten Wesen gemäß, wenn er gegen die „Umstürzlerinnen“ Polizei und Juristerei marschieren und Arm in Arm ihr Jahrhundert in die Schranken fordern lässt. Die politische Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts bietet ihm einen bequemen Anlass, die klassenbewussten Proletarierinnen im Kampfe hindern zu wollen, und er nutzt diesen Anlass aus, wo immer es möglich ist.

Die proletarische Frauenbewegung ist es deshalb gewöhnt, dass gegen sie der Staat in verschiedenen deutschen Vaterländern die Vereins- und Versammlungsgesetze mit aller Strenge anwendet. Neuerdings soll sie sich auch daran gewöhnen, dass hier und da der Staat die betreffenden Gesetze mit allem Scharfsinn auslegt. Die für den Eifer der Polizei und das Deutungsvermögen der Juristen so rühmliche bayerische Praxis der Vereins- und Versammlungsgesetze macht Schule. Hin und wieder in dem oder jenem der thüringischen Zaunkönigreiche, deren Umfang zum Pech für die Kapitalistenklasse in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer gesellschaftsretterischen Inbrunst steht. Mehr und mehr auch in Preußen, wo es nicht bloß in allen Fährlichkeiten des Klassenkampfes erprobte Polizeibehörden gibt, sondern – der Septemberkurs beweist es – auch noch Richter. Vor allem in Westfalen, aber auch in der Rheinprovinz, in Schlesien und anderwärts – sogar in Berlin wurde der Versuch gemacht – verlangen die überwachenden Polizeibeamten die Entfernung der Frauen aus öffentlichen Versammlungen, denen der Geruch politischer Unheiligkeit anhaftet. Bei Nichtbefolgung des Verlangens wird kurzerhand die Versammlung aufgelöst. Natürlich unter Berufung auf Gesetz und Recht, denn der beschränkte Untertanenverstand soll und darf nicht daran zweifeln, dass die Obrigkeit, „die Gewalt über ihn hat“, die Obrigkeit, „die von Gott geordnet ist“, stets und unter allen Umständen „von Rechtswegen“ handelt. So und so viele Monate Gefängnis sind nach der Auffassung des Staats recht überzeugende Gründe für den Zweifler.

Nun gibt es zwar in Preußen ein Vereinsgesetz, das aus der nach-achtundvierziger Zeit gottgesegneter Reaktion stammt, und welches die Anwesenheit der Frauen in öffentlichen Versammlungen nicht verbietet. Aber es untersagt den Frauen bekanntlich die Mitgliedschaft von politischen Vereinen, es untersagt ihnen den Besuch der Versammlungen solcher Vereine, und wozu wäre denn Beamtenwitz und Pandektenweisheit in die Welt gekommen, wenn sie nicht rettend den „inneren logischen und rechtlichen Zusammenhang“ zwischen behördlicher Maßregel und Gesetzestext dort sonnenklar nachweisen könnten, wo der simple Menschenverstand des simplen Laien sich einem harmlosen Nichts, Garnichts gegenüber zu befinden wähnt. Und dieser „logische Zusammenhang“ ist in unserem Falle „von Rechtswegen“ da, sobald die Anregung zu der betreffenden Versammlung in der Sitzung eines politischen Vereins geschah, sobald zufälligerweise ein Vorstandsmitglied eines solchen die öffentliche Versammlung einberuft oder auch in das Büro derselben gewählt wird.

Gewiss, der „logische Zusammenhang“, welcher den „ungesetzlichen Tatbestand“ betreffs der Anwesenheit von Frauen in einer öffentlichen Versammlung erhärtet, hat jahrelang den preußischen Staat auf seinen sonstigen sicherlich wohlverdienten Reaktionslorbeeren sorgenlos schlummern lassen. Erst in neuerer Zeit erscheint er als die Hand, welche der bisher geübten Praxis in feurigen Buchstaben das beschämende Mene Tekel schreibt. Das macht, die proletarische Frauenbewegung ist nicht mehr eine quantité négligeable (ein nicht zu beachtender Faktor) für den Feind. Sie ist mehr und mehr aus einer Anteilnahme einzelner Frauen an der sozialistischen Bewegung zu einem Eintreten proletarischer Frauenmassen in den Klassenkampf geworden. Wir begreifen es, dass diese Tatsache den Satten und ihrem Staat nicht zu besonderer Freude gereicht, und dass von einem frischen und munteren Auslegen der Gesetze erhofft wird, was durch ihr striktes Anwenden nicht erreicht wurde.

Allerdings dürfte der Erfolg der inaugurierten Praxis nicht den gehegten blütenreichen Hoffnungen entsprechen. Die Findigkeit des Staats bei der Handhabung der Gesetze erzieht die Masse, die unter den Gesetzen leidet, zu immer größerer Findigkeit in der Kunst, ihre Interessen zu wahren, ohne mit den Gesetzen in Konflikt zu geraten. Unfreiwillig genug schulen polizeiliche Büttelei und salomonische Juristerei die Genossinnen und Genossen allenthalben in Sachen des Vereins- und Versammlungsrechts in dieser heutigentags sehr nötigen Kunst. Dank der unerbetenen, aber recht erfolgreichen Lehrmeister werden sich die „ordnungsfeindlichen Elemente“ auch bald mit der neuesten Praxis des Versammlungsrechts abzufinden verstehen. Der fein ersonnene behördliche Witz versagt, sobald man bei der Veranstaltung einer Versammlung etwas sorgsam zu Werke geht, dieselbe weder in einer Vereinsversammlung beschließt, noch von einem Vorstandsmitglied einer Organisation einberufen und leiten lässt. An die Beobachtung dieser Vorsichtsmaßregeln wird man sich bald gewöhnen.

Dass damit das Vereins- und Versammlungsleben der proletarischen Frauen noch nicht zwischen der Skylla polizeilicher Allmacht und der Charybdis juristischer Weisheit immer glücklich durchsegelt, ist klar. „Wo ein Wille ist, da ist ein Weg“, sagt das Sprichwort. Der preußische Staat hat aber den Willen, die proletarische Frauenbewegung zu unterdrücken und muss ihn haben, solange das Proletariat nicht die ausschlaggebende politische Macht besitzt. Außerdem: gar manches polizeiliche und juristische Talent hat sich seither in der Stille gebildet und sehnt sich schwermütig nach einer Gelegenheit, sich als Köller von Buxtehude oder Kuhschnappel vor der Mit- und Nachwelt entpuppen zu können.

Die proletarische Frauenbewegung kann den Wechselfällen des Kampfes mit dem Staat der Kapitalisten ruhig entgegengehen. Sie weiß, dass sie ihre Existenzberechtigung, ihre aufsteigende Entwicklung aus Wurzeln zieht, an welche staatliche Nücken und Tücken nicht heranreichen können. So lange die kapitalistische Wirtschaftsordnung besteht und zum Kampfe für ihre Beseitigung die Frauen wie die Männer des Proletariats zwingt, so lange gleichen auch alle Bestrebungen, die proletarische Frauenbewegung nieder zu bütteln, dem kindlichen Spiel des braven Schneiderleins, das den Wassern der Donau bei Wien dadurch Halt gebieten wollte, dass es den Fuß auf die Donauquelle setzte. Die Liebesmüh bleibt umsonst.


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