Lynn Walsh: China: Der erste Akt

(eigene Übersetzung des englischen Textes in Militant International Review, Nr. 41, Herbst 1989, S. 27-30, 48)

Das blutige Massaker auf dem Tian’anmen-Platz hat weltweit Entsetzen und Wut ausgelöst. Lynn Walsh analysiert den großartigen Aufstand gegen die Bürokratie, der den Beginn der politischen Revolution in China markiert.

Der Aufstand gegen die Bürokratie entstand in einer Periode des raschen Wirtschaftswachstums. Die politische Krise kam, als die Welle des wirtschaftlichen Erfolgs abbrach und die Probleme unter der Oberfläche enthüllte. Dies eröffnete eine neue Spaltung innerhalb der Führung. Der Kampf an der Spitze öffnete die Tür für den Massenprotest von unten, der durch die Student*innenbewegung ausgelöst wurde.

Die von Deng Xiaoping nach 1978 eingeleiteten Reformen erzeugten zehn Jahre lang ein rasches Wachstum, das vor allem auf der auf den ländlichen Sektor angewandten Politik beruhte. Die Entkollektivierung der Landwirtschaft mit höheren staatlichen Beschaffungspreisen für Feldfrüchte führte zu einem starken Anstieg der Produktion, der Einkommen und des Verbrauchs auf dem Lande. Die reicheren Landwirt*innen und eine Schicht der Bürokratie wandten sich der ländlichen Industrie und den Dienstleistungen zu, dem wichtigsten Wachstumsbereich.

Das Wachstum erzeugte wirtschaftlichen Ungleichgewichten und sozialen Spannungen. Die staatlichen Industrien, unter der rigiden und ineffizienten Kontrolle der Bürokratie, konnten die Nachfrage des ländlichen Sektors nicht befriedigen. Engpässe und Inflation untergruben die Einkommen der Landwirt*innen, was zu einem Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und einer Umstellung auf für den Verkauf bestimmten Früchten führte. Die Inflation traf vor allem den Lebensstandard der städtischen Arbeiter*innen, was sich in einer wachsenden Zahl von Streiks in den Jahren 1987 und 1988 widerspiegelte.

Dengs Politik führte auch eine sich verschärfende Polarisierung innerhalb der Gesellschaft herbei. Die Regionen im Landesinneren hatten keinen Anteil am Wohlstand der begünstigten Küstenregionen. Auf dem Land profitierte eine Minderheit von wohlhabenden Bäuer*innen, Unternehmer*innen und Bürokrat*innen von den Reformen. Millionen junger Arbeiter*innen, ohne Land oder Kapital, mussten ihre Dörfer verlassen, um nach Arbeit in den Städten zu suchen. Bildung, Gesundheitsversorgung und andere soziale Dienste haben sich verschlechtert, was die sozialen Probleme noch verschärft hat.

Die Korruption schoss wie Pilze aus dem Boden und durchdrang die Bürokratie von oben nach unten, durch jede Schicht der Partei- und Staatsmaschine. Zusätzlich zu den ohnehin schon enormen legalen Privilegien der Bürokratie ist dies einer der explosivsten Beschwerdepunkte der Student*innen und Arbeiter*innen.

Die führenden Vertreter*innen selbst schreckten vor den zersetzenden Auswirkungen der Korruption zurück. Die Hardline-Stalinist*innen gaben die Schuld dem von den Reformer*innen ermutigten „bürgerlichen Liberalismus“. Sie schoben die Schuld auf die „feudalen“ Praktiken der Bürokrat*innen der alten Garde, die an ihren traditionellen Patronagen und Privilegien festhielten.

Als Deng kämpfte, die radikalen Maoist*innen um die „Viererbande“ zu ersetzen, hatte er die Unterstützung der alten Garde innerhalb der Führung. Je weiter seine Reformen fortschritten, desto mehr widersetzten sie sich ihnen jedoch. Im Sommer 1986 rief Hu Yaobang mit offensichtlicher Billigung Dengs die Student*innen auf, zur Verteidigung der Reformpolitik aktiv zu werden. Dies erzeugte eine Welle von Student*innendemonstrationen.

Als jedoch die Arbeiter*innen begannen, sich der Bewegung anzuschließen, zog Deng seine Billigung zurück. Er wollte fortgesetzte Wirtschaftsreformen, aber keine politischen Reformen. Deng ging rigoros gegen die Student*innenbewegung vor und opferte seinen Schützling den Hardliner*innen. Er hielt sich raus als Hu im Januar 1987 als Generalsekretär zurücktrat.

Dennoch schien 1987 der Reformflügel der Bürokratie, der sich immer noch für eine Ausweitung des marktwirtschaftlichen Elements in der Wirtschaft einsetzte, seine Position wieder zu festigen. Sie besetzten auf dem 13. Parteitag der KP im Oktober die meisten Schlüsselpositionen.

Zhao Ziyang, Hus Nachfolger, stellte jedoch fest, dass seine Position durch die sich verschärfende Rohstoff-, Energie- und Nahrungsmittelknappheit und die sich beschleunigende Inflation zunehmend untergraben wurde. Im Herbst ließ die Führung die nächste vorgeschlagene Stufe ihrer Wirtschaftsreformen fallen und verschob die Abschaffung aller Preiskontrollen und die Kürzung der Lebensmittelsubventionen auf unbestimmte Zeit. Sie schränkte auch die staatlichen Investitionen ein und verknappte die Geldmenge und die Kreditvergabe. Dies presste den Lebensstandard, insbesondere für die Arbeiter*innen in den Städten, zusammen.

Vor diesem Hintergrund löste der Tod Hu Yaobangs am 15. April ein Wiederaufleben der Student*innenproteste aus. Hus plötzlicher Tod schien das Gleichgewicht bedrohlich in Richtung der Hardliner*innen zu verschieben. Deng distanzierte sich von Zhao. Auf jeden Fall bereiteten die Student*innen Demonstrationen zum Jahrestag des 4. Mai 1919 vor, als Student*innen unter dem Banner „Demokratie und Wissenschaft“ marschierten und die Bewegung auslösten, die zur Revolution von 1925-27 führte. Auch der Besuch Gorbatschows, der im Mai stattfinden sollte, hatte einen Einfluss. Die Student*innen und Teile der Arbeiter*innen verfolgen die Ereignisse in der UdSSR und in Polen zweifellos mit großem Interesse.

Für eine kritische Periode war das Regime gelähmt

Vom 15. April bis Juni war die Bewegung eher ein Massenprotest als eine revolutionäre Herausforderung an das Regime. Nichtsdestotrotz wurde die herrschende Bürokratie bis in ihre Grundfesten erschüttert. Für eine kritische Periode hing das Regime in der Luft. Alle Elemente der politischen Revolution (abgesehen von einem entscheidenden Element) waren da.

Die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die grassierende Korruption hatten eine tiefe Stimmung der Revolte ausgelöst. Am 15. April fanden die größten Student*innenmärsche seit 1986 statt. Am 27. April marschierten trotz Dengs Drohung, ihre „Verschwörung“ zu unterdrücken, 100.000 in Beijing und durchbrachen die Polizeikordons um den Tian’anmen-Platz Während des Besuchs von Gorbatschow am 16. und 17. Mai wurde Beijing von über einer Million Demonstrant*innen zum Stillstand gebracht.

Die führenden Student*innen begannen die Aktion mit einem Hungerstreik. Doch ihr entschlossenes Handeln und die zögerliche Reaktion des Regimes zogen immer breitere Schichten der Bevölkerung an.

Im Mai demonstrierten 300 Journalist*innen gegen die Pressezensur. Einige Polizist*innen schlossen sich den Student*innen an. Offiziere der Luftwaffe und Soldat*innen wurden auf dem Platz gesehen. Unter dem Druck der Bewegung begannen die unteren Ränge der Bürokratie zu bröckeln, und Partei-„Kader“ (Funktionär*innen) und Regierungsbeamt*innen kamen auf die Straße.

Anfangs zeigten die Arbeiter*innen ihre Sympathie für die Student*innen und versorgten sie mit Geld und Lebensmitteln. Bald schlossen sie sich den Märschen an. Die Forderungen der Student*innen – für Demokratisierung, Widerstand gegen die Bürokratie und ein Ende der Korruption – riefen eine starke Reaktion aus fast allen Schichten der Gesellschaft hervor und kristallisierten eine Stimmung des weit verbreiteten Hasses auf die Bürokratie. Ihre kühne Aktion löste in Verbindung mit den Ereignissen in der Sowjetunion und in Polen eine Flutwelle des Protests aus, die die Bürokratie vorübergehend ausbootete.

Während der gesamten Ereignisse sangen die Student*innen die „Internationale“ – straften Dengs Behauptung, sie seien „konterrevolutionär“, Lügen. Die Mehrheit stand für die Reform der Kommunistischen Partei und des Staates. Wegen der enormen Errungenschaften der Revolution von 1949 – die den Großgrundbesitz und den Kapitalismus hinwegfegte und China aus dem Griff des ausländischen Imperialismus befreite – behielt die Kommunistische Partei den Student*innen und jungen Arbeiter*innen gegenüber große Autorität. Sie glaubten, dass Zhao und die Reformer*innen die Korruption ausrotten und die Partei demokratisieren könnten. Bis Juni glaubten sie noch, dass Massenproteste die Führung zu einem Wechsel bewegen würden.

In einem Leitartikel der People’s Daily vom 26. April drohte Deng Xiaoping damit, die Student*innen zu zerschlagen. Doch Deng und Li Peng konnten weder die Massendemonstration am nächsten Tag noch die Massenbesetzung des Beijinger Stadtzentrums während Gorbatschows Besuch stoppen. Am 20. Mai erklärte Li Peng das Kriegsrecht. Aber das Ultimatum lief am 22. Mai ab, als Student*innen und Arbeiter*innen immer noch den Platz besetzten.

Der reformorientierte Flügel der Führung um Zhao Ziyang befürwortete Zugeständnisse an die Student*innen und versuchte, eine Sondersitzung des Nationalen Volkskongresses einzuberufen, um das Kriegsrecht aufzuheben und die Hardliner*innen abzusetzen.

Die Armeebürokratie war auch gespalten. Die Kommandeur*innen der 38. Armee mit Sitz in Beijing schienen Repression abgelehnt zu haben. Viele ihrer Soldat*innen sympathisierten mit den Student*innen, einige schlossen sich den Demonstrant*innen an. Angesichts des Kriegsrechts und der Stationierung von Armeeeinheiten rund um Beijing errichteten Massenstreikposten Kordons rund um die Stadt – bereit, der Armee den Weg zu versperren, aber in der Zwischenzeit verbrüderten sie sich korrekterweise mit den einfachen Soldat*innen. Dies hatte eine große Wirkung auf die Soldat*innen, und die Befehlshaber zogen die meisten von ihnen vorerst in die Kasernen zurück.

Deng und Li Peng, die das reformistische Lager verlassen hatten und sich mit den stalinistischen Hardliner*innen verbündeten, waren entschlossen, die Massenbewegung zu zerschlagen. Doch in dieser Phase hatten sie ihre Kontrolle über den Partei- und Staatsapparat noch nicht gefestigt. Unter Rückgriff auf die beträchtliche Macht der alten Garde der pensionierten oder halbpensionierten Ältesten und unter Umgehung der offiziellen Führungsgremien von Partei und Staat kämpfte Deng darum, die entscheidenden Hebel der Macht in seinen eigenen Händen zu konzentrieren. Yang Shangkun, Staatspräsident und stellvertretender Vorsitzender des Streitkräftekomitees, strebte die Kontrolle über die Armee an und nutzte dabei sein mächtiges Günstlingsnetzwerk innerhalb der Armeebürokratie.

Die Hardliner*innen erlangten die vollständige Kontrolle nur durch einen intensiven Kampf innerhalb der Führung zurück. Gespalten und während viele Teile der Bürokratie unter dem Einfluss der Massenbewegung schwankten, brauchte die stalinistische Hardliner*innenfraktion mehrere Wochen, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden und eine blutige Reaktion vorzubereiten. Der Ausgang dieses Kampfes war nicht von vornherein klar.

Für eine kritische Periode war das bürokratische Regime gelähmt. Alle objektiven Voraussetzungen für den Sturz der herrschenden Bürokratie waren gegeben, der friedlich oder relativ friedlich hätte durchgeführt werden können. Aber eine entscheidende Komponente fehlte: eine Führung mit klarem Programm, Strategie und Taktik.

Hätten sich die Student*innenführer*innen mit ausgearbeiteten Forderungen nach Arbeiter*innendemokratie (Wahl aller Funktionär*innen mit dem Recht auf Abberufung, Begrenzung der Gehälter und Abschaffung der Privilegien) an die Masse der Arbeiter*innen gewandt, hätten sie die Lage verändern können. Den Arbeiter*innen, die in den Kampf gegen das Regime zogen, hätten das bewusste Ziele, die auf der Notwendigkeit des Sturzes der herrschenden Bürokratie beruhen, gegeben. Sie hätten viel breitere Schichten von Arbeiter*innen und Bäuer*innen in der Aktion hinter sich vereinen können. Die sozialen Unterstützungsreserven der Bürokratie in den weniger bewussten Schichten, insbesondere auf dem Lande, hätten schnell untergraben werden können.

Als die Bewegung an Schwung gewann, hatten die Student*innenführer*innen zu Recht an die Arbeiter*innen um Unterstützung appelliert. Um eine entscheidende Wirkung zu erzielen, hätten diese Appelle jedoch mit dem Aufruf zur Bildung von Komitees aus Arbeiter*innen, Student*innen und Soldat*innen verbunden werden müssen. Solche Komitees sind wichtige Organe des Massenkampfes in einer Bewegung zum Sturz der Bürokratie und zur Übernahme der Kontrolle über die Gesellschaft durch die Arbeiter*innenklasse und die arme Bäuer*innenschaft.

Ähnlich verbrüderten sich Student*innen und Arbeiter*innen mit den Soldat*innen und gewannen einige von ihnen für sich. Hätte es Komitees von Arbeiter*innen und Student*innen gegeben – mit einem klaren Programm -, hätten entscheidende Teile der Armee für die politische Revolution gewonnen werden können.

Am Wochenende des 13./14. Mai hatten Deng und die Hardliner*innen die entscheidende Kontrolle über den Staats- und Militärapparat erlangt. Zhao Ziyang und die Reformer*innen waren neutralisiert. Schwankende Elemente in der Bürokratie, wie Qin Jiwei, der Verteidigungsminister, gingen auf Linie. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Mehrheit der Student*innenführer*innen ihren Hungerstreik tatsächlich bereits abgebrochen. Nach den angespannten Konfrontationen zwischen Truppen und Demonstrant*innen in der Woche zuvor war die Massenbewegung abgeflaut.

Die Hauptstärke der Bürokratie war die politische Schwäche der Massenbewegung, der es sowohl an einer bewussten Strategie als auch an führungsfähigen Massenorganisationen mangelte. Hätte Deng Zugeständnisse gemacht, hätte die Bürokratie die Massenbewegung möglicherweise entschärfen können, indem sie gegen die führenden Student*innen- und Arbeiter*innenvertreter*innen vorging, sobald diese die unmittelbare Krise überstanden hatten.

Indem er Zhao und die Reformer im Stich ließ, machte Deng jedoch gemeinsame Sache mit altgedienten Stalinist*innen der Generation des „Langen Marsches“ (die seine Reformpolitik abgelehnt hatten). Für die alte Garde stellten sowohl die Reformer*innen als auch die Massenbewegung eine Bedrohung ihrer Macht und Privilegien dar. Sie waren daher entschlossen, die Bewegung rücksichtslos zu zerschlagen, mit ihren reformistischen Gegner*innen innerhalb der Führung abzurechnen und vor allem die Gefahr einer politischen Revolution von unten zu zerschlagen.

Trotz der überwältigenden Macht der Armee gab es einen heldenhaften Widerstand gegen die Repression

In den frühen Morgenstunden des 3./4. Juni stürmten Panzer und schwer bewaffnete Sturmtruppen den Tian’anmen-Platz. Student*innen und Arbeiter*innen der autonomen Gewerkschaftsorganisation wurden in ihren Zelten erdrückt. Viele der Flüchtenden wurden mit schwerem Maschinengewehrfeuer niedergemäht. Amnesty International glaubt, dass mindestens 1300 Menschen durch den Militärterror getötet wurden. Student*innenführer*innen sagen (was wahrscheinlich zutreffender ist), dass über 3000 Menschen abgeschlachtet wurden.

Trotz der überwältigenden Macht der Armee gab es einen heroischen Widerstand gegen die Unterdrückung. Tausende von Student*innen und Arbeiter*innen kämpften. Panzer wurden zerstört und die Armee war gezwungen, sich aus vielen Stadtteilen zurückzuziehen.

Die Peitsche der bürokratischen Reaktion verwandelte die Bewegung von einem Massenprotest in einen revolutionären Aufstand gegen das Regime. Das Gemetzel in Beijing löste massive Bewegungen in anderen Städten aus. In Kanton, Shanghai, Wuhan, Nanjing, Changsa und anderen Industriezentren schlossen sich Hunderttausende von Arbeiter*innen und aus anderen Teilen der Bevölkerung Massendemonstrationen an und besetzten Bahnhöfe und wichtige Brücken, um den Verkehr zum Stillstand zu bringen. Es kam praktisch zu allgemeinen Arbeitsniederlegungen, die viele Wirtschaftszweige für mehrere Tage lahmlegten.

Das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz löste bei den Arbeiter*innen eine weitaus stärkere Reaktion aus als selbst die Demonstrationen vor dem 4. Juni. Die Ereignisse boten der politischen Revolution eine zweite Chance, sich durchzusetzen. Alle objektiven Bedingungen waren gegeben, es fehlte nur noch die notwendige Führung.

Mit der richtigen Politik und Taktik hätte die Armee vom Regime weggebrochen werden können

Deng verließ sich auf die Armee, um die Reaktion durchzusetzen. Doch mit der richtigen Politik und Taktik hätte die Armee vom Regime weggebrochen werden können. Die ersten unbewaffneten Truppen, die am frühen Morgen des 3. Juni zur Räumung des Tian’anmen-Platzes eingesetzt wurden, wurden von Zehntausenden von Menschen empfangen. Viele verbrüderten sich mit den Demonstrant*innen. Diese Einheiten mussten zurückgezogen werden. Die am nächsten Tag entsandten bewaffneten Einheiten stammten aus den Provinzen und waren mehrere Wochen lang in den Kasernen isoliert worden. Selbst dann gingen einige hinüber. Es gab auch Berichte über einige Einheiten, die ihre Waffen gegen die Truppen wandten, die das Massaker verübten.

Die Massenbewegung, insbesondere nach dem 4. Juni, rief zweifellos enorme Spannungen in den Reihen der Armee hervor. Die Ereignisse warfen jedoch die Notwendigkeit auf, dass Komitees aus Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Soldat*innen die Armee kontrollierten, um sicherzustellen, dass sie nicht gegen das Volk eingesetzt werden könnte. In einem überwiegend bäuerlichen Land braucht ein Arbeiter*innenstaat ein stehendes Heer – aber es sollte unter der demokratischen Kontrolle des Proletariats stehen. Gleichzeitig ergab sich aus der blutigen Unterdrückung auch die Notwendigkeit von Arbeiter*innenmilizen zur Verteidigung der Arbeiter*innen und anderer ausgebeuteter Schichten gegen die Bürokratie. Hätte es in den Wochen vor dem 4. Juni solche Komitees gegeben, die sich um ein Programm zum Sturz der Bürokratie organisiert hätten, hätten entscheidende Teile der Armee auf die Seite der Arbeiter*innen gebracht werden können.

Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Bürokratie zu stürzen, kam selbst bei den fortgeschrittenen Schichten erst mit der Peitsche der Reaktion. „Es war überhaupt keine revolutionäre Bewegung“, kommentierte der Dichter Duoduo, aber „…sie wurde eine revolutionäre Bewegung.“

In vielen Städten marschierten die Student*innen nach dem 4. Juni von Fabrik zu Fabrik und forderten die Arbeiter*innen auf, sich dem Generalstreik anzuschließen. Jegliche Illusionen, die sie in die Führung der Partei und der Armee gehabt haben mögen, wurden auf grausame Weise zerstört, und sie zogen nun weitreichende Konsequenzen. Ein Leiter eines kantonalen Lehrerkollegiums sagte: „Es muss einen totalen Streik geben – keine Hungerstreiks mehr – sie sind nutzlos. Nur wenn die Arbeiter*innen die Stahlproduktion, die Kraftwerke und die Eisenbahnen stoppen, können wir diese Leute zu Fall bringen. Es gibt nicht genug Soldat*innen in ganz China, um die lebenswichtigen Industrien am Laufen zu halten. Die Arbeiter*innen haben die Macht, lasst die Arbeiter*innen das Sagen haben. Das ist der einzige Weg.“

Auf die blutige Reaktion folgten Massenverhaftungen, Folterungen, Schauprozesse und Hinrichtungen, von denen einige im Fernsehen gezeigt wurden, um der Bevölkerung Angst einzujagen. Nach Angaben des Student*innenführers Wuer Kaixi, der sich jetzt in den USA aufhält, wurden mehr als 120.000 Menschen verhaftet oder hingerichtet. Ein beträchtlicher Teil davon waren junge Arbeiter*innen, die bei dem durch das Vorgehen des Regimes in Beijing ausgelösten Aufstand eine führende Rolle gespielt hatten. Die Verhaftungen und Hinrichtungen gehen immer noch weiter.

Blutige Unterdrückung wird begleitet von einer Säuberung von Partei- und Regierungsposten mit einer intensiven Propagandakampagne, um die Version der Bürokratie über die Ereignisse zu untermauern. Eine eiserne Kontrolle von Zeitungen und Fernsehen werden wieder eingeführt, alle inoffiziellen Versammlungen und Demonstrationen sind verboten, um die Wut des Volkes und seinen Hass auf die Bürokratie vorerst zu unterdrücken.

Gegen die Student*innen wird hart vorgegangen: Sie müssen nun ein Jahr Militärdienst leisten und niedere Arbeiten in entlegenen Gebieten annehmen, bevor sie ein Aufbaustudium aufnehmen können. Politische Aktivität an den Universitäten wird unterdrückt – vorerst.

Deng hat seinen Zugriff auf die Führung gefestigt, die sich nun fast ausschließlich auf die alte Garde der Hardliner*innen stützt, zusammen mit jüngeren Handlanger*innen wie Li Peng. Auf der Sitzung des Zentralkomitees am 24. Juni wurde Zhao Ziyang zusammen mit drei Unterstützer*innen aus seinen Ämtern entfernt. Anders als Hu im Jahr 1987 weigerte sich Zhao, freiwillig zurückzutreten, und es gab offensichtlich einen Kampf. Die Veränderungen wurden nur drei Wochen nach den Ereignissen vollzogen, wobei Zhao unter Hausarrest und in einer Atmosphäre militärischer Unterdrückung stand.

Seitdem hat die Führung versucht, die Grundlage für einen Schauprozess gegen Zhao wegen des Vorwurfs der Organisierung der Konterrevolution zu schaffen. Die Verzögerung könnte auf den anhaltenden Widerstand innerhalb der Bürokratie hinweisen. Yang Shangkun, der die militärische Reaktion organisierte, hat seine Position gestärkt, aber es ist Jiang Zemin, der farblose Bürokrat aus Shanghai, der das Amt des Generalsekretärs übernommen hat.

Die neue Hardliner*innen-Führung hat außerdem eine Kampagne gegen Steuerhinterziehung, Wirtschaftsverbrechen und Korruption gestartet, zum einen, um den Reformflügel der Bürokratie zu diskreditieren, zum anderen aber auch, um die tiefe Wut im Volk zu beschwichtigen. Sie versuchen auch bewusst, die führenden Vertreter*innen der Massenbewegung mit korrupten Beamt*innen und Kriminellen zu vermengen. Die Säuberung scheint recht weitreichend zu sein, ist aber zweifellos, wie bei früheren Kampagnen, sehr selektiv und wird wahrscheinlich recht bald auslaufen.

Die Hardliner*innen mögen zwar ihre politische Macht gefestigt haben, sehen sich aber weiterhin mit einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise konfrontiert. Die Reformer wurden durch das Chaos unterminiert. Aber die Hardliner*innen haben keine Lösungen parat. Sie haben damit begonnen, die Wirtschaft zu rezentralisieren und Preiskontrollen einzuführen, um die Inflation einzudämmen. Es gibt jedoch bereits Anzeichen dafür, dass das das Wirtschaftswachstum verlangsamen wird, was ebenfalls ernste Probleme mit sich bringen wird.

Im ersten Halbjahr 1989 ging das Wachstum auf 11% zurück, verglichen mit 17% im letzten Jahr, und es verlangsamt sich weiter. Die Inflation liegt bei 30%. Sowohl das Staatsdefizit als auch das Handelsbilanzdefizit nehmen zu, während der Rückgang der Einnahmen aus dem Tourismus und die Zurückhaltung von Krediten durch westliche Banken Chinas Fähigkeit, seine Auslandsschulden in Höhe von 40 Milliarden Dollar zu bedienen, untergraben wird. Die Verlagerung des Schwerpunkts zurück auf die staatlichen Industrien, deren Subventionen bereits ein Drittel der Staatseinnahmen verschlingen, wird die Probleme der technischen Rückständigkeit und der Ineffizienz unter bürokratischer Leitung nicht lösen. Die Kürzungen der Staatsausgaben, die Kreditverknappung und die daraus resultierenden Einschnitte im Lebensstandard könnten zudem den Wohlstand des ländlichen Sektors, der unter Deng die Lokomotive des Wachstums war, durchaus untergraben.

Keiner der Flügel der Bürokratie hat einen Ausweg aus der Sackgasse der bonapartistischen Herrschaft, die die Errungenschaften der Planwirtschaft vergeudet. Eine Zeit lang werden Deng und seine Mitstreiter eine Linie der Rezentralisierung, der verschärften bürokratischen Kontrolle und der Repression verfolgen. Neue Widersprüche werden erscheinen, die die Führung erneut zwingen, zu einem späteren Zeitpunkt in die entgegengesetzte Richtung zu schwenken.

Die Arbeiter*innenklasse, die Student*innen und andere an der Bewegung beteiligte Gruppen haben eine brutale Niederlage erlitten und stehen einer Periode der Repression gegenüber. Aber die Erfahrung dieser gewaltigen Ereignisse, des ersten Aktes der politischen Revolution, kann nicht ausgelöscht werden. Die fortgeschrittenen Arbeiter*innen und Jugendlichen werden weitreichende Schlussfolgerungen ziehen und sich bemühen, die wahren Ideen und das Programm des Marxismus zu finden.

Die Prozesse innerhalb der Gesellschaft werden den Boden für neue, noch bedeutsamere Kämpfe in der Zukunft bereiten. Die Entfaltung der politischen Revolution in China wird unweigerlich mit den sich entfaltenden revolutionären Prozessen in Osteuropa und in allen kapitalistischen Ländern verknüpft sein. Wieder einmal wird das chinesische Proletariat die Welt erschüttern.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert