[Nr. 956, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 49, 8. Dezember 1888, S. 4 f.]
:: Aus Norddeutschland, 4. Dezember. Die allgemeine Beratung des Reichshaushaltes in der vorigen Woche gab unserem Parteigenossen Liebknecht Gelegenheit, in einer anderthalbstündigen glänzenden Rede die innere und äußere Politik des Reiches einer scharfen und rücksichtslosen Kritik zu unterziehen. Die Hiebe sausten hageldicht auf die Köpfe der Kartellbrüder hernieder, die ab und zu den Versuch machten, den Redner durch höhnische Bemerkungen und Gelächter zu unterbrechen, aber sehr rasch durch die schlagenden Entgegnungen des Redners zur Ruhe gebracht wurden. Im Ganzen hörten sie den Ausführungen Liebknechts trotz des Unbehagens, das sie dabei empfanden, andächtig zu. Die nachfolgenden Redner, darunter der Staatssekretär des Innern, v. Bötticher, welcher sich immer mehr zum Sprechminister ausbildet, und Herr von Bennigsen, der oberpräsidentliche Führer der Nationalliberalen, machten zwar den Versuch, mit großem Aufwande von patriotischem Pathos und vielem Phrasenwerk, Liebknecht zu widerlegen, aber es dürfte ihnen dies nicht einmal in den Augen der eigenen Anhänger gelungen sein. An den Ausführungen Liebknechts über die Nutzlosigkeit des Sozialistengesetzes und die Misère unserer inneren Politik, versuchte keiner der Opponenten seine Einwendungen.
Endete dieser Tag mit einem moralischen Siege der Sozialdemokratie, so nicht minder der folgende, welcher eine Debatte des freisinnigen Antrages über die Handhabung gewisser Bestimmungen der Gewerbeordnung und des Sozialistengesetzes, bezüglich der Verbreitung von Wahlflugblättern, Versammlungen, Bildung von Wahlvereinen usw. brachte.
Hierzu nahm seitens der Sozialdemokratie der Abg. Singer das Wort, um ein langes Register von Beschwerden über die Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen zu entrollen. Unter dem Eindruck dieser Anklagen beschloss der Reichstag die Überweisung des zur Beratung stehenden Antrages an die Wahlprüfungs-Kommission, um den Regierungen Gelegenheit zu geben, auf die erhobenen Beschwerden antworten zu können. Der Antrag wird kaum ein praktisches Resultat haben und wird wahrscheinlich in der Kommission begraben werden. Das Vorbringen der Anklagen hat aber doch den Vorteil, dass das Volk durch die Debatte über die Handhabung der Gesetze aufgeklärt wird und das die angegriffenen staatlichen Organe sich künftig hüten, in der bisherigen Weise weiter zu wirtschaften.
Mächtig eingeschlagen hat der Wahlaufruf der sozialdemokratischen Fraktion: „An die Parteigenossen“. Die gesamte Presse nahm von demselben Notiz und ohne Unterschied der Parteirichtung gestand sie ein, das die Sozialdemokratie einmal wieder den Vogel abgeschossen habe, mit andern Worten: die erste Partei auf dem Kampfplatze sei. Die Siegeszuversicht, die den Wahlaufruf durchweht, hat insbesondere in der Presse der Regierungsparteien stark verschnupft und ist von einigen Organen dieser Sorte mit wüstem Schimpfen beantwortet worden. Wir freuen uns dieses Ärgers der Gegner, er ist der beste Beweis für die Richtigkeit, der in dem Aufruf ausgesprochenen Anschauungen.
Bisher haben alle Nachwahlen ein bedeutendes Fallen der Stimmen der Kartellparteien und ein um so erheblicheres Anschwellen der Stimmen der Opposition ergeben, und so wird es bleiben.
Die nächste Probe wird Breslau abgeben, wo noch immer nicht die Nachwahl für den verstorbenen Kräcker angeordnet ist, wie sich herausstellte, aus dem Grunde nicht, weil man im Büro des Reichstages keine offizielle Anzeige von dem erfolgten Tode Kräckers erhalten habe. Diesem Mangel offizieller Benachrichtigung ist mittlerweile abgeholfen worden und dürfte die Nachwahl gegen Ende Jänner vorgenommen werden.
Am Freitag Abend sah Berlin eine große sozialdemokratische Demonstration. An diesem Abend fand eine Volksversammlung statt, in welcher Singer über die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter sprechen sollte. Ausnahmsweise wurde dieselbe nicht verboten. Und siehe, lange vor der angesetzten Zeit war das große Lokal überfüllt, Tausende und Abertausende wogten auf den Straßen, die Passage stockte und musste durch Massenaufgebot von Polizeimannschaft frei gehalten werden. Singer, von brausendem Beifall begrüßt, sprach zwei Stunden, dann erfolgte bei einem der nächstfolgenden Redner die polizeiliche Auflösung der Versammlung. Dies gab das Signal zu Ohren betäubendem Lärm und demonstrativem Jubel. Langsam leerte sich das Lokal. Aber auf der Straße setzten sich nun die Tausende unter Absingung der Arbeiter-Marseillaise und ähnlicher Lieder in Marsch und zogen durch die große Friedrich- und die Leipzigerstraße über den Dönhofsplatz vor Singers Wohnung, vor derselben ein dreifaches „Hoch“ ausbringend, worauf sie auseinander gingen. Die Polizei war dieser Massendemonstration gegenüber machtlos; sie fand es für das Beste, den Zug gewähren zu lassen, und so erlebte Berlin das Schauspiel, dass ohne polizeiliche Genehmigung ein Massenaufzug sich durch seine belebtesten Straßen bewegte, dem die Polizeimannschaft zu Pferde und zu Fuß, wie bei einem behördlich genehmigten Aufzug, das Geleite gab.
Diese Demonstration zeigt, wie es in den Massen brodelt und gärt. Ein memento mori für unsere Regierenden. Würden, wie es früher war, die Versammlungen gestattet, hätte die Masse Gelegenheit sich auszusprechen und ihre Redner zu hören, an solche Demonstrationen würde nicht gedacht. Aber es war ja zu allen Zeiten so: wen die Götter verderben wollten, den schlagen sie mit Blindheit. –
Die General-Debatte über die noch verschlechterte Arbeiter- Alters- und Invalidengesetz-Vorlage soll diese Woche beginnen. Man rechnet für dieselbe drei Tage. Seitens der Sozialdemokraten wird der Abg. Grillenberger das Wort nehmen. Die Opposition gegen den Entwurf reicht bis tief in die Regierungsparteien und so ist es wahrscheinlich, das derselbe in dieser Session nicht Gesetz wird. In den Arbeiterkreisen ist man entrüstet über das Wenige, was der Entwurf bietet, in den Unternehmerkreisen fürchtet man selbst dieses Wenige und spricht von „unerschwinglichen Lasten“, welche neben den Kranken- und Unfallversicherungsbeiträgen den Unternehmern auferlegt würden. So zeigt sich der Klassengegensatz und der daraus hervorgehende verschiedene Interessenstandpunkt bei jeder Frage von einiger Bedeutung. Und doch glaubt man mit dieser Sorte von „Sozialreform“ den Bandwurm Sozialdemokratie töten zu können. Das ist in der Tat mehr als lächerlich. Wie schlecht kennt man doch den Boden, in dem die Sozialdemokratie wurzelt und gedeiht.
Schreibe einen Kommentar