[Nr. 940, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 40, 6. Oktober 1889, S. 2]
Die Veröffentlichungen aus dem Tagebuch des zuletzt verstorbenen Deutschen Kaisers haben in höchstem Grade den Zorn Bismarcks herausgefordert. Die Indiskretion war aber auch zu groß. Der Lorbeerkranz, den die aus dem Reptilienfond gespeiste Legende seit fast zwei Jahrzehnten um das Haupt des alten Kaisers Wilhelm gewunden, wonach er der eifrigste Förderer der nationalen Einheit Deutschlands gewesen sein sollte, wurde durch diese Veröffentlichungen recht schlimm zerzaust: Es zeigt sich, dass er, gleich seinem Bruder Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1849, der Annahme der deutschen Kaiserkrone sehr kühl gegenüberstand, und zwar aus – preußischem Partikularismus, von dem einst Bismarck selbst sagte, das er der schlimmste Partikularismus in Deutschland sei. Es zeigte sich ferner, das auch der Eifer der deutschen Fürsten, insbesondere des von der Legende so gepriesenen, sich ertränkt habenden Bayernkönigs für die Kreierung eines neuen Kaisertums nicht vorhanden war, sondern erst künstlich erzeugt werden musste. Und es zeigte sich endlich, dass Bismarck selbst keineswegs mit dem Eifer für die neue Reichseinheit und mit dem Vertrauen zu den deutschen Fürsten beseelt war, das ebenfalls die Legende bisher mit vollen Posaunentönen zu seinem Ruhm verkündete. Kurz, die Veröffentlichungen gewährten sehr indiskrete Blicke hinter die Kulissen; sie zeigten die Helden jener „großen Zeit“, wie sie heute von der Legende genannt wird, in keineswegs heroenhafter Größe. Fast überall begegnet man der Eifersüchtelei partikularistischer Beschränktheit und ausgeprägter Volksfeindlichkeit, genau denselben Gesinnungen, wie nach den „glorreichen Befreiungskriegen“ von 1813-1815. Nur eines hatte sich geändert. Dass Volk, das 1870 und 1871 nicht mehr so willenlos alles von der Gnade der Fürsten abhängig machen wollte wie 1813 und 1815 und dem Rechnung getragen werden musste. Freilich über das Wie liefert die deutsche Reichsverfassung und ihr Ausbau seit 17 Jahren mit drakonischen Ausnahmegesetzen, drückenden Lebensmittelsteuern und fast verdreifachter Blutsteuer den Kommentar
Wohl hatte das Volk nach 1870 eine Entschädigung für die ungeheuren Opfer verlangt und erwartet, aber die Vertreter, die es zu seinen Führern ernannte, haben es schmählich betrogen und mit faulen Redensarten bis heute an der Nase geführt, und es beginnt den gespielten Betrug zu merken.
Für diese Erkenntnis liefern die Tagebuch-Enthüllungen reiches Material und darum war ihre Veröffentlichung in den Augen des Reichskanzlers ein Staatsverbrechen, das mit der vollen schwere des Gesetzes an dem Attentäter, dem Veröffentlicher, gerochen werden muss.
Fürst Bismarck hat die strafrechtliche Verfolgung des Veröffentlichers bei dem preußischen Justizminister beantragt. Der Justizminister, der sich selbst einen Freund des letztverstorbenen Kaisers nennt und ebenfalls mit einer Abschrift des Tagebuches von diesem beehrt wurde, also den Inhalt kennt, hat die Charakterstärke, diese Verfolgung einzuleiten und der Verleger ist feig und miserabel genug, den Einsender sofort zu nennen. Nur dieser Letztere scheint ein Mann zu sein; er hat sich, obgleich im Ausland abwesend, sofort den Gerichten gestellt und ist in Haft genommen worden. Der Name ist Geheimrat Dr. Geffken in Hamburg.
Die Welt wird also das Schauspiel erleben, das indirekt ein legitimer Deutscher Kaiser als Landesverräter vor die deutschen Gerichte geschleppt und möglicherweise verurteilt wird. In Deutschland ist eben Alles möglich. Die Hoch- und Landesverräter können dann stolz sein, in einem Deutschen Kaiser einen Gesinnungs- und Leidensgenossen zu besitzen. Und zu diesem „Stoß ins Herz“ der deutschen Monarchie holen Diejenigen aus, welche sich als die geborenen und berufenen Anwälte der monarchischen Einrichtungen betrachten. Die Ironie der Weltgeschichte ist nie drastischer zum Ausdruck gekommen als im vorliegenden Bilde. „Gott segne unsere Feinde.“
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