August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 939, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 39, 29. September 1889, S. 4 f.]

:: Aus Norddeutschland, 25. September. Die Feier des 18. März durch eine Anzahl Berliner Parteigenossen, die darin bestand, das dieselben an dem erwähnten Tage in größerer Zahl die Grabstätte der Märzgefallenen im Friedrichshain besuchten, um Kränze mit roten Blumen geziert daselbst niederzulegen, hat noch ein Nachspiel vor den Gerichten gehabt. Acht der Beteiligten waren des Landfriedensbruchs und des Widerstands gegen die Staatsgewalt beschuldigt, weil sie sich dem Versuch mehrerer Schutzleute, die Kränze mit den roten Blumen wegzunehmen, widersetzt hatten. Das Ende der Verhandlung war, das zwei der Angeklagten des Aufruhrs und des Widerstands gegen die Staatsgewalt für schuldig erkannt und mit 7 und 6 Monaten Gefängnis bestraft wurden. Drei andere wurden wegen einfachen Widerstandes mit 1 Monat, beziehentlich 3 Wochen Gefängnis bedacht, die übrigen drei kamen frei. Und das Alles wegen ein paar Kränzen mit roten Blumen, die der Polizei ein Dorn im Auge waren. Ob eine spätere Generation eine solche Staatsretterei begreifen wird?

Ein neuer größerer Prozess steht in Düsseldorf bevor. Zwölf Sozialdemokraten, von denen einige bereits viele Monate in Untersuchungshaft sich befinden, sind der Geheimbündelei und der Zugehörigkeit zu einer angeblich über ganz Deutschland verbreiteten Organisation angeklagt, deren Zweck es sein soll, durch ungesetzliche Mittel das Sozialistengesetz unwirksam zu machen. Die Staatsanwaltschaft hat die Anklageschrift gleich drucken lassen, wodurch sie den Vorzug hat, anderen Staatsanwaltschaften als geeignete Schablone in gleichen Prozessen dienen zu können, ein Verfahren, das seit dem Chemnitz-Freiberger Sozialistenprozess gegen Vollmar, Bebel und Genossen in Deutschland üblich geworden ist. Ein guter Teil der Anklage ist dem Chemnitz-Freiberger Material entnommen. so war es auch in Breslau und anderwärts. Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft beantragt nicht weniger als 70 Zeugen vorzuladen, darunter den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Frohme, welche die Übeltaten der Angeklagten bezeugen sollen. Auch der projektierte Elberfelder Monsterprozess, der eine Zeit lang ins Stocken geraten zu sein schien, ist neuerdings wieder in Fluss gekommen. Es fanden weitere Vernehmungen statt. Und da aller guten Dinge drei sind, wird auch im Osten der preußischen Monarchie, in Breslau, nächstens wieder ein Geheimbundsprozess, wir glauben seit vier Jahren der vierte, in Szene gehen. Das sind die Sisyphusarbeiten, die das Sozialistengesetz den deutschen Gerichten schafft, die aber die Bewegung in ihrem Gang um kein Haar breit hemmen.

Aus allen Ecken und Enden Deutschlands laufen Nachrichten über die erhebliche Steigerung der Brotpreise ein und helfen die keineswegs zufriedene Stimmung verschärfen. Unsere Agrarier und ihre Affilierten beginnen darüber unruhig zu werden und machen krampfhafte Versuche zu bestreiten, das der Kornzoll schuld an dieser Teuerung sei. Allein vergeblich. Wenn der Roggenpreis in Deutschland genau um 50 Mark per 1000 Kilo höher ist, als der Roggenpreis in den Hansestädten, die bis jetzt noch unverzollten Roggen kaufen können, so ist der Beweis über die Ursache unbestreitbar. Die steigende Unzufriedenheit der Massen beunruhigt die oberen Schichten, sie denken schon heute mit Bangen an die nächsten Reichstagswahlen. Dieselben Leute, die erst das Volksrecht beschnitten, indem sie die Dauer der Legislaturperioden von drei auf fünf Jahre erhöhten, werfen jetzt unter sich die Frage auf, wie sie das allgemeine Wahlrecht überhaupt beseitigen könnten. Wie die Dinge liegen, ist an eine wirkliche und ehrlich oppositionelle Mehrheit im Reichstag gar nicht zu denken, aber der Gedanke, die entschiedene Opposition, wie sie die Sozialdemokratie darstellt, könnte sich verdoppeln oder verdreifachen, jagt schon unseren Besitzenden Angst und Schrecken ein. Der Besitz macht ängstlich und feig. Der Besitzende fühlt instinktiv, ohne je Sozialökonomie studiert zu haben, das sein Besitztum nur Fremdtum ist, nur durch die Arbeit Anderer erzeugt wurde, und da sieht er überall die Geister der Enteigneten sich erheben, um ihm sein Besitztum streitig zu machen. Unsere Besitzenden wittern schon Gefahr und Untergang, noch ehe die Massen ahnen, wie nahe sie dem Ziele sind.

Große Aufregung erzeugten die vorige Woche veröffentlichten Auszüge aus dem Tagebuche des verstorbenen Kaisers Friedrich, aus den Jahren 1870 und 1871 als er noch Kronprinz war. Die ganze Presse ist voll davon. Diese Enthüllungen über die Vorgänge jener Zeit in den höchsten Kreisen wirkten verblüffend, sie stellen Vieles in ein ganz anderes Licht und bringen Schatten, wo bisher nach der offiziellen Schönmalerei hellster Glanz war. Im Ganzen können uns diese höfischen Enthüllungen kalt lassen, denn an dem Gang der Dinge ändern sie nichts, aber die Aufregung und der Ärger, die sie in den maßgebenden Kreisen erzeugten, wo man sich jetzt auf das Leugnen ihrer Echtheit steift, ist uns ein Genuss, und dass einem und dem anderen dieser Tagesgötzen ein gutes Stück seiner Gottähnlichkeit abgestreift wurde, ist uns eine Freude. Der jüngst verstorbene Kaiser hat durch diese Enthüllungen sehr gewonnen; es ist kein Zweifel, dass er weit liberaleren Grundsätzen huldigte, als Jene, die sich heute in Deutschland Liberale nennen. Kam er gesunden Leibes zu längerer Regierung, die Welt würde das Schauspiel erlebt haben, dass Deutschland einen Kaiser hatte, vor dessen Liberalismus der Repräsentant des bürgerlichen Liberalismus, die Bourgeoisie, sich fürchtete. Viele, die heute verzückt scheinen über die Grundsätze des Verstorbenen, danken in ihrem Kämmerlein Gott, das er nicht in die Lage kam zu versuchen, sie zu verwirklichen. Wie weit selbst unser „vorgeschrittener“ Liberalismus, der sich in der Partei der Deutsch-Freisinnigen verkörpert, auf den Hund gekommen ist, zeigt deren Programm für die bevorstehenden Landtagswahlen, das über die ödesten, nichtssagenden Plattheiten sich nicht erhebt. Man wagt nicht einmal die Forderung der Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts für die Landtagswahlen zu erheben, obgleich eine solche Forderung doch billig ist, da die Partei nicht in die Lage kommt, sie verwirklichen zu können. Vor 20 Jahren sagte einmal der verstorbene Schulze-Delitzsch zu einem seiner Freunde: Wenn man in der Minorität ist, hat man den Vorteil, radikal sein zu können, weil es nichts verschlägt. Heute haben seine Freunde selbst „das man so tue“ verlernt, aus Furcht, man möchte sie beim Worte nehmen und sie möchten einen größeren Teil ihrer eigenen Anhänger verlieren. Das ist auch ein Fortschritt Vor 20 Jahren spielte man noch mit dem Feuer, heute fürchtet man, sich tüchtig die Finger daran zu verbrennen.

Die neuesten Nachrichten über das Befinden des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Kräcker lauten hoffnungslos. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, war die Krankheit schon so weit vorgeschritten, das die Kunst der Ärzte nichts mehr vermochte. Die Gerichtsbehörde dokumentierte ihr Beileid mit dem schwer kranken Manne dadurch, das sie ihm die Prozesskostenrechnung in der Höhe von über 1500 Mark zur Bezahlung binnen 8 Tagen bei Strafe der Pfändung zusandte. Nun, Kräcker ist arm, und wenn unser christlicher Staat sich nicht an der Leiche schadlos halten kann, dürfte er vergeblich auf Zahlung warten. Hat doch Kräcker auch dass schwere Verbrechen auf sich geladen, die seitens des preußischen Fiskus ausgeklagten Reichstagsdiäten nicht bezahlen zu können, weil er nichts besaß Und mit solch einem „Lump“ soll man Federlesen machen?


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert