[Nr. 896, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 3, 21. Januar 1888, S. 4 f.]
:: In diesen Tagen ist dem Reichstag eine „Nachweisung über die vollständigen Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften für das Jahr 1886“ zugegangen, durch welche ein genauerer Einblick in die Gestaltung des gesamten Unfallversicherungswesens in Deutschland ermöglicht wird.
Das Unfallversicherungsgesetz trat am 1. Oktober 1885 in Kraft. Ende desselben Jahres waren 57 Berufsgenossenschaften in Betrieb, zu denen im Jahre 1886 weitere fünf neue traten und zwar die Speditions-, Speiserei- und Kellerei-Berufsgenossenschaft, die Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft, die Elbschifffahrts-Berufsgenossenschaft und die ostdeutsche Binnenschifffahrts-Berufsgenossenschaft.
Diese 62 Berufsgenossenschaften umfassten insgesamt 3.473.435 versicherte Personen mit 2.228.338.865,59 Mk. Umlage anrechnungsfähigen Löhnen, was einen jährlichen Durchschnittslohn von 641,25 Mk. für eine Person ergibt.
Nach dem deutschen Unfallversicherungsgesetz sind in den versicherungspflichtigen Betrieben sämtliche beschäftigte Personen, die ein Jahreseinkommen bis zu 2000 Mk. haben, der Unfallversicherung unterworfen.
Außerdem waren in den Reichs- und Staatsbetrieben, die der Versicherungspflicht unterliegen, 251.878 Personen versichert, über deren Umlage anrechnungsfähiges Einkommen keine näheren Angaben veröffentlicht sind.
Die Organisation der 62 Berufsgenossenschaften umfasst 366 Sektionen, 742 Mitglieder der Genossenschaftsvorstände, 2356 Mitglieder der Sektionsvorstände, 6501 Vertrauensmänner, 39 angestellte, besoldete Beauftragte (Revisionsingenieure, von den Berufsgenossenschaften eingesetzte Fabrikinspektoren). Ferner 404 Schiedsgerichte mit 2445 Arbeitervertretern bei 269.174 Betrieben.
Die Reichs- und Staatsbetriebe unterstehen 47 Ausführungsbehörden mit 48 Schiedsgerichten und 432 Arbeitervertretern.
Die Reichsunfallversicherungsgesetze schreiben eine Karenzzeit von 13 Wochen vor. Unfälle, die innerhalb dieser Frist geheilt werden, fallen ausschließlich den Krankenkassen zur Last, mit der Maßgabe, das bei Unfällen, die länger als eine vierwöchentliche Kurzeit in Anspruch nehmen, die Unfallversicherungskassen bis zum Ablaufe der dreizehnten Woche mindestens zwei Drittel des Lohnes als Entschädigung zahlen müssen, zu welchem der Verletzte eingeschätzt ist. Die hierbei von der Krankenkasse gezahlte Entschädigung, die in der Regel den halben Lohn beträgt, kommt hierbei in Anrechnung, so dass die Unfallkasse nur das Mehr von einem Sechstel des Lohnes als Entschädigung zu tragen hat.
Die Krankenversicherung selbst besteht unter verschiedenen Formen als Gemeindekranken-Versicherung, hauptsächlich für Tagelöhner, Handarbeiter und Dienstboten, ferner in der Gestalt der Ortskrankenkassen, Betriebs- (Fabrik- etc.) Krankenkassen, Baukrankenkassen und den freien Hilfskassen. Letztere stehen unter der vollen Selbstverwaltung der Arbeiter und bringen diese ihre Kosten ausschließlich auf. Bei allen andern gesetzlich anerkannten Krankenkassen zahlen die Arbeiter ⅔, die Unternehmer ⅓ der Beiträge und sind nach diesem Maßstabe auch die Rechte in dem Vorstande und in den Generalversammlungen verteilt.
Die Kosten der Unfallversicherung tragen die Unternehmer mit der bereits angeführten Einschränkung, das die Krankenkassen für alle Unfälle bis zu dreizehnwöchentlicher Dauer aufzukommen haben. Was dies aber bedeutet geht aus den angeführten Zahlen hervor.
Die Anzahl sämtlicher im Jahre 1886 zur Anmeldung gelangten Unfälle betrug bei den 62 Berufsgenossenschaften 92.319, bei den 49 Ausführungsbehörden 7840, zusammen 100.159. Von dieser Zahl fielen aber nur 10.540 der Unfallversicherung zur Last und nur 9723 den Berufsgenossenschaften, 817 den Ausführungsbehörden.
An Entschädigungsbeträgen zahlten die Berufsgenossenschaften 1.711.699,98 M., die laufenden Verwaltungskosten beliefen sich aber auf nicht weniger als 2.324.294,32 M., hierzu kommen noch an Kosten der Unfalluntersuchungen und der Feststellung der Entschädigungen, an Schiedsgerichts- und Unfallverhütungskosten 277.247,60 M., so das auf eine Mark der gezahlten Entschädigungen 1,51 M. Verwaltungskosten fallen.
Das ist ein arges Missverhältnis, das namentlich diejenigen ausbeuten, die Feinde jedes staatlichen Eingriffs in die sozialen Beziehungen sind. Es unterliegt aber auch keinem Zweifel, dass, wenn der Vorschlag der Sozialdemokraten durchgegangen wäre, welche eine einzige über dass ganze Reich sich erstreckende und vom Reich verwaltete Unfallversicherung befürworteten, die Verwaltungskosten sich erheblich billiger stellten. Die Bourgeoisie verwaltet immer teuer, wo ihre Verwaltung auf Kosten einer größeren Zahl Beteiligter geschieht, dass sehen wir an den Aktiengesellschaften, deren Direktoren und höhere Verwaltungsbeamten ungleich besser bezahlt sind als Staatsbeamte, welche ähnliche Funktionen verrichten.
Die Unterstützungen, welche die versicherungspflichtigen Reichs- und Staatsbetriebe zahlten, belaufen sich auf 203.666,26 M., die Verwaltungskosten insgesamt auf nur 8.664,39 M.
Am teuersten verwaltet die Berufsgenossenschaft der – Schornsteinfeger des Deutschen Reichs, bei der auf den Kopf der versicherten Person 4,89 M., auf je 1000 M. anrechnungsfähige Löhne 8,81 M. Verwaltungskosten kommen.
Die Feuerrüpel (Schornsteinfeger) im Deutschen Reich sind eine privilegierte Genossenschaft, deren Glieder sich sämtlich sehr wohl befinden und da scheinen sie auch bei der Verwaltung ihrer Berufsgenossenschaft etwas darauf gehen lassen zu wollen.
Hinter den Schornsteinfegern kommen die hannoverische Baugewerksgenossenschaft mit 1,57, bez. 3,21 M., die Elbschifffahrts-Berufsgenossenschaft mit 1,40, bez. 3,84 M., die Müllerei-Berufsgenossenschaft mit 1,71, bez. 2,58 M. Am billigsten verwaltet wird die sächsische Textil-Berufsgenossenschaft mit 0,20, bez. 0,37 M., sie hat auch mit das zahlreichste versicherte Personal und die niedrigsten Löhne.
Der Durchschnittssatz der bei den Berufsgenossenschaften zur Anmeldung gelangten Unfälle belief sich auf 26,91 für je 1000 versicherte Personen; aber bei 8 Berufsgenossenschaften betrug diese Zahl über 50 und wuchs sogar über 100 an, bei 18 Berufsgenossenschaften überstieg die Zahl 30.
Von den schwereren (entschädigungspflichtigen) Unfällen kamen bei den Berufsgenossenschaften durchschnittlich 2,83 auf je 1000 versicherte Personen und zwar wiesen die höchsten Verhältnisziffern auf die bayerische Holzindustrie- Berufsgenossenschaft mit 7,97, die Brauerei- und Mälzerei-Berufsgenossenschaft mit 6,70, die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft mit 6,14, die Knappschafts-Berufsgenossenschaft mit 6,17.
Die niedrigsten Verhältnisziffern hatten die Tabak-Berufsgenossenschaft mit 0,21, die Seidenindustrie-Berufsgenossenschaft mit 0,33, die Bekleidungsindustrie-Berufsgenossenschaft mit 0,39.
Unter den 9688 Personen, für welche im Laufe des Jahres 1886 die Berufsgenossenschaften Entschädigungen festzustellen hatten, befanden sich 9069 männliche und 332 weibliche Erwachsene, ferner 244 männliche und 43 weibliche jugendliche Personen unter 16 Jahren.
Die Zahl der verunglückten jugendlichen Arbeiter ist verhältnismäßig hoch, sie beträgt 2,36 Prozent der Gesamtzahl der Verunglückten und zeugt dafür, das trotz aller Schutzmaßregeln, die in dem letzten Jahrzehnt in den Fabriken gegen Unglücksfälle getroffen wurden, noch viel zu tun übrig bleibt. Diese verunglückten jugendlichen Arbeiter stehen sich außerdem finanziell sehr schlecht Die Entschädigung wird nach der Höhe des bezogenen Lohnes bemessen, der ja durchschnittlich sehr niedrig ist und beträgt bei voller Erwerbslosigkeit nur 66⅔ Prozent desselben Werden diese jungen Leute älter, so ist die Unterstützung, die sie beziehen, ein reines Almosen, sie können nicht davon leben, geschweige eine Familie gründen, und so fallen sie später der öffentlichen Unterstützung zur Last. Es wird überhaupt sehr seitens der Unfallbetroffenen geklagt, dass die Berufsgenossenschaften bestrebt find die Entschädigungen möglichst niedrig zu bemessen. Dafür sprechen auch die Entscheidungen des Reichsversicherungsamts als oberste schiedsrichterliche Instanz. Den klagenden Arbeitern wird in Dreivierteln der abgeurteilten Fälle Recht gegeben.
Das bürokratische Element im Reichsversicherungsamt steht eben den Klagen der Arbeiter objektiver gegenüber als die Unternehmerschaft in der Verwaltung der Berufsgenossenschaften.
Für dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit waren im Jahre 1886 in 1778 Fällen und für Unfälle mit tödlichem Ausgang in 2716 Fällen Entschädigungen festzusetzen. Die Zahl der von den getöteten Personen hinterlassenen entschädigungsberchtigten Personen betrug 1802 Witwen, 3949 Kinder und 184 Aszendenten, im Ganzen 5935 Personen.
Die Unfallversicherung ist eine jener Sozialreformerischen Maßregeln, mit denen die Regierungen wie die Bourgeoisie sich gegenüber der Sozialdemokratie besonders brüsten, wobei sie auf ihr wohlwollendes Herz, wie auf ihre Opferwilligkeit zum Wohle der Arbeiter hinweisen. Nun, wir haben jetzt rechnungsmäßig das „Opfer“ vor uns, das die Bourgeoisie im Jahre 1886 in den Berufsgenossenschaften gebracht hat. Es beträgt, eingeschlossen die Einlagen in den Reservefond in der Höhe von 5.401.878,96 Mark, insgesamt 10.305.253,20 M. durchschnittlich auf den Kopf der versicherten Person 2,97 M., auf je 1000 M. anrechnungsfähiger Löhne 4,62 M., mit anderen Worten, sie „opfert“ durchschnittlich 0,46 Prozent des Lohnes ihrer Arbeiter für deren Wohlsein. Das ist ein so winziger Betrag, das sich hiervon der Wert der Einwände bemessen lässt, den diese Bourgeoisie bei jedem Vorschlag auf Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter durch Arbeiterschutz-Gesetze erhebt.
Inklusive der Beiträge, welche die Unternehmerklasse in Deutschland gesetzlich für die Krankenversicherung ihrer Arbeiter leisten muss, soweit diese nicht freien Hilfskassen angehören, erhebt sich das ihr auferlegte „Opfer“ auf kaum 2 Prozent der gezahlten Löhne. Und nun höre man wie diese Menschen bei jeder Gelegenheit mit Hinweis auf die schwere ihrer „Opfer“ seufzen und jammern, damit man ihnen ja nicht mehr zumute. Der moralische Vorteil, den mit Hilfe der berufsgenossenschaftlichen Organisation der Unfallversicherung und der Krankenkassen die deutsche Unternehmerklasse über ihre Arbeiter erlangt hat, ist in Geld ausgedrückt – und er lässt sich wirklich in Geld ausdrücken, denn jede moralische Macht über den Arbeiter ist für den Unternehmer barer Gewinn – zehnmal größer. Diese ganze Organisation hat ausgesprochenermaßen nur den Zweck, alle freien Arbeiterorganisationen, die aus der Initiative der Arbeiter hervorgehen, allmählich zu zerstören und unmöglich zu machen, das Abhängigkeitsverhältnis des Arbeiters vom Unternehmer immer größer zu machen, mit einem Wort, den freien Arbeiter des 19. Jahrhunderts in eine Art modernisiertes Feudalverhältnis, ähnlich dem, in welchem sich sein Vorfahr im 16. Jahrhundert befand, zu bringen.
Einem Teil der Unternehmerklasse sind sogar die geringen Rechte, die den Arbeitern durch Teilnahme an den Schiedsgerichten der Unfallversicherung eingeräumt sind, noch unbequem, lästig und zu weit gehende. Die Arbeitervertreter an den Sitzungen des Reichsversicherungsamts bedürfen bei der sich immer mehr häufenden Zahl der Rekurse öfter dazu Urlaub von längerer Dauer. Diese Urlaube find einem Teil der Unternehmer ein Dorn im Auge und so haben bereits eine Anzahl Maßregelungen der Arbeitervertreter stattgefunden, zum Teil unter Umständen, welche die ganze Gemeinheit der Unternehmer zeigen.
Wird behördlicherseits gegen die wachsende Zahl der Maßregelungen nicht Rat geschafft, so wird es in Kürze an Arbeitervertretern fehlen. Das Ratschaffen ist aber nicht leicht. Der Vorschlag, eine Gesetzesbestimmung anzunehmen, wonach solche Arbeitervertreter ihre Funktion ohne Urlaub versehen können, und ohne das daraus ein unbefugtes Verlassen im Sinne der Gewerbeordnung abgeleitet und sie ohne weiteres auf die Straße gesetzt werden können, klingt zwar sehr hübsch, hat aber in der Praxis herzlich wenig zu bedeuten. Auch das hilft nicht, das bestimmt wird, wer Arbeitervertreter wegen Ausübung ihrer Pflichten aus der Arbeit entlässt, bestraft werde.
Der Unternehmer kann alle solche Gesetzesbestimmungen bequem umgehen und findet andere Gründe genug, die Maßregelung vorzunehmen, ohne das man mit dem Gesetz ihm an den Kragen kann.
Die ganze Maßregel zeigt einmal in hellster amtlicher Beleuchtung, wie in Wahrheit die Unternehmer zur Sozialreform der Regierung stehen. Scheinbar ist man sehr erbaut davon, innerlich aber ist man ergrimmt, man verwünscht die Opfer und Scherereien, die sie einem auferlegt. Kurz, die Sozialreform ist eine große Komödie, in der man auf allen Seiten sich zu täuschen sucht Die Regierung führt sie ein, gezwungen durch die Macht der Sozialdemokratie, die Bourgeoisie akzeptiert sie nur widerwillig aus demselben Grunde, die Arbeiter befriedigt sie nicht. Das ist der Fluch aller Halbheit, alles Stückwerks und Flickwerks.
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