Clara Zetkin: Sozialpolitische Weisheit von oben

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 12, 12. Juni 1895, S. 89 f.]

Was der Vertreter des preußischen Handelsministers auf die Petition des Bundes deutscher Frauenvereine, die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren betreffend, in der Petitionskommission des preußischen Abgeordnetenhauses zu antworten für gut befunden hat, das haben wir bereits in Nr. 10 der „Gleichheit“ tiefer gehängt. Die frauenrechtlerische Presse – soweit sie uns zugeht – hat bis jetzt die betreffenden Äußerungen nicht geziemend zurückgewiesen. Es wird dies auch Niemand wundern, der weiß, dass unsere bürgerliche Frauenrechtelei in unvergessener Achtung „vor dem Herren Bürgermeister und den hohen Obrigkeiten“, in submisser Gesinnungstüchtigkeit nach oben ihre Straße zieht. Die geäußerte sozialpolitische Weisheit ist jedoch so charakteristisch für den bürokratisch-kapitalistischen Klassenstaat, der Preußen heißt und dessen Räuspern und Spucken das übrige Deutschland glücklich abguckt, dass wir sie noch an dieser Stelle in die gebührende Beleuchtung rücken wollen.

Der hohe Beamte, der im Namen des Handelsministers sprach, wollte gütigst „nicht in Abrede stellen“, „dass weibliche Aufsichtsbeamte auf die Gestaltung der wirtschaftlichen und sittlichen Lebensbedingungen der Arbeiterinnen eine nützliche Einwirkung ausüben könnten“. Nachdem er jedoch die Nützlichkeit und damit die Notwendigkeit der geforderten Reform verschämt zugegeben, lässt er die bürokratisch-zopfigsten und geldsacksfreundlichsten Aber gegen ihre Verwirklichung aufmarschiere. Was zeigen diese Aber klärlich?

Zunächst, dass man im preußischen Handelsministerium der einschlägigen Frage mit einer jungfräulichen Befangenheit gegenübersteht, die nicht durch Sachkenntnis getrübt wird. Das Sprachrohr des Handelsministers „muss an und für sich bezweifeln“, ob Frauen zur Gewerbeinspektion geeignet seien. Man fürchtet an maßgebender Stelle, dass Frauen die für diese Aufgabe erforderlichen technischen Kenntnisse nicht besitzen und auch in absehbarer Zukunft nicht erwerben werde. Als ahnungsloser Engel steht man also offenbar im Handelsministerium der Tatsache gegenüber, dass sich durchaus kompetente und unbefangene Persönlichkeiten für die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren erklärt haben. So der Schweizer Fabrikinspektor Dr. Schuler, der zwar mit Rücksicht auf die erforderlichen technischen Kenntnisse die Frauen als Hauptaufsichtsbeamte nicht angestellt wissen möchte, aber ihre Tätigkeit als Hilfsinspektoren warm befürwortet. So der österreichische oberste Gewerbebeamte Hofrat Migerka, welcher die Ansicht vertritt, dass die Frauen alle beruflichen Kenntnisse für die Gewerbeinspektion erwerben können. So viele Andere noch.

Verschlafen zu haben scheint man im preußischen Handelsministerium, welche gute Erfahrungen man in anderen Ländern mit der Tätigkeit der Fabrikinspektorinnen gemacht, und dass man deshalb ihre Zahl vermehrt hat. Die handelsministerielle Unschuld vom Lande lässt in Frankreich die Fabrikinspektion durch Frauen noch immer – wie vor Erlass des neuen Arbeiterschutzgesetzes – ausschließlich in Paris bestehen. Besagte Unschuld weiß auch nicht, ob der in England gemachte Versuch, Frauen zur Fabrikinspektion heranzuziehen, „zu einer dauernden Einrichtung geführt hat“. Kurz, die Leute, welche bezüglich der geforderten Reform ein entscheidendes Wort mitzusprechen haben, erweisen sich in der Tat als unwissender wie die erste beste Frauenrechtlerin, wie – schrecklich zu sagen – der erste beste sozialdemokratische Abgeordnete, wie Dutzende sozialdemokratischer „Aufhetzer“ und „Aufhetzerinnen“. Diese materielle Unkenntnis ist bemerkenswert und bezeichnend. Die Frage der Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren steht nicht seit heute und gestern zur Debatte. Seit Jahren ist sie wiederholt von der Sozialdemokratie im Reichstage angeschnitten worden. Es wäre Pflicht des Handelsministeriums gewesen, sich bezüglich einer offiziell so oft angeregten Reform gründlich zu informiere. An Zeit und Mitteln zum Studium hat es ihm wahrlich nicht gefehlt, allerdings dafür um so mehr an verschiedenem Anderen, das eine Voraussetzung verständigen sozialpolitischen Wirkens ist.

So vor allem an Fühlung mit der Arbeiterklasse, an Achtung vor dem ausdrücklich kundgegebenen Willen weitester Kreise derselben. Seit gut zehn Jahren wird innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung mit Energie für die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren gewirkt. Diese Agitation erfreut sich der Sympathie, der Unterstützung der ganzen Partei. In Hunderten von Versammlungen und von Hunderttausenden von Personen sind im Laufe der Jahre weibliche Aufsichtsbeamte nachdrücklichst geheischt worden. Mehrere sozialdemokratische Parteitage beauftragten durch einstimmig angenommene Anträge die parlamentarischen Vertreter der Sozialdemokratie, für diese Forderung einzutreten. In verschiedenen Landtagen, im Reichstage haben sie sich ihres Auftrags erledigt. Bei ihren Forderungen handelte es sich also nicht um die Initiative einzelner Personen, sondern um den klipp und klar geäußerten Willen der Partei, die 1¾ Millionen Wähler zählt, die nichtstimmberechtigten Mitglieder nicht eingerechnet.

Und angesichts dieses klipp und klar geäußerten Willens wagt der Vertreter des Handelsministeriums zu behaupten, bezüglich der geforderten Reform „sei kein Anzeichen vorhanden, dass in weiten Schichten der Bevölkerung die Überzeugung von deren Notwendigkeit besteht!“ In dieser Äußerung baumelt nicht bloß der preußische Bürokratenzopf, der an Volkswünschen nur als vorhanden anerkennt, was sich de- und wehmütig bis zu einem hohen Papierkorb durch gewinselt hat. In ihr offenbart sich auch eine unverfrorene Missachtung jeder selbständigen Willensäußerung des Volks. Wir können doch nicht annehmen, dass den so pflichteifrigen deutschen und insbesondere preußischen Obrigkeiten die hier in Frage kommenden Kundgebungen weitester Volkskreise verborgen geblieben seien. Sie, die schneidig und tiefgründig die Vorgänge und Worte in jeder Volksversammlung verfolgen, die Organisationen proletarischer Frauen nicht bloß auf ihre Taten, auch auf ihre Absichten prüfen, sie müssen doch die Forderung vernommen haben, die seit Jahren von immer breiteren Kreisen und immer lauter erhoben wird. Wer mit der offenbar sehr achtungswerten und jedenfalls sehr großen Allwissenheit unserer Behörden vertraut ist, dem könnte sich angesichts der angezogenen offiziellen Äußerung leicht eine eigene Ansicht aufdrängen, nämlich die, dass die Bevölkerung, für welche man höheren Orts ein Ohr hat, erst beim epaulettebegnadeten Gardeleutnant, beim schreienden Agrarier, unzufriedenen Industriellen und der Dame anfängt, die sich rühmen darf, „von“ und „zu“ geboren zu sein.

In dieser Auffassung könnte man nur bestärkt werden durch das offizielle Hauptaber gegen die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren. Warm und kräftig klopft uns in ihm das unverfälscht kapitalistisch fühlende Herz des preußischen Handelsministeriums entgegen. Man will von weiblichen Fabrikinspektoren nichts wissen, weil solche den Stumm und Stümmchen nicht genehm sein würden. Mit feinster Verständnisinnigkeit für die Kapitalistenklasse und ihres Wesens Wesenheit, den „heiligen Goldhunger“, zählt der Vertreter des Handelsministers die Gründe dafür auf. Die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren würde die Zahl der Gewerbeaufsichtsbeamten vermehren. Jede solche Vermehrung beschränkt aber in Folge häufigerer und genauerer Inspektion der Betriebe das Unternehmertum um ein Weniges in seiner Ausbeutungsfreiheit. Ein Gräuel und Scheuel ist ihm deshalb jede weitere Anstellung von Aufsichtsbeamten überhaupt, von weiblichen Inspektoren aber obendrein ganz besonders. Diese könnten ja nicht, wie ihre männlichen Kollegen, „unter Umständen auch dem Arbeitgeber von Nutzen sein, insbesondere durch Ratschläge auf technischem Gebiete. … Die Fabrikinspektorinnen würden nur für die Arbeiterinnen vorhanden sein; sie würden den Sammelpunkt für deren Beschwerden bilden und voraussichtlich bald in ein gegensätzliches Verhältnis zum Arbeitgeber geraten.“

Dass der deutsche Fabrikinspektor nicht in erster Linie zur Überwachung des Arbeiterschutzgesetzes da ist, sondern zur Kesselrevision, ist dem deutschen Proletariat von oben genügend klar gemacht worden. Nun lehrt ihm der Vertreter des Handelsministers, dass der sogenannte Aufsichtsbeamte noch eine weitere Pflicht zu erfüllen hat: die, dem Unternehmer durch technische Ratschläge nützlich zu sein. Und diese Seite der Fabrikinspektion ist so wichtig, dass sie mit ausschlaggebend ist für die Nichtanstellung weiblicher Beamten! Die „nützliche Einwirkung auf die wirtschaftlichen und sittlichen Lebensbedingungen der Arbeiterinnen durch Fabrikinspektorinnen“ erscheint dem Handelsministerium wohl als eine feine äußerliche Zucht. Aber als würdig und wohlgeschickt für die Gewerbeinspektion gilt ihm doch nur die Kraft, die gratis oder für ein gutes Frühstück durch schätzenswerte Ratschläge den Profit des Kapitalisten etwas zu mehren versteht. Wehe aber gar dem Aufsichtsbeamten, dessen Auge offen ist für die Missstände der kapitalistischen Betriebe, dessen Ohr sich nicht den Klagen der Arbeiterschaft verschließt, der sich zum „Sammelpunkt ihrer Beschwerden“ macht! Der Fabrikinspektor, der gewissenhaft seines Amts waltet, der der Ansicht ist, er sei zum Schutze der Arbeitskräfte bestellt, er gerät in ein „gegensätzliches Verhältnis“ zum Arbeitgeber, er ist vom Handelsministerium gewogen und zu leicht befunden worden. Dieses „gegensätzliche Verhältnis“ zwischen Pflichttreue und kapitalistischem Profit hat der badische Fabrikinspektor Wörishoffer erfahren, von diesem Verhältnis und seinen Folgen hat sich der Fabrikinspektor Jäger-Köln überzeugen müssen. Vor dem Unternehmertum können nur Aufsichtsbeamte bestehen, die so wenig als möglich inspizieren, auch die frechsten Gesetzesübertretungen der Herren Geldsäcke in der Ordnung finden und diesen mit „nützlichen Ratschlägen“ fleißig zur Hand gehen. Das ist des Pudels Kern, den der Vertreter des Handelsministers mit einer an Zynismus grenzenden Offenheit enthüllt. Dass dem Bekenntnis einer schönen kapitalistischen Seele ein Tröpfchen Denunziation gegen die Sozialdemokratie beigemengt ist, versteht sich am Rande. Nicht empfehlen kann das gute, fortschrittliche Handelsministerium die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren, weil diese „bei der Verhetzung des Arbeiterstandes durch die sozialdemokratische Agitation nicht auf das Vertrauen der Arbeiterinnen rechnen könnten“. Als ebenso – kühn wie komisch erscheint diese Behauptung angesichts der Tatsache, dass die Sozialdemokratie energisch den weiteren Ausbau der Fabrikinspektion fordert, für die Anstellung weiblicher Aufsichtsbeamten eintritt, jederzeit der Arbeiterschaft empfohlen hat, Fühlung mit den Fabrikinspektoren zu suchen und zu unterhalten. Sollte die handelsministerielle Unschuld vom Lande allein nicht wissen, was die Spatzen auf den Dächern pfeifen, was Wörishoffer und andere Fabrikinspektoren wieder und wieder betont haben? Nämlich, dass sich Arbeiter und Arbeiterinnen bei der Inspektion der Betriebe nicht vertrauensvoll über ihre Leiden zu äußern wagen, weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie in neunundneunzig von hundert Fällen die Rache des Kapitalisten, die Maßregelung zu fürchten haben.

Die Regierung hat es in der Hand, die Arbeiter und Arbeiterinnen mit ungetrübtem Vertrauen zu den Aufsichtsbeamten zu erfüllen. Sie ziehe – wie es in England geschieht – Arbeiter und Arbeiterinnen zu der Fabrikinspektion heran, sie lasse bei der Anstellung der Aufsichtsbeamten die Arbeiterorganisationen ein entscheidendes Wort mitsprechen, sie gestalte die Stellung der Fabrikinspektoren derart unabhängig und würdig, dass sie ihren Amtspflichten nachgehen können, ohne den politischen Einfluss des Unternehmertums, in Gestalt von Rüffeleien durch die vorgesetzten Behörden, in Gestalt von Strafversetzungen etc. fürchten zu müssen. Hie Rhodus, hie salta! Aber die Regierung springt nicht, wie es im Interesse der Arbeiterklasse liegt, sie tanzt, wie die Kapitalistenklasse pfeift. Das zeigt auch die Erklärung des preußischen Handelsministeriums zur Frage der weiblichen Fabrikinspektoren. Die typischen Merkmale der Sozialreform von oben sind ihr aufgeprägt: Unkenntnis dessen, was in Sachen des Arbeiterschutzes im Auslande geschieht; zopfige und protzige Nichtbeachtung des Willens weiter Volkskreise; zarteste Rücksicht auf die Wünsche des Unternehmertums. Auch sie ist ein herzerfrischend deutlicher Ausdruck der Tatsache, dass die Sozialreform von oben kleinlaut vor der Kapitalistenmacht kapituliert hat, noch ehe sie den Kampf energisch aufgenommen. Die Arbeiterklasse wird ihrer geschichtlichen Aufgabe getreu die natürliche Konsequenz dieser Tatsache ziehen. Sie bereitet durch Aufklärung und Organisation der Massen die Zeit vor, wo getanzt werden muss, wie das Proletariat pfeift, und zwar dürfte es bei einem sanften Reformwalzer dann kaum sein Bewenden haben.


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