[eigene Übersetzung aus: Socialist Fight, Jg.. 2 Nr. 6, Oktober 1960]
Zwischen den Herrschenden der Sowjetunion und Chinas ist ein erbitterter, wenn auch verdeckter Streit ausgebrochen. Der wahre Kern des Streits wird von beiden Seiten mit einem ideologischen Deckmantel verschleiert. Der Streit wurde in der russischen und chinesischen Presse ausgetragen, ohne den Gegner direkt zu benennen. Das Wesen des Streits ist, zumindest an der Oberfläche, ob die von Lenin ausgearbeiteten Gesetze über die Natur des Imperialismus und die Unvermeidbarkeit des Krieges im Kapitalismus auch in der gegenwärtigen Epoche noch gelten oder ob es eine grundlegende Veränderung der Lage gibt, wie die russischen Stalinisten behaupten, was bedeutet, dass ein Krieg vermieden werden könne, obwohl der Imperialismus weiterhin existiert.
Ohne Namen zu nennen, führen die Chinesen einen erbitterten Kampf gegen den „Revisionismus“, mit vielsagenden Zitaten aus den Werken Lenins, um zu zeigen, dass, solange der Kapitalismus existiert, die Gefahr eines Krieges, insbesondere durch so mächtige Mächte wie die Vereinigten Staaten, die Völker der Welt zu überwältigen droht. Sie entlarven ständig die Machenschaften und Verbrechen der Imperialisten in Bezug auf die Kolonialvölker. Ihre Schüsse gegen den „Revisionismus“ richten sich eindeutig gegen die Politik der russischen bürokratischen Führer. Die Russen haben ihrerseits den „Dogmatismus“ und das „Ultralinkstum“ angegriffen. Der Streit dauert schon seit Monaten an und hat nun ein Stadium erreicht, in dem die russische Provinzpresse die chinesische Führung offen angreift und unmissverständlich klarstellt, dass der jüngste Abzug von Technikern aus China mit diesem Streit zusammenhängt. Es soll eine Warnung an die Chinesen sein, dass, wenn sie nicht die Hörner einzieht, die russische Führung sogar zu einem offenen Bruch bereit ist, mit allen Nachteilen, die das national und international mit sich bringen würde.
Das von der russischen Führung vorgebrachte Argument, das im Großen und Ganzen von den Führungen der kommunistischen Parteien in Westeuropa und in den von den Stalinisten kontrollierten Ländern Osteuropas unterstützt wurde, lautete, dass die Stärkung der Macht der stalinistischen Staaten und die Schwächung des Imperialismus die Fortsetzung der „friedlichen Koexistenz“ ermögliche, bis das Wachstum der industriellen, technischen und bildungsmäßigen Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten zu einem friedlichen Übergang zum Sozialismus seitens der kapitalistischen Staaten führen werde.
Nun ist jedem klar, dass die Lage etwas anders ist als in der Epoche, in der Lenin schrieb. Aber die Grundlagen der Situation in einer Klassengesellschaft bleiben dieselben. Die Natur des Kapitalismus und des Imperialismus ist nicht anders als zu der Zeit, als Lenin schrieb. Lenins Hauptwarnung an die russischen Arbeiter war, dass es nicht möglich sei, die Probleme des russischen oder irgendeines anderen Volkes der Welt im nationalen Maßstab zu lösen. Damit griff er lediglich die Idee von Marx auf, dass der Sozialismus seinem Wesen nach ein internationales System sein muss.
Der Marxismus hat seine Vertreter stets gelehrt, unter die Oberfläche der Argumente zu blicken, um die wirklichen materiellen Interessen zu erkennen, die in vielen Fällen ganz unbewusst von den Vertretern der Ideen reflektiert werden. Wenn Macmillan und Eisenhower von der Verteidigung der Demokratie und der Freiheit schwafeln, meinen sie in Wirklichkeit die Verteidigung von Grundrente, Zinsen und Profit. Wenn die Führer des stalinistischen Russlands von der Verteidigung der Arbeiterklasse und des Sozialismus sprechen, meinen sie auf ähnliche Weise in Wirklichkeit die Verteidigung der Interessen der Horden von Beamten, die die Macht von den Arbeitern an sich gerissen haben. Die nationale Ideologie dieser Kaste wurde in der „Theorie“ des Sozialismus in einem Land zusammengefasst. Diese Theorie wurde von den Interessen der herrschenden Kaste in Russland diktiert, die die Früchte der Revolution auf Kosten der Arbeiter genießen wollte, während sie die Kapitalisten außerhalb Russlands versöhnte. Mit der Entwicklung der Macht und der Privilegien der Bürokratie in Russland kämpfte sie aktiv gegen die Entwicklung der sozialistischen Revolution in Osteuropa, aus Angst vor dem Beispiel, das dies den russischen Arbeitern geben würde, was zu ihrem Sturz und dem Verlust ihrer privilegierten und dominanten Position führen würde.
Es hatte katastrophale Folgen für die Arbeiter in Russland und in der Welt. Die Idee, eine chinesische Mauer zwischen Russland und dem Westen zu errichten, endete in den Flammen und der Zerstörung des Zweiten Weltkriegs – es stand auf des Messers Schneide, ob das russische Staatseigentum an den Produktionsmitteln durch die Nazihorden zerstört werden würde.
Das zweite Element der Meinungsverschiedenheiten zwischen den chinesischen und den russischen Stalinisten bezog sich auf die Haltung gegenüber dem nationalen Befreiungskampf. Die russische Bürokratie konkurriert mit den großen kapitalistischen Mächten um die Gunst der Kapitalisten, Feudalherren und Stammesfürsten in den unterentwickelten Ländern Asiens und Afrikas. Aus Angst, sich mit den kapitalistischen Großmächten anzulegen, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, wurde jede unabhängige Bewegung der Massen, die eine sozialistische Richtung einschlagen könnte, nicht unterstützt.
Eine solche Politik hat in der Vergangenheit immer in einer Katastrophe und dem Sieg der Reaktion geendet. In den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten wird es unmöglich sein, den Status quo aufrechtzuerhalten. Der Klassenkampf wird alle Hemmnisse durchbrechen, die die Führer der Labour Party und der Kommunistischen Partei ihm aufzuerlegen versuchen. Der gegenwärtige Boom wird nicht unbegrenzt andauern. Die Kapitalisten werden zu anderen Methoden greifen, wenn sie den Arbeitern keine Zugeständnisse mehr machen können. Entweder werden die Arbeiter den Kapitalismus zerstören oder die Kapitalisten werden sich der Reaktion zuwenden, wie sie es in den Jahren zwischen den Kriegen getan haben. Der Sieg der Reaktion, wenn sie nicht von der Arbeiterklasse vernichtet wird, würde seinerseits den Weg für einen neuen und vielleicht endgültigen Holocaust der Menschheit in einem neuen Krieg bereiten.
Alle glänzenden Errungenschaften, alle schmerzlichen Opfer von zwei Generationen russischer Arbeiter und Bauern wären dann umsonst gewesen. Egal wie groß die Fortschritte in Industrie, Technik und Kultur in Russland in den nächsten 10 oder 20 Jahren auch sein mögen, das kann die Probleme der russischen und weltweiten Arbeiterklasse nicht lösen. Die Politik, die zum Siege Hitlers führte, hat ihrerseits dazu geführt, dass die Arbeit von zwei Jahrzehnten in Russland in Schutt und Asche gelegt wurde. Jetzt steht noch viel mehr auf dem Spiel. Im Zeitalter der Wasserstoffbombe und anderer gefürchteter Vernichtungsmittel würde ein Weltkrieg den gemeinsamen Untergang aller Völker der Welt bedeuten – ein unvorstellbares Gemetzel, zumindest aber die Zerstörung der Zivilisation und der von der Menschheit in Jahrtausenden aufgebauten Kultur.
Was ist dann die Zukunft? Das Schicksal der Menschheit in der nächsten Epoche wird durch das Schicksal des Kampfes der Arbeiterklasse vor allem in Westeuropa, in den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion und in Japan entschieden werden. Der Hauptgrund für den Frieden, so instabil er auch gegenwärtig sein mag, ist das Verhältnis der Klassenkräfte und die Stärke der Arbeiterklasse in den wichtigsten kapitalistischen Ländern. Das ist es, was den Imperialisten die Hände gebunden hat. Es ist die Hauptkraft für den Frieden. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass ein solches Kräfteverhältnis nicht ewig aufrechterhalten werden kann. Die Kapitalisten sind zufrieden, solange sie weiterhin fabelhafte Profite machen können, um der Arbeiterklasse sekundäre Zugeständnisse in Bezug auf den Lebensstandard und mehr Rechte zu machen. Aber wenn sich die wirtschaftliche Lage zum Schlechteren verändert, was unweigerlich der Fall sein wird, werden die Kapitalisten genauso rücksichtslos wie in der Vergangenheit zu anderen Methoden greifen, um ihre Privilegien und Profite zu verteidigen. Wenn die Arbeiter im Westen nicht die Macht übernehmen, werden die Kapitalisten ihre Organisationen, Parteien, Gewerkschaften und Rechte zerstören. Die Warnung der milden Form der gaullistischen Reaktion in Frankreich in einer für den französischen Kapitalismus schwierigen Zeit ist ein Hinweis darauf, wie leicht die herrschende Basisschicht des Kapitalismus ihre neuen Herrschaftsmethoden ändern kann, wenn sie es für notwendig hält. Der Sieg neuer Hitlers würde dann den Weltkrieg unausweichlich machen. Selbst der alte kapitalistische Fuchs Churchill hat verstanden, dass es eines solchen Regimes wie Hitlers bedarf, um unter den heutigen Bedingungen einen Weltkrieg zu führen.
Mehr noch als zu Zeiten von Lenin und Marx überschreitet das Schicksal der Weltarbeiterklasse die nationalen Grenzen. Der Sozialismus ist international oder er ist nichts. Die russische Bürokratie fürchtet den Sieg des Sozialismus in demokratischer Form im Westen, weil dann ihre Tage der Herrschaft gezählt wären. Deshalb war sie so verängstigt wegen der ungarischen Revolution und ihrer Auswirkungen auf die russische und Welt-Arbeiterklasse. Das erklärt ihre Politik. Sie unterscheidet sich in den Grundzügen nicht von der Politik Stalins in den dreißiger Jahren. Wenn es von der Bürokratie abhinge, würde diese Politik den Tod der Arbeiterklasse, ja der ganzen Menschheit bedeuten.
Auf der anderer Seite sind die Politik und die Methoden, die Ideen der chinesischen Stalinisten nicht grundlegend unterschieden von denen der russischen Stalinisten. Sie haben die russische Politik nicht kritisiert, um eine Politik des internationalen Sozialismus und des Klassenkampfes zu vertreten, die die einzige Alternative darstellt. Sie haben keine Politik der Gewinnung der Arbeiterklasse anderer Länder vorgeschlagen, während sie die Politik der Imperialisten scharf kritisieren. Der wahre Grund für ihre Unzufriedenheit mit der russischen Politik liegt darin, dass sie befürchten, dass die Russen durchaus bereit sind, eine Art von Abkommen mit den Imperialisten, insbesondere den amerikanischen Imperialisten, zu schließen, ohne dabei die Interessen und Bestrebungen der chinesischen Bürokratie zu berücksichtigen. Wie die russische Bürokratie sind sie in erster Linie an den Privilegien, der Macht, dem Einkommen und dem Prestige ihrer eigenen herrschenden Clique interessiert. Sie sind nationalchinesische Stalinisten und betrachten die Weltereignisse aus diesem Blickwinkel. Sie wollen Formosa [Taiwan] zurückgewinnen, den chinesischen Sitz bei den Vereinten Nationen und die Anerkennung der Interessen des chinesischen Staates. Sie befürchten, dass diese Ziele von den russischen Stalinisten geopfert werden, wenn es darum geht, irgendeinen Kompromiss und ein Abkommen mit den Imperialisten des Westens, insbesondere den amerikanischen Imperialisten, zu erreichen.
In Kambodscha, Afghanistan, im Jemen haben sie mit der reaktionären feudalen oder vorfeudalen herrschenden Klasse Pakte und Abkommen geschlossen, wie sie auch die Russen mit verschiedenen kapitalistischen Ländern geschlossen haben. Ihre Unterstützung für die algerische Revolution war zweideutig und von ihrer Außendiplomatie bestimmt.
Sie haben in keiner Weise die reaktionäre und undemokratische Kontrolle der russischen Stalinisten und ihre diktatorische Herrschaft über die russischen Arbeiter kritisiert. Wie könnten sie auch? Ihre eigene Herrschaft befindet sich wegen der größeren Rückständigkeit Chinas in einer noch diktatorischeren Phase als das System in Russland.
Für Sozialisten besteht das Problem darin, hinter die Worte zu schauen und zu erkennen, welche Interessen oder Zwänge sich in der Politik aller Klassen, Kasten und Gruppen der Gesellschaft widerspiegeln. Jede Politik der kapitalistischen Parteien wird letztlich von den Bedürfnissen, Interessen und Sichtweise der Kapitalisten diktiert. Sie kann nicht im Interesse der Arbeiter sein. Auf der anderen Seite hat die Geschichte der letzten 30 Jahre gezeigt, dass die Politik der stalinistischen Parteien von den Bedürfnissen der Diplomatie der stalinistischen Staaten diktiert wird. Diese wiederum wird von den Bedürfnissen, Interessen und Sichtweise der stalinistischen Bürokratie in den Ländern diktiert, in denen sie die Kontrolle hat.
Es stimmt, dass es in der russischen Gesellschaft einen enormen inneren Druck gibt, der die Bürokratie zu Zugeständnissen an die Arbeiter zwingt. Sie fordern einen Anteil an der kolossalen gesteigerten Produktion, die durch ihre jahrzehntelange Aufopferung und Arbeit möglich geworden ist. Unter diesen Bedingungen ist die russische Führung ernsthaft daran interessiert, ein gewisses Maß an Abrüstung zu erreichen. Alle Ressourcen, die durch nutzlose Waffen eingespart werden, können aufgrund der Vorteile eines Systems, in dem das Privateigentum abgeschafft wurde, sofort für produktive Zwecke verwendet werden.
Auf der anderen Seite gibt es einen gewaltigen inneren Druck in China, die gewaltigen Belastungen durch das Industrialisierungsprogramm können in Ermangelung einer internationalen sozialistischen Perspektive und Politik, nur durch die ständige Betonung die Gefahr durch den äußeren Feind – den Imperialismus – gerechtfertigt werden. Das ist ein weiterer Faktor in der Politik der chinesischen Stalinisten. Aber der Hauptgrund ist die Forderung, dass China bei allen Verhandlungen mit dem Westen den gleichen Status wie die Sowjetunion erhalten soll, damit seine Interessen gewahrt werden können. Wenn der amerikanische Imperialismus morgen, und in der nächsten Periode scheint es unvermeidlich, versucht, eine Art von Abkommen mit der chinesischen Bürokratie zu schließen, würden sie ihre Politik sofort ändern. Sie würde zu einer Nachbildung der Politik der russischen Stalinisten werden.
Einer der Gründe für den ständigen Angriff auf die US-Imperialisten und den Imperialismus im Allgemeinen ist der Versuch, den Mangel an Arbeiterdemokratie und Arbeiterrechten in China zu rechtfertigen, indem man auf den äußeren Feind verweist. So war es auch bei der Politik der russischen Stalinisten.
In diesem Zusammenhang müssen die Arbeiter der Linken der Arbeiterbewegung die Haltung der „Tribune“ und des „New Statesmen“ kritisieren. Die „Tribune“ unterstützt die Haltung der russischen Stalinisten in der Frage der Koexistenz. Als ob irgendwelche Vereinbarungen zwischen den kapitalistischen Mächten selbst, geschweige denn mit grundlegend gegensätzlichen Gesellschaftssystemen, mehr wert wären als das Papier, auf dem sie geschrieben wurden! Die lange und blutige Geschichte des Kapitalismus ist der grausame Beweis dafür.
Es gibt nur eine Kraft, die an Frieden, Wahrheit und brüderlichen Beziehungen zwischen den Nationen interessiert sein kann, und das ist die internationale Arbeiterklasse. Ihre Interessen sind die gleichen. Die harten Fakten des Klassenkampfes und der internationalen Politik zeigen, dass es auf lange Sicht nur einen Weg zu Frieden und Überfluss gibt: den Sturz des Kapitalismus und des Stalinismus und die Organisierung eines demokratischen sozialistischen Britanniens in einer demokratischen sozialistischen Welt.
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