[Ted Grant:] Programm der Internationale

[1970, Bearbeitung einer deutschen Übersetzung von 1980]

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Dokument behandelt Vorgeschichte und Entwicklung der Vierten Internationale und zeigt insbesondere deren theoretischen und politisch-praktischen Niedergang nach Trotzkis Tod auf. Dieser Niedergang fand seinen organisatorischen Ausdruck bekanntlich in der Zersplitterung und im Zerfall der Vierten Internationale. Von ihr ist heute nur noch eine Reihe meist hoffnungslos sektiererischer Restgruppen übriggeblieben, die alle den Anspruch erheben, die eigentliche Vierte Internationale zu sein.

Die Einschätzung der im Dokument behandelten Gruppen und Tendenzen hat sich auch in dem Jahrzehnt seit seiner Fertigstellung in der englischen Originalfassung voll bestätigt. Nur ist die Kette ihrer theoretischen Fehleinschätzungen und politischen Irrwege inzwischen um einige weitere Glieder ergänzt worden. Hierzu liefert uns beinahe jede wichtige weltpolitische Entwicklung neues Anschauungsmaterial – ob es sich nun um die portugiesische Revolution handelt oder um die neueren Bewegungen im Iran und Nicaragua. Es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, uns ständig aufs Neue mit den Fehlern dieser »trotzkistischen« Gruppen auseinanderzusetzen. Die Hoffnung auf eine grundlegende Wende in ihrer Politik haben wir längst aufgegeben. Es lohnt sich lediglich, ab und zu einmal ein Beispiel ihres Versagens aufzugreifen, um daran zu lernen, wie man es nicht machen sollte.

Die Geschichte der Vierten Internationale hat für uns als Tendenz noch nicht richtig begonnen. Abgesehen von der Gründungskonferenz und dem Grundsatzprogramm, die wir für den historischen Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen Internationale der Arbeiterklasse betrachten, hat die Vierte Internationale als echte internationale Organisation nie richtig existiert. Die Aufgabe, eine solche Internationale aufzubauen, steht uns noch bevor.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Übertragung des englischsprachigen Dokuments „Programme of the International“ ins Deutsche. Die englische Originalfassung wurde im Mai 1970 – vor genau zehn Jahren – fertiggestellt und danach in der britischen Organisation diskutiert und verabschiedet. Später wurde sie durch einen Beschluss des Weltkongresses zu einem für unsere gesamte Internationale gültigen Dokument.

Von den Übersetzern wurden an manchen Stellen gegenüber dem englischen Text stilistische Änderungen (z.B. Vermeidung von Wiederholungen) sowie Ergänzungen und Aktualisierungen vorgenommen, die den Genossen zum besseren inhaltlichen Verständnis dienen sollen. Solche Zusätze sind im Text kenntlich gemacht durch Fußnoten mit folgenden Wortlaut: „Ergänzende Erläuterung des Originaltexts“ bzw. „Aktualisierung“. In einigen Fällen wurden außerdem erklärende Zusätze in Klammern eingefügt – Bsp.: …die (zentristische) ILP… – bzw. für einen Sachverhalt ebenfalls in Klammern konkrete Beispiele genannt.

Vorangestellt haben wir dem Dokument ein Verzeichnis der im Text verwendeten Abkürzungen sowie eine Zeittafel; beide sind nicht Bestandteil des Dokuments in seiner Originalfassung und sind als zusätzliche Arbeitshilfen für die deutschen Genossen gedacht.

Mai 1980

Im Dokument verwendete Abkürzungen

FLN Front de Liberation Nationale (Nationale Befreiungsfront Algeriens, 1951 von der MNA abgespalten

ILO Internationale Linke Opposition (gegründet 1929)

ILP Independent Labour Party (zentristische Partei in Großbritannien, entstand 1932 durch Abspaltung von der Labour Party)

IS Internationales Sekretariat (führendes Gremium der VI von 1938 bis 1963)

Komintern Kommunistische Internationale (=Dritte Internationale)

KPCh Kommunistische Partei Chinas

LO Linke Opposition (in der UdSSR)

MNA Mouvement National Algerien (Algerische Nationalbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg)

OCI Organisation Communiste Internationaliste (französische trotzkistische Organisation unter Lambert, spaltete sich 1953 von der VI ab)

RCP Revolutionary Communist Party (britische Sektion der VI, 1944-49)

SLL Socialist Labour League (britische trotzkistische Organisation unter Führung von Healy, spaltete sich 1953 von der VI ab)

SWP Socialist Workers Party (US-Sektion der VI)

VI Vierte Internationale

VS Vereinigtes Sekretariat (führendes Gremium der VI – Mandels Tendenz – seit 1963)

WRP Workers Revolutionary Party (neuer Name von Healys Organisation ab 1973)

Zeittafel

1864 Gründung der Ersten Internationale

1889 Gründung der Zweiten Internationale

1919 Gründung der Dritten Internationale (Komintern)

  1. Vereinigte Linke Opposition

1927 Verbot der LO

  1. Bildung und Aufbau der Internationalen Linken Opposition (ILO)
  2. Gründung der Vierten Internationale (VI)

1940 Ermordung Trotzkis in Mexiko

1953 Spaltung der VI (SWP, Healys SLL und Lamberts OCI bilden ein Bündnis gegen Mandel/Frank/Pablo, später weitere Abspaltungen von Posadas 1959 und Pablo 1964)

  1. Gruppen um Grant und Bornstein vereinigen sich und bilden (bis 1965) britische Sektion der VI
  2. SWP und IS vereinigen sich zum VS

1965 Britische Gruppe um Ted Grant wird aus der Vierten Internationale ausgeschlossen

1967 Ultralinke Wendung des VS (Mandels Tendenz)

Programm der Internationale (1970)

Die erste und zweite Internationale

Ohne internationale Perspektive, Programm und Politik, ist es unmöglich, eine Bewegung aufzubauen, die der Aufgabe gerecht werden kann, die Gesellschaft umzugestalten. Eine Internationale besteht aus einem Programm, einer Politik und einer Methode – und Organisation ist das Instrument, mit dem diese in die Tat umgesetzt werden sollen. Die Notwendigkeit einer Internationale ergibt sich für die Arbeiterklasse aus der Situation, in der sie sich international befindet. Diese Situation ist bestimmt durch die Schaffung der kapitalistischen Weltwirtschaft. Die Interessen der Arbeiterklasse eines Landes sind die gleichen wie diejenigen der Arbeiter in den anderen Ländern. Die vom Kapitalismus hervorgebrachte weltweite Arbeitsteilung hat die Grundlage gelegt für eine neue internationale Organisation der Arbeiterklasse und für eine Planung wirtschaftlicher Produktion im Weltmaßstab. Der Klassenkampf der Arbeiter im allen Ländern bildet die Grundlage für die Bewegung zum Sozialismus.

Durch das Privateigentum an Produktionsmitteln entwickelte der Kapitalismus die Industrie und machte Schluss mit der Kleinstaaterei des Feudalismus. Er beseitigte das überkommene feudalistische Zoll- und Abgabensystem. Die Schaffung der Nationalstaaten und des Weltmarktes ist die größte Errungenschaft des Kapitalismus. Aber hat das neue System einmal diese seine historischen Aufgaben erfüllt, wird es selbst zur Fessel für die weitere Entwicklung der Produktion; das Nationalstaat und das Privateigentum behindern jetzt die Fortentwicklung der ganzen Gesellschaft. Die Produktionsmöglichkeiten können nun nur noch voll genutzt werden durch die Abschaffung nationalstaatlicher Barrieren, sowie die Schaffung einer europäischen und Welt-Föderation von Arbeiterstaaten. Dies stellt – zusammen mit dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln sowie Arbeiterverwaltung und -kontrolle – eine notwendige Übergangsetappe auf dem Weg zum Sozialismus dar. Diese Faktoren bestimmen die Strategie und Taktik des Proletariats und spiegeln sich in dessen bewusster Führung wider. In den Worten von Marx: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ – und deshalb: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Ausgehend von solchen Überlegungen organisierte Marx 1864 die Erste Internationale: als Mittel zur Vereinigung der fortgeschrittensten Schichten der internationalen Arbeiterklasse. In der Internationale sammelten sich britische Gewerkschafter, französische Radikale und russische Anarchisten.

Unter der Führung von Marx schuf diese Organisation den Rahmen für die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Europa und Amerika. Die Bourgeoisie erzitterte vor der kommunistischen Bedrohung, verkörpert in der Internationale. Diese schlug tiefe Wurzeln in den wichtigsten europäischen Ländern.

Nach dem Zusammenbruch der Pariser Kommune 1871 jedoch gab es einen weltweiten Aufschwung des Kapitalismus. Diese Tatsache verstärkte den Druck auf die Arbeiterbewegung und führte zu Streitigkeiten und Fraktionsbildungen in der Internationale. Die Intrigen der Anarchisten nahmen schärfere Formen an. Unter diesen Umständen kamen Marx und Engels schließlich 1876 zu der Auffassung, dass es vorläufig das Beste wäre, die Internationale aufzulösen (- vorher hatten sie noch vorgeschlagen, die Zentrale der Organisation nach New York zu verlegen).

Wie Marx selbst vorhergesehen hatte, trugen seine und Engels‘ Arbeit Früchte – in Deutschland, Frankreich, Italien und anderswo entstanden Massenorganisationen des Proletariats. Dies wiederum bereitete die Organisation einer neuen Internationale auf höherer Ebene vor: einer Internationale, die auf den Grundlagen des Marxismus aufbaute und die einen echten Massencharakter annehmen konnte. Und so wurde 1889 die Zweite Internationale geboren.

Aber die Entwicklung der Internationale fand erneut vor dem Hintergrund einer langanhaltenden Aufschwungphase des Kapitalismus statt. Und während sie in Worten den Ideen des Marxismus huldigten, gerieten die Führungskreise der internationalen Sozialdemokratie zunehmend unter der Druck und den Einfluss ihrer kapitalistischen Umwelt. Kompromisse und Verhandlungen über Kleinigkeiten mit den Vertretern der herrschenden Klasse wurden ihnen zur Gewohnheit. Auf der Grundlage eines allgemein steigenden Lebensstandards – errungen durch den Druck der Massenorganisationen in einer wirtschaftlichen Blüteperiode des kapitalistischen Systems – veränderten sich vor allem auch die Lebensbedingungen der parlamentarischen Führungselite der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Und: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein…“

Die Jahrzehnte friedlicher Aufschwungsentwicklung, die der Niederlage der Kommune 1870/71 folgten, hatten schließlich den Charakter der Führung der proletarischen Massenorganisationen vollständig verändert. Noch immer unterstützten diese Leute in Worten die Ziele des Sozialismus und die Diktatur des Proletariats, noch immer verkündeten sie in wohlklingenden Phrasen den Internationalismus; aber in der Praxis hatten sie sich schon längst auf den Standpunkt der Unterstützung und Verteidigung ihres jeweiligen Nationalstaats gestellt.

Noch bei der Basler Konferenz der Zweiten Internationale von 1912 – vor dem Hintergrund wachsender Widersprüche des Weltimperialismus und der Unvermeidlichkeit eines Weltkrieges – wurde der feierliche Beschluss gefasst, mit allen Mitteln (einschließlich des Generalstreiks und Bürgerkriegs) dem Versuch entgegenzutreten, die Völker in das sinnlose Gemetzel eines Krieges zu treiben. Zwar glaubten Lenin und die Bolschewiki zusammen mit Luxemburg, Trotzki und anderen Führern der Bewegung, die Internationale als Instrument einsetzen zu können, mit dem die Menschheit für alle Zeiten von den Ketten des Kapitalismus befreit werden könnte – aber 1914, bei Ausbruch des Weltkrieges liefen die Führer der Sozialdemokratie in fast allen Ländern zu ihrer jeweiligen nationalen herrschenden Klasse über, um sie im Krieg zu unterstützen.

Dieser Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus kam so unerwartet, dass selbst Lenin die Ausgabe des »vorwärts« (Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie), die sich für die Zustimmung zu den Kriegskrediten aussprach, für eine Fälschung des deutschen Generalstabs hielt. Bei ihrer ersten ernsthaften Bewährungsprobe war die Zweite Internationale unrühmlich zusammengebrochen.

Die Dritte Internationale

Durch das Scheitern der Zweiten Internationale waren Lenin, Trotzki, Liebknecht und Luxemburg, MacLean und Conolly und andere führende Marxisten plötzlich nicht mehr als die Führer kleiner politischer Gruppen. Die Teilnehmer an der Zimmerwalder Konferenz von 1915 machten Witze darüber, dass die Internationalisten der Welt zur damaligen Zeit in ein paar Postkutschen hinein passten. Der plötzliche, unerwartete Verrat der Zweiten Internationale hatte zur Folge, dass die isolierten Vertreter des Internationalismus sogar ein wenig zu einer ultralinken Haltung neigten. Aber um sich von den »Sozialpatrioten«, den »Verrätern an der Sache des Sozialismus« abzugrenzen, waren sie gezwungen, die grundlegenden Prinzipien des Marxismus in aller Klarheit darzulegen: die Verantwortung des Imperialismus für den Krieg, das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten, die Notwendigkeit der Machteroberung durch das Proletariat, die vollständige Trennung von der Praxis und der Politik des Reformismus.

Lenin hatte die Idee vom »Endkrieg«, vom »Krieg, der alle weiteren Kriege erübrigen würde«, als ein bösartiges Märchen der Arbeiterführer entlarvt. Wenn dem Weltkrieg nicht eine Serie erfolgreicher sozialistischer Revolutionen folgte, so erklärte Lenin, dann würde es auch unvermeidlich irgendwann einen zweiten, einen dritten und sogar einen zehnten Weltkrieg geben – möglicherweise bis zur völligen Auslöschung der Menschheit. Aber zunächst einmal war es offensichtlich, dass das Blut und die unsagbaren Leiden in den Schützengräben – zum Nutzen und Profit der Monopolisten und Millionäre – eine Revolte der Völker gegen die kolossale Schlächterei provozieren mussten.

Diese Grundsätze und Überlegungen erhielten ihre Bestätigung durch die Russische Revolution von 1917 unter Führung der Bolschewiki. Diesem historischen Ereignis folgte eine ganze Reihe von Revolutionen und revolutionären Situationen zwischen 1917 und 1921. Aber unglücklicherweise waren die jungen Kräfte der neuen Internationale, die 1919 gegründet worden war, noch schwach und unreif. Infolgedessen war sie nicht in der Lage, diese Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen – obwohl die Russische Revolution eine Welle der Radikalisierung in den meisten Ländern Westeuropas auslöste und die Entstehung kommunistischer Massenparteien nach sich zog. In den ersten Phasen der Radikalisierung wandten sich die Massen in erster Linie ihren traditionellen Organisationen zu. Die jungen Kommunistischen Parteien zeigten sich den an sie gestellten Aufgaben nicht gewachsen; sie waren unerfahren und unreif; es mangelte ihnen an einem tiefgehenden Verständnis marxistischer Theorie, Methode und Organisation. Und so konnte sich der Kapitalismus vorläufig noch einmal stabilisieren.

Jedoch schon 1923 entwickelte sich in Deutschland erneut eine revolutionäre Situation. Aber die Führung der KPD wurde von einer ähnlichen Krise geschüttelt, wie sie die bolschewistische Partei 1917 durchgemacht hatte. Wegen ihrer schwankenden Politik wurde auch diese Gelegenheit, die Staatsmacht an sich zu reißen, verpasst. Der amerikanische Imperialismus kam aus Furcht vor der »bolschewistischen Bedrohung des Westens« schleunigst dem deutschen Kapitalismus zu Hilfe.

Das erneute Scheitern (nach 1918/19) der deutschen Revolution bahnte der Entartung der Sowjetunion – in ihrer Isolation und Rückständigkeit – den Weg. Ebenso war nun die Dritte Internationale zu Korruption und Verfall verdammt. 1924 begann sich die stalinistische Bürokratie in der Sowjetunion immer mehr zu befestigen und die Macht endgültig an sich zu reißen. Ein ähnlicher Entwicklungsprozess, wie er sich in der Zweiten Internationale über Jahrzehnte entwickelt hatte, erfasste die Sowjetunion und die von ihr maßgeblich bestimmte Dritte Internationale in sehr viel kürzerer Zeit.

Nach der Machtergreifung in einem rückständigen Land hatten sich die echten Marxisten an die Vorbereitung der internationalen Revolution gemacht. Sie wussten, dass die Weltrevolution die einzige Lösung für die Probleme der Arbeiter Russlands und der Welt darstellte. Als die Ausweitung der Revolution im internationalen Maßstab jedoch ausblieb, trat 1924 unvermeidlich Stalin als Repräsentant der russischen Bürokratie in den Vordergrund, die sich über die Arbeiter- und Bauernmassen erhoben hatte.

In einer Gesellschaft, in der Kunst, Wissenschaft, Staat und Verwaltung fest in den Händen einer kleinen herrschenden Schicht, der Bürokratie verblieben waren, setzten sich die eigennützigen Interessen dieser privilegierten Kaste immer mehr durch. Ganz im Gegensatz dazu hatten die Ideen von Marx und Lenin darauf abgezielt, die Masse der Bevölkerung in die Führung der Staatsgeschäfte und die Verwaltung der Industrie mit einzubeziehen.

Im Herbst 1924 brachte Stalin zum ersten Mal – und in vollständiger Missachtung der Traditionen des Marxismus und Bolschewismus – die utopische »Theorie« vom »Sozialismus in einem Lande« vor. Die Internationalisten kämpften von Beginn an unter der Führung Trotzkis in der entstehenden Linken Opposition (LO) gegen diese Theorie und sagten voraus, dass sie zum Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale und zur nationalistischen Entartung ihrer Sektionen führen würde. Sie wussten, dass eine Theorie nicht bloß eine abstrakte Sache war, sondern dass sie auch unmittelbare Auswirkungen auf die praktische Politik und die bevorstehenden Kämpfe haben würde.

Theorien, die eine Massenunterstützung hinter sich vereinigen, repräsentieren immer die Interessen und den Druck bestimmter Gruppierungen, Schichten oder Klassen in der Gesellschaft. Die Theorie vom »Sozialismus in einem Lande« repräsentierte die Ideologie der herrschenden Bürokratenkaste der Sowjetunion; diese war mit den bisherigen Ergebnissen der Revolution vollauf zufrieden und wollte nicht zulassen, dass irgendwelche Kräfte ihre privilegierte Stellung in Frage stellten. Genau diese Interessenlage der Bürokratie war es, die dafür verantwortlich war, dass die Kommunistische Internationale (Komintern) sich verwandelte: von einem Instrument der Weltrevolution zu einer reinen Grenzwache für die Verteidigung der Sowjetunion, die angeblich eifrig dabei war, den Sozialismus, auf sich alleine gestellt, aufzubauen.

Die Linke Opposition

In der Folgezeit wurde der Ausschluss der Linken Opposition (LO) aus den Kommunistischen Parteien betrieben. Diese Opposition, deren führender Kopf Trotzki war, bekannte sich zu den Grundsätzen des Internationalismus und des Marxismus. Hintergrund für die schließliche Niederlage der LO waren folgende Entwicklungen: Von 1924 bis 1927 hatte sich Stalin im Inland auf ein Bündnis mit den Kulaken (Großbauern) und denjenigen Kräften, die von der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) profitierten, gestützt. Die Devise war »Aufbau des Sozialismus im Schneckentempo«. Entsprechend zu dieser Politik im Innern war Stalins internationale Politik zu dieser Zeit ausgerichtet auf eine »Neutralisierung« der Kapitalisten sowie eine Beschwichtigungspolitik gegenüber den Sozialdemokraten; das Ziel dieser Politik war die Abwendung einer Kriegsgefahr. Die Folgen der stalinistischen Marschroute international waren verheerende Niederlagen des Proletariats – vor allem in der Chinesischen Revolution 1925-27 sowie im britischen Generalstreik 1926.

Zu dieser Zeit konnte man noch von »Fehlern« in der Politik Stalins, Bucharins und ihrer Gefolgsleute sprechen. Diese Fehler waren zurückzuführen auf ihre Stellung als Ideologen der privilegierten Bürokratenclique sowie auf den enormen Druck des Kapitalismus und Reformismus, dem sie ausgesetzt waren. Das Versagen und die Krise de russischen Führer hatte somit auch die Bewegung des Proletariats in anderen Ländern zu Niederlagen und Katastrophen verdammt. Und diese internationalen Niederlagen wiederum waren der Hintergrund für die Niederlage der Linken Opposition in der Sowjetunion mit ihrem Programm der Rückkehr zur Arbeiterdemokratie und der Einführung von 5-Jahres-Plänen für die Wirtschaft.

Nachdem die Politik der sogenannten »Zweiten Periode« (1924-28) – eine Politik der Kompromisse und der Beschwichtigung gegenüber den Kulaken im Inland, gegenüber den Reformisten im Westen und der kolonialen Bourgeoisie im Osten – schwere internationale Niederlagen (China, Großbritannien) sowie die Gefahr einer Konterrevolution in der Sowjetunion selbst nach sich gezogen hatte, vollführte Stalin und seine Clique eine panikartige 180°-Wendung hin zu einer ultralinken Position – in ihrem Gefolge die Führung der Komintern.

Die Wirtschaftskrise der Jahre 1929-1933 wurde zur »Endkrise des Kapitalismus« erklärt, der Faschismus und die Sozialdemokratie als »Zwillingsbrüder« bezeichnet (Sozialfaschismus-Theorie). In Deutschland spaltete die KPD die Arbeiterbewegung durch ihren Kampf gegen den »Hauptfeind« Sozialdemokratie, anstatt sich für eine Einheitsfront zur Verhinderung der faschistischen Machtergreifung einzusetzen. Diese katastrophale Politik lähmte das deutsche Proletariat und ebnete Hitler den Sieg.

In der Sowjetunion selbst nahm der Prozess der stalinistischen Konterrevolution weiter seinen Lauf. Abgesehen von der Verstaatlichung der Produktionsmittel, dem Außenhandelsmonopol des Staates sowie der Planwirtschaft war vom Ende der Oktoberevolution nichts, aber auch gar nichts übriggeblieben. Partei und Staat wurden mit Hilfe grausamen Terrors von allen nicht-stalinistischen Kräften gesäubert. Dieser einseitige Bürgerkrieg gegen jede noch verbliebene Opposition beschränkte sich nicht auf die Sowjetunion. Er fand seine Entsprechung in den anderen Parteien der Komintern. Der Sieg Hitlers und die Niederlage des Proletariats in Spanien und Frankreich waren die furchtbaren Folgen dieser Entwicklung.

In der Zwischenzeit hatte die Internationale Linke Opposition – 1928 gebildet, nachdem die LO in Russland 1927 verboten worden war – die fortgeschrittensten Kräfte in den wichtigsten kommunistischen Parteien der Welt für ihr alternatives Programm gewonnen. Das Programm der ILO für die Sowjetunion und die Internationale wurde von der stalinistischen Bürokratie mit Parteiausschlüssen beantwortet – nicht nur in Russland, sondern auch in den wichtigsten Sektionen der Komintern. Trotzdem entstanden Oppositionsgruppen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, den USA, Südafrika und weiteren Ländern. Der Aufbau der linken Oppositionsgruppen stellte den Versuch dar die besten Traditionen des Bolschewismus und die Ideale der Kommunistischen Internationale aufrechtzuerhalten. Denn die Krise der Komintern (und der ganzen Menschheit) war die Krise ihrer Führung.

Während der ersten Periode ihrer Existenz (bis 1933) verstand sich die Linke Opposition selbst als einen Flügel der Komintern; sie war zwar von den stalinistischen Führern der Internationale ausgeschlossen worden, aber sie trat weiter für eine grundlegende Reform dieser Organisation ein. Sie kämpfte für die Übernahme einer korrekten Politik – im Gegensatz zum blanken Opportunismus der Jahre von 1923 bis 1927 und zum Abenteurertum der Periode 1928-33 (sogenannte »Dritte Periode«). Genau wie die Massen können auch die fortgeschrittensten Teile des Proletariats ihre Lehren nur aus den wichtigsten Ereignisse der Geschichte ziehen. Und die Geschichte hat stets gezeigt, dass die Massen ihre alten Organisationen niemals aufgeben, sich von ihnen abwenden, bevor sie nicht durch das Feuer entscheidender Ereignisse gegangen sind und sich dabei entlarvt haben. So trat denn auch die Linke Opposition, der ausgeschlossene marxistische Flügel der Internationale, noch bis 1933 für die Reform der Sowjetunion und der Komintern ein. Ob diese lebensfähige Organisationen waren, würde sich erst durch die geschichtliche Bewährungsprobe herausstellen.

Es waren dann die Machtergreifung Hitlers in Deutschland und die Weigerung der Komintern, die Lehren aus dieser furchtbaren Niederlage zu ziehen, die die Internationale endgültig als unreformierbar abstempelten, die sie unbrauchbar werden ließ als Instrument der Arbeiterklasse in ihrem Kampf für den Sozialismus. Weit davon entfernt, die Entstehungsursachen der verhängnisvollen Theorie des »Sozialfaschismus« sowie deren Auswirkungen zu analysieren, erklärten sich die Sektionen der Komintern zu einem »Sieg der Arbeiterklasse«. Sogar noch 1934 setzte die Komintern ihre selbstmörderische Politik gemeinsamer Aktionen mit den Faschisten in Frankreich fort – gegen die »Sozialfaschisten« (=Sozialisten) und die »Radikalfaschisten« Daladiers (=bürgerliche Liberale). Wäre diese Politik der (französischen) Stalinisten erfolgreich gewesen, wären sie auch in Frankreich für die Machtergreifung der Faschisten durch den – versuchten, aber zum Glück gescheiterten – Rechtsputsch im Februar 1934 verantwortlich gewesen.

Die Vierte Internationale

Der Verrat der Komintern und die schrecklichen Auswirkungen der Niederlage in Deutschland 1933 führten die Linke Opposition zu einer neuen Einschätzung der Rolle der Dritten Internationale. Eine Internationale, die zu der Schändlichkeit fähig war, das deutsche Proletariat den Schlächtern Hitlers auszuliefern, ohne dass auch nur ein Schuss des Widerstands gefallen wäre und ohne dass sich in ihren Reihen ein Sturm des Protests erhoben hätte – eine solche Internationale konnte unter keinen Umständen mehr den Interessen des Proletariats dienlich sein. Eine Internationale, die in der Lage war, die Katastrophe in Deutschland als »Sieg« auszugeben, konnte schon gar nicht mehr die Rolle als Führer des Proletariats erfüllen. Als Instrument der Weltrevolution war die Dritte Internationale tot; sie war entartet zu einem gefügigen Werkzeug des Kreml und der russischen Außenpolitik. Infolgedessen war es zu einer unumgänglichen Notwendigkeit geworden, die Vorbereitungen für den Aufbau einer Vierten Internationale zu treffen – einer neuen Internationale, die unbefleckt war von den Verbrechen und dem vielfachen Verrat, die sowohl der reformistischen Zweiten als auch der stalinistischen Dritten Internationale anhingen.

Wie in den Tagen nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale waren die revolutionären Internationalisten auch diesmal zurückgeworfen auf winzige, isolierte Gruppierungen. Immerhin verfügten sie in Belgien über ein paar Parlamentsabgeordnete und eine ein- bis zweitausend Menschen starke Organisation; ähnlich war die Situation noch in Österreich [?] und Holland. Insgesamt aber waren die Kräfte der neuen Internationale schwach und unreif; auf der anderen Seite jedoch konnten sie auf die Führung und Hilfe Trotzkis bauen – sowie auf die Perspektive großer historischer Ereignisse. Die Ausbildung der Kader wurde betrieben auf der Grundlage der Analyse der Erfahrungen mit der Zweiten und Dritten Internationale; der Russischen, Deutschen, Chinesischen Revolutionen, des britischen Generalstreiks von 1926 sowie der großen Ereignisse, die sich in der Folge des Ersten Weltkriegs entwickelt hatten. Das Ziel war die Heranbildung des unverzichtbaren Skeletts von Kadern für den Körper der neuen Internationale.

In dieser Periode wurde auch die Taktik des »Entrismus« entwickelt; sie hatte ihre Begründung in der Isolation der Marxisten und der neuen Bewegung in den Massenorganisationen der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Parteien. Um die besten Arbeiter zu gewinnen, musste ein Weg gefunden werden, sie beeinflussen zu können. Das konnte am besten dadurch geschehen, dass man mit ihnen zusammen in den Massenorganisationen arbeitete. Auf diese Weise wurde die Idee des »Entrismus« in den Massenorganisationen der Sozialdemokratie ausgearbeitet und erstmals im Fall der zentristischen Independent Labour Party (ILP) in Großbritannien in die Tat umgesetzt. Die Taktik wurde überall dort angewandt, wo sich diese Massenorganisationen in einem Zustand der Krise und der Radikalisierung befanden.

So traten die Trotzkisten vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Krise in Frankreich der Sozialdemokratischen Partei (SFIO) bei. In Großbritannien hatte zunächst ein Eintritt in die ILP stattgefunden, die sich nach ihrer Abspaltung von der Labour Party in einem Zustand der Bewegung und der Unruhe befand; schließlich schlossen sich viele britische Trotzkisten auf Trotzkis Rat hin sogar der reformistischen Labour Party selbst an. Auch in den USA praktizierte man die Taktik des Entrismus in der Sozialistischen Partei. Die gesamte Vorkriegsperiode wurde von den Trotzkisten hauptsächlich als eine Zeit der Vorbereitung und Orientierung genutzt; sie diente der Auswahl und Entwicklung von Kadern und Führungskräften, deren theoretische Ausbildung und Abhärtung nur innerhalb der Massenbewegung erfolgen konnte.

Der Entrismus wurde darüber hinaus lediglich als kurzfristige Taktik betrachtet; eine Taktik, die den Revolutionären auf Grund ihrer isolierten Stellung gegenüber den Massen aufgezwungen wurde. Es war für eine winzige unabhängig auftretende Organisation unmöglich, das Ohr und die Unterstützung der breiten Masse der Arbeiterklasse zu finden. Die entristische Taktik diente einzig und allein dem Zweck, unter den radikalen Elementen der Klasse arbeiten zu können. Diese Kämpfer begannen zwar, nach radikalen Lösungen zu suchen, wandten sich aber zunächst mit ihren Forderungen an die Massenorganisationen. Bei der Anwendung dieser Taktik war jedoch ein Grundsatz von zentraler Bedeutung: unter allen Umständen mussten die wesentlichen Ideen des Marxismus, das revolutionäre Banner, aufrechterhalten, verteidigt und vorgebracht werden. Es ging darum, Erfahrung in und Verständnis für die Massenbewegung zu gewinnen, sowie den Gefahren des Sektierertums einerseits und des Opportunismus andererseits entgegenzutreten. Die entristische Taktik verband einen flexiblen Ansatz mit der Unumstößlichkeit der wichtigsten Prinzipien des Marxismus; sie diente der bestmöglichen Vorbereitung der Kader auf die bevorstehenden großen Ereignisse.

Die Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland, in Frankreich und während des Bürgerkriegs in Spanien, die – genau wie die Niederlagen der unmittelbaren Nachkriegsperiode – eindeutig der Politik der Zweiten oder der Dritten Internationale (oder aber beider) zuzuschreiben gewesen waren, schufen die Grundlage für den Zweiten Weltkrieg. Dieser war unvermeidlich geworden – und zwar wegen der Lähmung des europäischen Proletariats in Zusammenhang mit der neuen zugespitzten Krise des Weltkapitalismus. Vor diesem Hintergrund eines drohenden Krieges fand 1937 die Gründungskonferenz der Vierten Internationale (VI) statt. Damit ging die mehrjährige Vorbereitungsphase für die neue Internationale zu Ende.

Trotzkis Perspektiven

Das Dokument, das auf der Gründungskonferenz verabschiedet wurde, gibt in sich selbst Aufschluss über die Ursachen für die Gründung der neuen Internationale. Das »Übergangsprogramm« der VI ist ausgerichtet auf das Konzept der Massenarbeit, das wiederum durch Übergangsforderungen mit der Idee der sozialistischen Revolution verbunden ist. Die Übergangsforderungen werden aus der widersprüchlichen Wirklichkeit des Alltags heraus entwickelt. Das Übergangsprogramm stellt somit einen vollständigen Gegensatz dar zum Programm der Sozialdemokratie, das in ein Minimalprogramm einerseits und ein Maximalprogramm andererseits zerfällt. Es ist ein Programm des Übergangs vom Kapitalismus zur sozialistischen Revolution. Dieser Ansatz spiegelt die Einschätzung der ganzen Epoche als einer Epoche der Kriege und Revolutionen wider.

In diesem Sinne muss die gesamte Arbeit ausgerichtet sein auf die Perspektive der sozialistischen Revolution. Trotzkis Perspektive war die eines bevorstehenden Weltkriegs, der wiederum Revolutionen auslösen würde. In seiner Sicht würde das Problem des Stalinismus dabei so oder so gelöst werden: entweder würde die Sowjetunion durch eine politische Revolution gegen da stalinistische Regime zu ihren revolutionären Ursprüngen, zur Arbeiterdemokratie zurückkehren – oder aber eine erfolgreiche Revolution in einem der hochentwickelten Länder würde die Situation im Weltmaßstab verändern. Durch eine siegreiche proletarische Revolution würde sich das Hauptproblem der Internationale – der Stalinismus und der Reformismus – im Verlauf der Ereignisse sozusagen von alleine lösen.

Diese von bestimmten Bedingungen abhängige Prognose Trotzkis wies zwar auf ein tiefgreifendes Verständnis für die geschichtlichen Prozesse hin, sie wurde jedoch durch den Ablauf der tatsächlichen Ereignisse nicht bestätigt. Aufgrund der besonderen militärischen und politischen –Entwicklungen und Ergebnisse des Weltkrieges wurde die Position des Stalinismus nämlich vorläufig gestärkt. Und diesmal waren es die gestärkten Stalinisten, die die revolutionäre Welle, die sich während und im Gefolge des Krieges ausbreitete, verrieten – und zwar in üblerer Form, als die Führer der Zweiten Internationale die revolutionäre Welle nach dem Ersten Weltkrieg verraten hatten.

Als Trotzki 1938 die Gründung der VI vorantrieb, tat er dies wegen des Scheiterns, des Verfalls des Stalinismus und des Reformismus als revolutionäre Tendenz in der Arbeiterbewegung. Beide waren zu ungeheuren Hindernissen auf dem Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse geworden; einstmals ein Instrument zur Zerstörung des Kapitalismus, waren sie nun unfähig geworden, das Proletariat zur sozialistischen Revolution zu führen. Deshalb war die Frage neuer Parteien und einer neuen Internationale eine Frage von größter Vordringlichkeit geworden. Ein Weltkrieg würde eine erneute revolutionäre Welle in den kapitalistischen Metropolen und unter den kolonialen Völkern auslösen. Diese revolutionären Ereignisse wiederum würden den Stalinismus in Russland sowie international hinwegfegen. Unter solchen Bedingungen musste mit absoluter Dringlichkeit darangegangen werden, die organisatorischen und politischen Vorbereitungen für die vorausgesehenen großen Ereignisse zu treffen.

Vor dem Hintergrund dieser Perspektiven sagte Trotzki 1938 voraus, dass innerhalb von 10 Jahren von den verräterischen Organisationen der Stalinisten und Reformisten nichts mehr übrig geblieben sein und die VI zur entscheidenden Revolutionären Kraft auf dem Planeten geworden sein würde. Zwar war an der Analyse, die dieser Prognose zugrunde lag, nichts Entscheidendes auszusetzen, aber jede Prognose ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die Vielzahl der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren kann immer zu einer anderen als der vorhergesehenen Entwicklung führen.

Einer dieser Faktoren – ein entscheidender Faktor für die internationale politische Entwicklung in den vier Jahrzehnten seit Trotzki seine Perspektive aufstellte – war die furchtbare Schwäche der revolutionären Kräfte. Diese Schwäche fand bereits darin ihren Ausdruck, dass die Mandarine im Führungsgremium der VI – ohne Trotzkis Führung, ohne Trotzkis Gegenwart – nicht in der Lage waren, seine 1938 aufgestellten Perspektiven als (immer neu zu prüfende) These zu begreifen, sondern sie im wörtlichen Sinne als korrekt und unumstößlich hinnahmen.

Nachkriegsentwicklung und die Rolle der Führung der Vierten Internationale

Der Krieg nahm einen anderen Verlauf als es sogar die größten theoretische Genies hätten vorausahnen können. Die genaue Entwicklung ist bereits in mehreren Dokumenten unserer Tendenz aufgezeigt worden.

Die anfänglichen Siege Hitlers in den ersten Abschnitten des Krieges waren noch unter anderem zurückzuführen auf die Politik der stalinistischen Führer in der vorherigen Periode (z.B. der Hitler-Stalin-Pakt oder die Volksfrontpolitik in Spanien und Frankreich). Eine entscheidende Wende trat dann jedoch ein durch den Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion selbst sowie die Verbrechen und Bestialitäten der Nazis (Trotzki hat den Faschismus einmal als die „chemisch destillierte Essenz des Imperialismus“ bezeichnet!). Gedemütigt von den über sie herfallenden Nazihorden, sahen es die Arbeiter und Bauern der Sowjetunion nun nicht als ihre vordringlichste Aufgabe an, die Arbeiterdemokratie in ihren Lande durch eine politische Revolution wiederherzustellen; es ging für sie jetzt erst einmal darum, die Nazis zu besiegen und aus dem Land zu vertreiben. Das Ergebnis war letztendlich, dass der Stalinismus für eine ganze geschichtliche Epoche gestärkt aus dem Weltkrieg hervorging.

Der Krieg hat sich immer mehr zu einem Krieg hauptsächlich zwischen dem stalinistischen Russland auf der einen und Nazi-Deutschland auf der anderen Seite entwickelt. Der sowjetische Sieg entsprach dann ganz und gar nicht den Perspektiven und Spekulationen des anglo-amerikanischen Imperialismus. Dessen Vertreter hatten sich vorgestellt, dass entweder die Sowjetunion besiegt würde; in diesem Fall könnte man anschließend einem durch den aufreibenden Kampf geschwächten Deutschland den entscheidenden Schlag versetzen und als souveräner Sieger aus dem Krieg hervorgehen. Die andere Möglichkeit bestand darin, dass die Sowjetunion zwar nicht niedergeworfen, aber durch das blutige Gemetzel an der Ostfront derart geschwächt würde, dass der Imperialismus ebenfalls in die Lage versetzt wäre, fortan den Kurs der Weltpolitik und eine seinen Wünschen und Interessen entsprechende Neuaufteilung der Welt zu diktieren. Diese Rechnung ging jedoch vollständig daneben.

Demgegenüber erwies sich Trotzkis Perspektive wenigstens in der Hinsicht als korrekt, dass dem Zweiten Weltkrieg eine noch heftigere revolutionäre Welle folgte als nach dem Ersten Weltkrieg. Aber er hatte nicht vorhersehen können, wie sich die europäischen Massen orientieren würden. Nachdem Russland von Hitlers Armeen überfallen worden war, hatten die Kommunistischen Parteien nämlich in verschiedenen Ländern die wichtigste Rolle im Widerstand gegen die Nazis gespielt. Und dieser Umstand war eine Ursache dafür, dass sich die Massen im Verlauf der revolutionären Auseinandersetzungen der Nachkriegsperiode erneut den Kommunistischen Parteien – und in vielen Ländern auch den sozialdemokratischen Parteien – zuwandten. Und bereits zu diesem Zeitpunkt ließen das Verhalten und die Einschätzungen der Führer der noch jungen VI den zukünftigen totalen Zerfall dieser Organisation vorausahnen.

Bereits 1944 wäre es notwendig gewesen, die Bewegung neu zu orientieren, sie darauf einzustellen, dass eine längere Periode bürgerlicher Demokratie im Westen und stalinistischer Herrschaft in Russland bevorstand. Dies geschah auch in den Dokumenten der Revolutionary Communist Party (RCP), der britischen Sektion der VI; in diesen Dokumenten wurde darauf hingewiesen, dass die nächste Periode gekennzeichnet sein würde durch eine »Konterrevolution in demokratischer Form«. Diese besondere Form der demokratischen Konterrevolution war auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Bourgeoisie sich nicht länger in der Lage sah, ihre Herrschaft in Westeuropa ohne die Hilfe des Stalinismus und der Sozialdemokratie aufrechtzuerhalten.

Das Internationale Sekretariat (IS) der VI war jedoch der neuen Situation nicht gewachsen, anstatt einer neuen Einschätzung der Situation gab es zweideutige Erklärungen von sich. Die Socialist Workers Party (SWP – amerikanische Sektion der VI) und andere Führer der Bewegung versuchten Zeit zu gewinnen und argumentierten schließlich, dass – ganz im Gegensatz zur Einschätzung der britischen RCP – die Bourgeoisie ihre Herrschaft in Europa nur noch durch eine bonapartistische Militärdiktatur aufrechterhalten könnte. Die Führer der VI waren unfähig, die Wendung zu erkennen, die sich in der geschichtlichen Entwicklung vollzogen hatte; sie verstanden nicht, dass das stalinistische Russland gestärkt aus den Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war und dass sich der Imperialismus keineswegs in der Offensive, sondern vielmehr eindeutig in der Defensive befand. Die revolutionäre Welle, die Europa und die ganze Welt nach dem Krieg durchspülte, machte es dem anglo-amerikanischen Imperialismus völlig unmöglich, in der Sowjetunion in ähnlicher Weise wie 1918 militärisch einzugreifen – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Russland noch sehr geschwächt war, und sich der Imperialismus demgegenüber noch in der relativ günstigsten Position befand. Aber wie gesagt, die bedrohliche revolutionäre Bewegung in den westlichen Ländern selbst verhinderte jedes denkbare militärische Eingreifen in den Herrschaftsbereich der Sowjetunion. Zeitweilig war es sogar zu einem Bündnis zwischen dem anglo-amerikanischen Imperialismus und der Sowjetbürokratie gekommen; dieses Bündnis hatte seine eigentliche Ursache in der Angst beider Herrschaftscliquen vor einer erfolgreichen sozialistischen Revolution in den hochentwickelten Ländern, die eine ungeheure internationale Signalwirkung gehabt hätte. Aber dieser Zusammenhang wurde von den Führern der VI nicht erkannt; sie verstanden weder das veränderte internationale Kräfteverhältnis noch die Bedeutung der enormen revolutionären Nachkriegswelle. Und so verkündete dann auch die Resolution, die das IS für die Weltkonferenz von 1945 entworfen hatte, dass schon „allein diplomatischer Druck“ ausreichen würde, um den Kapitalismus in der Sowjetunion wiederaufzurichten!

Die veränderten Verhältnisse in Osteuropa und China

Die vollständige Perspektivlosigkeit des IS hinsichtlich Westeuropas wurde noch übertroffen durch seine Haltung zu den theoretischen Problemen, denen sich die Bewegung in Osteuropa gegenüber sah. Die Führer der VI begriffen nicht, welchen neuen Impuls das Vorrücken der Roten Armee der Revolution gegeben hatte, ein Impuls, den die Bürokratie natürlich für ihre eigenen Interessen nutzte. Nachdem sie sich der Revolution in den Ländern Osteuropas bedient hatte, erwürgte sie diese Revolutionen anschließend sofort wieder. Es ging dabei nicht darum, dass die Stalinisten etwa vor den Kapitalisten kapitulierten; vielmehr führten sie die soziale Revolution zunächst einmal durch (und beseitigten damit das kapitalistische System in diesen Ländern) und verunstalteten die Revolution dann zu einer stalinistischen Diktatur. Um weitergehenden Forderungen der Arbeiter und Bauern in der ersten Phase nach 1945 vorzubeugen, reifen die Stalinisten »antifaschistische Bündnisse« ins Leben.

Das sogenannte »Bündnis« zwischen den Klassen, von denen die Stalinisten in dieser ersten Phase der Beseitigung der alten Gesellschaftsformen in Osteuropa redeten, war vergleichbar mit der Volksfront während der 30er Jahre in Spanien – ein Bündnis noch nicht einmal mit den Kapitalisten, sondern mit dem Schatten der Kapitalistenklasse. Allerdings ließ man es in Spanien zu, dass der Schatten immer mehr Substanz gewann, schließlich wurde sogar die Staatsmacht der Bourgeoisie wieder in die Hände gegeben. Demgegenüber war in allen Ländern Osteuropas die Verkörperung der Staatsmacht, nämlich Armee und Polizei, fest in der Kontrolle der stalinistischen Parteien. Diese überließen ihren bürgerlichen Koalitionspartnern lediglich den Schatten der Macht.

Die Stalinisten machten sich die revolutionäre Situation in all diesen Ländern zunutze; überall war dort die herrschende Klasse gezwungen gewesen, mit den fliehenden Nazitruppen das Land zu verlassen – aus Angst vor der Rache der Massen, deren Hass sie sich wegen ihrer Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzungstruppen zugezogen hatte. Demzufolge war mit dem Rückzug der Armeen Hitlers auch die staatlichen Strukturen zusammengebrochen. Armee und Polizei flohen massenhaft oder hielten sich versteckt. Auf diese Weise verblieb als einzige bewaffnete Macht in Osteuropa die Rote Armee. Indem sie zwischen den verschiedenen Klassen und Schichten in Osteuropa balancierte, ging die bonapartistische Clique daran, einen Staat nach dem Vorbild Russlands zu schaffen – nicht nach dem Russland von 1917, sondern des stalinistischen Russlands.

Zwar fanden sich bereits in den Schriften Trotzkis Andeutungen über die Möglichkeit derartiger Entwicklungen; die Führer der VI jedoch standen den neuen geschichtlichen Erscheinungsformen völlig hilflos gegenüber. Sie erklärten, die Länder Osteuropas seien »staatskapitalistisch«, während Russland für sie nach wie vor ein entarteter »deformierter« Arbeiterstaat blieb. Eine solche Position war unvereinbar mit einer marxistischen Analyse. Denn wenn Osteuropa, in dessen Ländern die Produktionsmittel verstaatlicht und eine Planwirtschaft eingeführt worden waren, »staatskapitalistisch« war – dann war es völlig absurd, daran festzuhalten, dass Russland, wo die gleichen Bedingungen bürokratischer Diktatur herrschten, irgend etwas mit einem Arbeiterstaat zu tun haben sollte. Die grundlegenden Bedingungen waren in beiden Fällen gleich.

Die Führung der VI erwies sich als sowohl West- als auch Osteuropas als unfähig, korrekte Perspektiven zu entwickeln und die Ausbildung der revolutionären Kader darauf aufzubauen. Enttäuscht von den Auseinandersetzungen über diese Fragen, wandten sich wichtige Kräfte in Frankreich und anderen Ländern von der VI ab.

Eher noch katastrophaler war jedoch die Position des IS der VI in Bezug auf das zweitgrößte Ereignis in der Geschichte der Menschheit, die Chinesische Revolution. Das IS schätzte den Charakter des von Mao Tse-tung und seinen Anhängern geführten Bauernkrieges ebenso falsch ein, wie das internationale Kräfteverhältnis. Es beschränkte sich zunächst einmal darauf, Ideen und Einschätzungen aus Trotzkis Schriften einfach zu wiederholen, ohne diese aber wirklich verstanden und durchdrungen zu haben. Die führenden Köpfe der Internationale erklärten, Mao würde vor Tschiang Kai-schek (dem Repräsentanten der nationalen Bourgeoisie) kapitulieren und der Verlauf der gescheiterten Revolution der Jahre 1925-27 würde sich wiederholen.

Diese Einschätzung war jedoch völlig falsch. Den erstens einmal ging es im chinesischen Bürgerkrieg vor allem um die Landfrage, die ständigen Friedensangebote der Stalinisten an die bürgerlichen Kräfte wurden abhängig gemacht von einer durchgreifenden Landreform sowie der Enteignung des »bürokratischen Kapitals« – und genau diese Forderungen, dieses Programm konnte Tschiang Kai-schek auf gar keinen Fall erfüllen. Und noch aus anderen Gründen eröffneten sich im Vergleich zur Revolution von 1925-1927 völlig neue Perspektiven. Die chinesische Bourgeoisie hatte sich nämlich in der ganzen Periode seit der gescheiterten Revolution in den 20er Jahren als unfähig erwiesen, die Probleme der bürgerlich-demokratischen Revolution zu lösen. Dazu gehörten die Einigung der Nation sowie der Kampf gegen die Beherrschung durch den ausländischen Imperialismus. Die Unfähigkeit, dieses Problem auch nur anzupacken, wurde deutlich im Krieg gegen die japanische Besatzungsmacht.

Die Lage in China war einerseits gekennzeichnet durch die Passivität der Arbeiterklasse und andererseits durch einen erbitterten Bauernkrieg, wie es ihn in den letzten 1000 Jahren der chinesischen Geschichte viele Male gegeben hat. International kam die Lähmung des Imperialismus durch die revolutionäre Nachkriegswelle hinzu. Alle diese Faktoren zusammen trieben die Ereignisse in eine neue Richtung. Bereits 1947 deutete die britische RCP in einem Dokument zur Lage in China an, welche Maßnahmen Mao im Falle eines Sieges im Bürgerkrieg ergreifen würde – und ein Sieg der Bauernarmeen Maos war unter den gegebenen Umständen unvermeidlich. Die Führer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verkündeten zu der Zeit selbst noch, China stünde eine 50-jährige Epoche »kapitalistischer Demokratie« bevor, sie waren ein Bündnis mit der sogenannten »nationalen Bourgeoisie« eingegangen.

Aber eine marxistische Analyse konnte eine solche Einschätzung nicht sehr ernst nehmen. Die Macht befand sich bereits in den Händen der chinesischen Roten Armee. Auf dieser Grundlage sagten wir voraus, dass Mao entsprechend dem Modell Osteuropa zwischen den verschiedenen Schichten und Klassen der Gesellschaft balancieren und einen Staat nach dem Vorbild der Sowjetunion errichten würde. Aber Mao würde da beginnen, wo Stalin aufgehört hatte, und nicht dort, wo Lenin angefangen hatte. China würde sich also von Anfang an zu einem bonapartistischen Arbeiterstaat entwickeln.

Das IS der VI und die Führer der chinesischen Sektion jedoch beharrten darauf, dass Mao vor dem Kapitalismus kapitulieren würde. Auch nach dem vollständigen Sieg der chinesischen Stalinisten erkannten sie dessen Bedeutung nicht und verkündeten, China sei – wie Osteuropa – »staatskapitalistisch«. Allerdings definierten sie diesen Begriff nicht genauer.

Auf der anderen Seite entdeckten sie großartige revolutionäre Perspektiven für China und Osteuropa. Mao würde nicht in der Lage sein, seine »kapitalistische Herrschaft« lange aufrechtzuerhalten. In Osteuropa befänden sich die »staatskapitalistischen« Regime in einem zugespitzten Krisenzustand, der zu ihrem Sturz führen würde. Sie verstanden nicht, dass – abgesehen von der Möglichkeit revolutionärer Ereignisse in den kapitalistischen Metropolen bzw. einer erfolgreichen politischen Revolution in Russland selbst – für mindestens ein oder zwei Jahrzehnte die bürokratischen Regime Osteuropas und Chinas fest im Sattel bleiben würden – bis die Arbeiterklasse zu neuem Selbstvertrauen erwachen würde; als dies aber offenbar nicht eingetreten war, ging einer der Führer der VI lange nach Beendigung des Krieges sogar so weit zu behaupten, der Krieg sei noch im Gange! Die anderen Führer hatten nichts Eiligeres zu tun, als zu erklären, der Ausbruch eines neuen Weltkriegs stünde unmittelbar bevor. Diese Prognose wiederholten sie seit 1945 praktisch jedes Jahr. Ein Atomkrieg würde schließlich den Sozialismus nach sich ziehen. Manche von ihnen (z.B. Posadas) verbreiten noch heute – wenn auch in verwässerter Form – diese Idee. Bei jeder Krise des Imperialismus oder zwischen Imperialismus und Sowjetbürokratie schreien sie wieder ihre altbekannte Botschaft vom drohenden Krieg in die Welt hinaus. Bis heute haben sie nicht verstanden, dass das Problem des Krieges in der modernen Epoche ein Problem des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ist, dass nur schwere, wiederholte Niederlagen des Proletariats in den wichtigsten kapitalistischen Ländern (besonders in den USA) den Weg für einen neuen Weltkrieg freimachen könnten.

Osteuropa und die stalinistischen Staaten

Die Fehleinschätzung der VI-Führung wurde immer durch den Gang der tatsächlichen Ereignisse deutlich gemacht; aber das IS versäumte es stets, seine Fehler zu verstehen und ihnen auf den Grund zu gehen. Die natürliche Folge davon war, dass es sich von seinen Misserfolgen einfach in die entgegengesetzte Richtung hin zu noch schlimmeren Fehlern stoßen ließ. Nachdem es China und Osteuropa zunächst als kapitalistische Staaten abgestempelt hatte, ging das IS jetzt in das andere Extrem über. In Jugoslawien, wo die nationale Bürokratie unter Tito mit der russischen Bürokratie in Konflikt gekommen war, entdeckten die Führer der VI jetzt plötzlich einen »relativ gesunden Arbeiterstaat«. Sie begriffen nicht die eigentliche Natur dieses Konflikts, n dem man Jugoslawien kritische Unterstützung hätte gewähren müssen, und begannen den »Helden« Tito zu verherrlichen. Sie erklärten, die neue Internationale könnte von jugoslawischem Boden aus wachsen.

Nachdem sie durch die Ereignisse zunächst gezwungen worden waren, die Charakterisierung Chinas von einem kapitalistischen in einen Arbeiterstaat zu verändern, gingen sie jetzt auch in diesem Fall so weit, China einen »relativ gesunden Arbeiterstaat« zu nennen. Dabei berücksichtigten sie in keiner Weise die Bedingungen, unter denen die chinesische Revolution sich entwickelt hatte: die unermessliche Rückständigkeit Chinas im Vergleich selbst zu Russland; die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in China keine unabhängige Rolle gespielt hatte und passiv geblieben war; weiterhin die Tatsache, dass die stalinistische Bürokratie in China Staat und Bevölkerung in einem noch festeren Griff hielt, als es selbst der russischen Bürokratie möglich war (der Hintergrund hierfür war die relativ progressive Rolle der Bürokratie bei der Entwicklung der Produktivkräfte, sowie die Stabilisierung des Kapitalismus und das Ausbleiben der sozialistischen Revolution in den westlichen Metropolen für die Dauer einer ganzen historischen Periode). Die Führer der Internationale schienen vergessen zu haben, dass eine sozialistische Revolution vor allem der bewussten Beteiligung der Arbeiterklasse an der Kontrolle und Verwaltung von Industrie und Staat bedarf. Davon konnte in China aber überhaupt nicht die Rede sein.

Aber bis zum heutigen Tag haben die Führer der VI dieses Problem nicht durchschaut. Weiterhin betrachten sie China und Jugoslawien als relativ gesunde Arbeiterstaaten, die lediglich einer Reform unterzogen werden müssten. Ähnlich wie der russische Staat in den Jahren 1917-1920 nur einer Reform bedurft hätte, um aus einem »relativ gesunden Arbeiterstaat« eine völlige Arbeiterdemokratie entstehen zu lassen. Die Notwendigkeit einer politischen Revolution, wie sie von Trotzki definiert und verstanden wurde, wird von ihnen für China wie auch für Jugoslawien verneint.1

Am Beispiel ihrer Einschätzung Jugoslawiens, die wir oben schon kurz dargestellt haben, kann man sich noch einmal detailliert vor Augen führen, zu welch abenteuerlichen theoretischen Widersprüchen die vom IS verwandten unsauberen Methoden zwangsläufig führen mussten. Nachdem sie Jugoslawien – genau wie die anderen Länder Osteuropas sowie China – einen staatskapitalistischen Charakter zuschrieben, ohne diese Einschätzung jemals vernünftig analysiert, definiert oder erklärt zu haben, vollführten sie anschließend einen theoretischen Salto. Und wieder bleiben sie eine Erklärung zu den Gründen dieser neuen, gegensätzlichen Beurteilung schuldig; sie ließen sich offenbar allein von oberflächlichen Erscheinungsformen leiten. Plötzlich, quasi über Nacht, wurde Tito für die VI zum Retter und Jugoslawien zu einem »relativ gesunden Arbeiterstaat« erklärt. Dabei waren es einzig und allein die eigennützigen Interessen der jugoslawischen Bürokratie, die zum Bruch mit Stalin geführt hatten. Dies hätte klargemacht werden müssen, während man andererseits durchaus mit kritischer Unterstützung den Versuch Jugoslawiens, sich der nationalen Unterdrückung durch die russische Bürokratie zu entziehen, gegenüberstehen musste. Statt dessen vergötterte das IS die jugoslawische Bürokratie.

Auf der anderen Seite hielten die Führer der Internationalen eine politische Revolution in der Sowjetunion nach wie vor für notwendig; der Grund hierfür war wohl einfach darin zu suchen, dass Trotzki dies gesagt hatte. (Isaac Deutscher, ehemals führendes Mitglied der polnischen KP, der sich zeitweise zu Trotzki hingezogen gefühlt hatte, gelangte wenigstens zu einer in sich geschlossenen – wenn auch falschen – Einschätzung der beiden Länder; er behauptete, dass auch in Russland eine politische Revolution nicht mehr notwendig war und dass durch »Entstalinisierung« die Bürokratie sich selbst abschaffen würde.)

Die (Schein-)Begründung für seine Haltung zu Jugoslawien lieferte das IS der VI mit der Feststellung, dort habe eine sozialistische Revolution schon während des Krieges und in der Nachkriegsperiode stattgefunden; also sei eine politische Revolution nicht mehr nötig. In Russland sei die sozialistische Revolution isoliert geblieben; die Revolution habe sich nicht auf weitere Länder ausgedehnt und deshalb habe sich dort der Stalinismus entwickeln können. Als die sozialistische Revolution dann im Verlauf und Gefolge des Zweiten Weltkriegs (angeblich) in Jugoslawien stattgefunden habe, sei sie nicht isoliert gewesen – wegen der Revolution, die in Russland schon vorher stattgefunden hatte. Also könne es dort auch keinen Entartungsprozess, ähnlich wie in der Sowjetunion, und somit keinen Stalinismus geben. Die triumphierende Schlussfolgerung war, dass Jugoslawien ein gesunder Arbeiterstaat mit nur geringfügigen Deformierungen sei. So einfach war die Sache. Und auf der Grundlage dieses theoretischen Unsinns ging die VI daran, internationale Arbeitsbrigaden zu organisieren, die helfen sollten, in Jugoslawien den Sozialismus aufzubauen.

Die diesbezügliche Propaganda war genauso unkritisch und voller Lobhudelei, wie es die stalinistische Propaganda gewesen war, die zur Entsendung von Jugendhilfsgruppen in die Sowjetunion aufgerufen hatte, um dort »den Sozialismus aufzubauen«. Die ganz Episode ist nur ein Beispiel für die Methoden des IS der VI. Genauso argumentierten Mandel & Co später hinsichtlich der sogenannten »Kulturrevolution« in China sowie im Falle Kubas. Entgegen der widersinnigen Behauptungen der VI-Führung konnte man unter Zugrundelegung einer gründlichen Analyse nur zu einem Ergebnis kommen: die stalinistische Bürokratie in Jugoslawien unterschied sich im Grundsätzlichen nicht von derjenigen in Russland. Die Tito-Clique begann dort, wo Stalin aufhörte, d.h. es gab zu keiner Zeit in Jugoslawien eine Arbeiterdemokratie wie in Russland nach der Revolution von 1917. Die Bewegung während des Krieges war hauptsächlich ein nationaler Befreiungskrieg der jugoslawischen Bauern. Der daraus hervorgegangene Staat war ein totalitäres Einparteienregime nach dem Vorbild Russlands, gesteuert von einem ausgewachsenen stalinistischen Apparat. Da Jugoslawien ein ausgesprochen rückständiges Land war, umfasste der neue stalinistische Staatsapparat auch erhebliche Überbleibsel der alten herrschenden Klasse, vor allem aus den Bereichen Diplomatie und der Armee. Auf jeden Fall also gleicht das jugoslawische Bild weitgehend demjenigen des stalinistischen Russland. Ohne die ständige und allumfassende Kontrolle einer Arbeiterdemokratie konnte überhaupt nicht die Rede sein von einem gesunden Arbeiterstaat.

In einer Wirtschaft, die eine Übergangsform zwischen Kapitalismus und Sozialismus darstellt, kann eine Bewegung hin zum Sozialismus einzig und allein durch die bewusste Kontrolle und allseitige Beteiligung der Arbeiter garantiert werden. Was Jugoslawien im Vergleich zur Sowjetunion betrifft, gilt eindeutig, dass gleiche Bedingungen und Ursachen notwendigerweise die gleichen Ergebnisse nach sich ziehen.

Abgesehen von zweitrangigen Besonderheiten, z.B. der sogenannten »Arbeiterselbstverwaltung« in den Betrieben, unterscheiden sich die grundlegenden Merkmale des jugoslawischen Regimes absolut nicht von denen Russlands. Und es war eine vollständige Abkehr vom Marxismus, das Gegenteil zu behaupten.

Bis zum heutigen Zeitpunkt hat keine der in der VI damals versammelten Tendenzen, die allesamt die obige Position damals vertraten, im Lichte der tatsächlichen Ereignisse ihre Einschätzung neu überdacht und korrigiert. Das gilt für Pablo, Posadas, Healy, Mandel und Cannon/Hansen ohne Ausnahme.2 Nach wie vor tauchen deshalb in ihren Schriften die seltsamsten und widersprüchlichsten Ideen in unmöglichen Kombinationen auf. So findet z.B. Healy keinerlei Widerspruch darin, Kuba als »Staatskapitalismus« zu charakterisieren, gleichzeitig aber die chinesische Kulturrevolution als sogenannte neue Version der Pariser Kommune zu feiern. Für die französische Tendenz »Voix Ouvrière« (Arbeiterstimme) – seit 1968 »Lutte Ouvrière« (Arbeiterkampf) die außerhalb der VI steht, ist Russland ein deformierter Arbeiterstaat, gleichzeitig aber sind Osteuropa, Jugoslawien und Kuba kapitalistisch; damit befindet sich die Tendenz immer noch auf der Position des IS der VI in den Jahren 1945-47; 25 Jahren voller lehrreicher politischer Ereignisse haben diese Leute völlig unbeeindruckt gelassen!

All diesen Tendenzen ist auch gemeinsam, dass sie Syrien und Birma fälschlicherweise als kapitalistische Staaten einschätzen. Und nach wie vor tappen sie im Dunkeln hinsichtlich der Frage ob nun in China oder Jugoslawien eine politische Revolution noch erforderlich ist oder nicht. Die Mehrheit von ihnen scheint sich zu der Einschätzung durchgerungen zu haben, dies seien »relativ gesunde Arbeiterstaaten«, die lediglich einer Reform, nicht aber einer Revolution bedürften.

Entwicklung in den stalinistischen Staaten

Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts hat die VI völlig ihre theoretische Verankerung verloren. Immer wieder ließen sich ihre Führer von der Entwicklung und von den Ereignissen überraschen. Sie reagierten rein empirisch und auf der Grundlage oberflächlicher Eindrücke. Damit waren sie dazu verurteilt, ständig der neuesten politischen Entwicklung hinterherzulaufen. Sie waren unfähig, die zukünftigen Geschehnisse sowie das zukünftige Verhalten politischer Kräfte und Gruppierungen korrekt vorauszusehen. Das gilt nicht nur im Falle Titos und Jugoslawiens, sondern hinsichtlich sämtlicher wichtiger Entwicklungen in den Ländern des stalinistischen Blocks. Zurückzuführen ist dieses Versagen auf ein mangelndes Verständnis des proletarischen Bonapartismus.

1956 entwickelte sich der Aufstand der ungarischen Arbeiter zu einem vollständigen Sturz der alten Bürokratie und dem Beginn einer allgemeinen politischen Revolution. Wenn sie sich nicht offen von jeglicher Verbindung mit der Tradition des Trotzkismus lossagen wollten, dann mussten die Führer der VI einfach diese Bewegung unterstützen. Dies taten sie dann auch; aber gleichzeitig ließen sie sich nicht davon abhalten, die Entwicklung in Polen (ebenfalls 1956) mit dem ungarischen Aufstand auf ein und dieselbe Ebene zu stellen. Sie sahen die entscheidenden Unterschiede nicht. In Ungarn gab es eine fast vollständige Zerschlagung der (sogenannten) Kommunistischen Partei sowie den Beginn der Organisierung einer neuen Arbeiterbewegung. Nach ihrer Erfahrung mit der stalinistischen Herrschaft waren die ungarischen Arbeiter während der Revolution nicht für einen Augenblick bereit, die Errichtung eines neuen totalitären stalinistischen Regimes zu dulden.

In Polen entwickelten sich die Ereignisse etwas anders. Die nationale Erhebung gegen die Beherrschung durch die übermächtige russische Bürokratie wurde von einer bestimmten Schicht (um Gomulka) innerhalb der polnischen Bürokratie bewusst und berechnend in nationale stalinistische Bahnen umgelenkt. Die Führer der VI begriffen das nicht und sahen in Gomulka, der sich kritischer als Dubček in der Tschechoslowakei gebärdete, den Verfechter eines »demokratischen Kommunismus«. Sie sahen nicht, dass Gomulka nur den Flügel der stalinistischen Bürokratie vertrat, der sich selbst zum »Herrn im eigenen Haus« – und damit relativ unabhängig von Moskau – machen wollte. Es war Mandel & Co nicht klar, dass zwischen diesen polnischen Kräften und dem reformistischen Flügel der russischen Bürokratie kein grundlegender Unterschied bestand. Trotz allem »demokratischen« Gerede wollten die Bürokraten um Gomulka genauso wenig wie Chruschtschow in Moskau zu den Traditionen der Oktoberrevolution von 1917 zurückkehren.

Kennzeichnend für die Kräfte um Gomulka war deshalb auch ganz besonders, dass sie sich dem Versuch entgegenstellten, in Ungarn eine sozialistische Demokratie zu errichten. Die mögliche politische Revolution wurde also – im Gegensatz zur ungarischen Entwicklung – in Polen in nationale stalinistische Bahnen umgeleitet. Wie ihre Brüder in Moskau hatten die polnischen Bürokraten nur ein Mittel zu ihrer Verfügung: sie konnten von scharfer Repression bei Bedarf auch einmal auf gemäßigte Reformen (oder dann auch wieder zurück auf verschärfte Repressionen) umschalten; dabei blieb jedoch stets der stalinistische Machtapparat völlig unangetastet. Aber die führenden Kräfte der VI sahen nichtsdestotrotz in Gomulka den Beginn einer vollständigen Veränderung der Situation in Polen verkörpert – genauso wie sie auch ungerechtfertigte Illusionen in die »Enstalinisierungspolitik« in der Sowjetunion hegten. In jeder Phase der Entwicklung hielten sie erneut Ausschau nach einer Art Messias, der sie aus der Isolation von der Massenbewegung befreien könnte. Aber jedes Mal waren sie wieder zu Enttäuschung und Desillusionierung verdammt. Sie gaben sich auch keineswegs damit zufrieden, dass sie sich bereits einmal am Maoismus die Finger verbrannt hatten. Der Bruch zwischen Russland und China, der für sie überraschend kam, war für die Anlass, ihre Illusionen in den Maoismus neu zu beleben. Erneut tischten sie die Idee auf, China sei ein gesunder Arbeiterstaat mit nur geringfügigen Mängeln, der nur einer Reform, nicht jedoch einer politischen Revolution bedurfte. Mao, der eine Zeitlang sogar von »Weltrevolution« sprach, sollte der neue Retter sein. Sie missverstanden die »Kulturrevolution« gründlich.

Trotzki hat einmal geschrieben, dass der proletarische Bonapartismus bisweilen sogar in der Lage war, sich auf die Arbeiter- und Bauernmassen zu stützen, um die Bürokratie von den übelsten Auswüchsen zu säubern und sie dadurch langfristig zu stärken und zu stabilisieren. Während der 5-Jahres-Pläne in Russland stützte sich auch Stalin vorübergehend in ähnlicher Weise auf die Arbeiter und Bauern; es gelang ihm sogar, unter den Arbeiten eine gewisse Begeisterung zu entfachen, weil diese von der Wichtigkeit ihrer Arbeit für den »sozialistischen Aufbau« überzeugt waren. Aber diese Tatsache ändert gar nichts am Charakter, an der Politik und an den Methoden des Stalinismus. Sie ändert nichts an der Natur der stalinistischen Herrschaft. Ebenso wenig veränderte die »Kulturrevolution« die grundlegenden Strukturen des chinesischen Staates. Einige Einzelpersonen oder sogar eine Schicht der Bürokratie zu Sündenböcken für alle Fehlentwicklung abzustempeln, hatte noch gar nichts mit einer Schwächung der bürokratischen Herrschaft insgesamt zu tun. Im Gegenteil, dieser Prozess verstärkte letztlich sogar diese Herrschaft.

Alles, was Mao tat, war, sich auf die Masse der Arbeiter zu stützen, um gezielte Schläge gegen einige Teile der Bürokratie zu führen. Diese hatten inzwischen Privilegien und materielle Vorteile in einem Maße angesammelt, das weit über die begrenzten Möglichkeiten der noch schwach entwickelten Produktivkräfte Chinas hinausging. Die Kluft, die sich dadurch zwischen den Arbeitern und Bauern einerseits sowie breiten Schichten der Bürokratie andererseits auftat, hatte sich dermaßen vergrößert, dass sie enorme Unzufriedenheit und Unruhe in der Bevölkerung auslöste.

Es erwies sich deshalb als immer dringender, diese Privilegien – wenn nur auch vorübergehend (und für Teile der Bürokratie) – einzuschränken; besonders dann, wenn man sich zum Ziel gesetzt hatte, die Arbeiter und Bauern zu neuen verstärkten Kraftanstrengungen in der Produktion (Schwerindustrie, Atomwaffen usw.) zu bewegen.

Der ganze Prozess der »Kulturrevolution« war von Anfang bis Ende von der Spitze der Bürokratie aus organisiert. Wenn man angesichts dessen in der VI von neuen Versionen der »Pariser Kommune« in Schanghai, Peking und anderen Städten Chinas sprach, so stellte dies eine Verächtlichmachung der großen Tradition der Kommune sowie der Russischen Revolution dar. Das unvermeidliche Ergebnis der chinesischen Ereignisse war dann auch eine Stärkung der Macht der chinesischen Bürokratie (auch in Polen hatte die Bewegung nur zur Ablösung der alten Bürokratenelite durch eine neue, stärkere Clique um Gomulka geführt. Für die chinesischen (wie für die polnischen) Massen lag in diesen Entwicklungen keinerlei Fortschritt, kein Ausweg. Aber die Suche nach Wundermitteln, durch deren Anwendung sich alle Probleme von allein lösen, war schon immer ein Symptom von kleinbürgerlichem Utopismus. Dieser von der VI praktizierte Utopismus ersetzt die marxistische Analyse durch hysterische Hoffnungen auf diese oder jene Tendenz, auf diese oder jene Einzelperson (z.B. Tito, Gomulka oder Mao).

Die Kapitulation der VI gegenüber verschiedenen Schattierungen des Stalinismus oder des Utopismus warf in jeder Phase der Entwicklung immer wieder den Aufbau einer lebensfähigen Bewegung zurück. So waren es z.B. in Italien die Trotzkisten bzw., um es genauer zu formulieren, die Führer der Trotzkisten, die tatkräftig beim Aufbau einer großen maoistischen Bewegung von 100.000 Mitgliedern mithalfen. Sie veröffentlichten in ihren überschwänglichen Begeisterung völlig unkritisch die Werke Maos in Italien und verteilten sie innerhalb der Kommunistischen Partei. Dadurch schufen sie die Grundlage für den Maoismus in Italien. Die Führer der Trotzkisten unternahmen besondere Reisen in die Schweiz, um sich bei der dortigen chinesischen Botschaft das »wertvolle« Material zu besorgen. Die Konsequenz dieser unkritischen Haltung gegenüber den Ideen des Maoismus war ernüchternd: aus den Reihen der von ihnen hofierten 100.000 Mitglieder zählenden maoistischen Bewegung gewannen die italienischen Trotzkisten so gut wie gar keine neuen Mitglieder für ihre eigene Organisation, im Gegenteil, sie verloren sogar noch Mitglieder an die Maoisten. Hierin erweist sich wieder einmal, dass besonders eine noch schwache Tendenz für theoretische Verirrung immer einen hohen Preis bezahlen muss. In diesem Fall waren auch nicht allein die verlorenen Mitglieder zu beklage, viel schlimmer sind die Verwirrung und Demoralisierung, die durch solche Erfahrungen in die Reihen der Mitgliedschaft gesät werden. Unter den gegebenen Umständen hätten die italienischen Trotzkisten sich völlig anders verhalten müssen: einerseits hätten sie der Basis der Kommunistischen Partei eine freundliche, diskussionsbereite Haltung entgegenbringen müssen – und zwar sowohl gegenüber denjenigen, die zum Maoismus tendieren, als auch denjenigen, die sich an der Sowjetunion ausrichteten. Gleichzeitig aber hätten sie nicht nur schärfste Kritik an der opportunistischen Haltung des Moskau-Flügels üben müssen, sondern genauso an der unmarxistischen und zynischen Position der Maoisten, angefangen bei den Führern in Peking.

Die koloniale Revolution – Algerien

Entmutigt durch ihre Misserfolge und ihre schlechte organisatorische Entwicklung – teilweise auf die schlechten objektiven Bedingungen der Nachkriegsperiode zurückzuführen, teilweise auf ihre falsche Politik – gaben die Führer der VI der Arbeiterklasse die Schuld an allem. Die Arbeiter im Westen seien durch den »spätkapitalistischen« Wohlstand »korrumpiert«, »verbürgerlicht« und »amerikanisiert« worden. Darauf jedenfalls liefen ihre Aussagen letztendlich hinaus. Außerdem deutete ihre gesamte Politik in der Folgezeit darauf hin, dass sie genau dies auch tatsächlich glaubten. Infolgedessen blieb ihnen denn auch nichts anderes übrig, als nach einem neuen Allheilmittel Ausschau zu halten, das der Internationale und der Arbeiterklasse neues Leben einhauchen könnte. Sie glaubten es Anfang der 60er Jahre in der kolonialen Revolution gefunden zu haben.

Die jüngsten Dokumente unserer Tendenz haben die Bedeutung der kolonialen Revolution und der in ihr stattfindenden Entwicklungen ausführlich erklärt. Es soll an dieser Stelle genügen zu sagen, dass der Aufruhr, in dem sich die sogenannte »Dritte Welt« befindet, seine Ursache in der absoluten Unfähigkeit des Kapitalismus und des Imperialismus hat, die Produktivkräfte in diesen Regionen in dem erforderlichen und möglichen Maße weiterzuentwickeln. Nun haben die Prozesse in diesen Ländern aber wegen der gegebenen internationalen Bedingungen, wegen der Existenz starker bonapartistischer Arbeiterstaaten und wegen es Kräfteverhältnisses zwischen dem Imperialismus und dem nicht-imperialistischen Ländern einen ganz besonders eigentümlichen Verlauf genommen. Und deshalb kommt es mehr denn je darauf an, mit unbeugsamer Entschlossenheit an den Ideen Trotzkis zur Frage der kolonialen Revolution festzuhalten. Insbesondere gilt es, in diesem Lichte die Lehren aus den Erfahrungen in China, Jugoslawien und Kuba zu ziehen und sich von den Einflüssen bürgerlich-nationalistischer, kleinbürgerlich-nationalistischer, stalinistischer und reformistischer Tendenzen freizuhalten.

Während des algerischen Unabhängigkeitskrieges gegen den französischen Kolonialismus orientierte das IS (nach 1963 VS) der VI seine Organisation auf eine fast bedingungslose Unterstützung der FLN (Nationale Befreiungsfront). diese Position war sicherlich noch angemessener als diejenige der in den fünfziger Jahren von der VI abgespaltenen Gruppen Lamberts (OCI = Organisation Communiste Internationaliste) und Healys (SLL/WRP, Socialist Labour League, ab 1975 Workers Revolutionary Party), die die MNA (Algerische Nationalbewegung) unterstützten – eine Bewegung, die zwar anfangs eine Position links von der FLN einnahm, aber als ein Instrument des französischen Imperialismus endete. Es war also durchaus wichtig, die FLN kritisch zu unterstützen; jedoch die ganze Arbeit der algerischen Sektion der VI der nationalistischen Bewegung unterzuordnen, konnte nur den Verlust der noch schwachen trotzkistischen Kräfte an den Nationalismus selbst zur Folge haben.

Es wäre für die algerischen Trotzkisten richtig gewesen, einerseits zwar den gerechten Kampf um nationale Unabhängigkeit voll zu unterstützen, andererseits aber gleichzeitig eine internationalistische Position aufrechtzuerhalten. Nur so konnte der nationale Unabhängigkeitskampf mit dem Kampf der französischen Arbeiterklasse verbunden und die Möglichkeit eines sozialistischen Algerien, verbunden mit einem sozialistischen Frankreich, geschaffen werden. Der Verrat der sozialdemokratischen und stalinistischen Organisationen in Frankreich an der Sache des algerischen Volkes war sicherlich die Ursache dafür, dass die algerische Revolution einen nationalistischen Charakter annahm. Aber das durfte für die VI noch lange kein Grund sein, selbst die Ideen des Marxismus-Leninismus in dieser Frage aufzugeben.

Es hätte ihren Führern klar sein müssen, dass es völlig unmöglich sein würde, in einem Land wie Algerien eine Arbeiterdemokratie aufzubauen – auch nach einem Sieg über die französische Besatzungsmacht, der als solcher schon einen gewaltigen Schritt nach vorn darstellen würde. Vielmehr konnte das Ergebnis des Befreiungskampfes nur entweder eine bürgerliche oder eine proletarische Version des Bonapartismus sein, denn das Land hatte kaum Industrie; seine Bevölkerung war durch den Krieg dezimiert; die Hälfte der Bevölkerung war arbeitslos; es gab keine starke, einheimische Arbeiterklasse; und vor allem gab es keine revolutionäre Partei der Klasse. Hinzu kam noch das Fehlen jeglicher Hilfe durch die französische oder die internationale Arbeiterklasse. All diese Faktoren zusammen schlossen eine wirkliche Lösung (im Sinne einer Arbeiterdemokratie) für das algerische Volk aus; was gelingen konnte, war die Beseitigung der imperialistischen Herrschaft.

Auf den von den französischen Gutsbesitzern verlassenen Gütern errichteten die landlosen Bauern und die Landarbeiter mit Billigung der FLN-Regierung demokratisch gewählte Kontrollräte. In diesen »Räten« sahen die Mandelisten eine Bestätigung ihrer Illusionen in die Möglichkeiten der algerischen Revolution. Dies zeigte jedoch nur ihr mangelndes theoretisches Verständnis auf. Wirkliche Arbeiterkontrolle kann einzig und allein von den Industriearbeitern ausgehen und praktiziert werden – und nicht etwa von den halb aus Bauern halb aus Landarbeitern gebildeten Vereinigungen, die nach der Flucht der französischen Gutsbesitzer die Kontrolle über das Agrarland übernommen hatten. Bestenfalls waren es primitive Formen von Kooperativen, aber nicht Beispiele für Arbeiterkontrolle und -verwaltung. Sie konnten nur vorübergehende Erscheinungen ohne wirkliche Zukunftsperspektive sein. Vorausgesetzt, dass sich die sozialistische Revolution nicht auf hochentwickelte Länder ausweitete, waren sie dazu verurteilt, eine interessante Besonderheit der sozialen Entwicklung zu bleiben; eine vorübergehende Randerscheinung, die Aufschluss gibt über das instinktive Streben des ländlichen Halbproletariat nach einer grundlegenden Verbesserung seiner Lage. Es hat schon in vielen Ländern zu Zeiten des Erwachen einer breiten Massenbewegung ähnliche Bewegungen gegeben.3 auch in Algerien gab es für die VI ein plötzliches Erwachen; der Putsch Boumediennes traf ihre Führer völlig unvorbereitet, obwohl diese oder eine ähnliche Entwicklung unvermeidlich war. In allen kolonialen Ländern, in denen der Kampf gegen die imperialistischen Beherrscher erfolgreich verlief, haben sich vergleichbare Prozesse abgespielt. Zwar errangen diese Länder ihre politische Unabhängigkeit, sie blieben aber wirtschaftlich von den Industrieländern abhängig. Natürlich stellt schon allein die Durchsetzung der politischen Unabhängigkeit für die kolonialen Völker einen riesigen Fortschritt dar. Auf der anderen Seite jedoch sind sie durch die imperialistische Herrschaft über die Weltmärkte einerseits, sowie die relative Stärke des stalinistischen Bonapartismus andererseits vor ganz neue, kaum zu bewältigende Probleme gestellt. Die einheimische Bourgeoisie ist völlig unfähig, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Aus diesem Grund haben in den früheren Kolonialgebieten Afrikas, den halbkolonialen Gebieten Lateinamerikas sowie in den meisten Ländern Asiens Militärdiktaturen und Polizeistaaten verschiedenster Form die Macht an sich gerissen. Die ständige Krise, der sich diese Regime gegenüber sahen, hat sie in die Richtung entweder eines proletarischen oder aber eines kapitalistischen Bonapartismus getrieben.

Das IS der VI hatte so zwar seine ganze Konzentration der kolonialen Revolution (in der Hoffnung auf eine Lösung seiner eigenen Probleme) zugewandt; trotzdem aber verstanden seine führenden Vertreter die Dialektik des Prozesses in diesen Ländern nicht. Die Entwicklung der Kolonialrevolution vollzog sich nämlich wegen der Verzögerung der Revolution im Westen (eingeschlossen USA und Japan) in einer verzerrten Form. Dabei spielte die Schwäche der echten marxistisch-leninistischen Kräfte, zurückzuführen auf die bereits früher beschriebenen historischen Faktoren, eine wichtige Rolle. dadurch wurde nämlich die Herausbildung aller möglichen staatlichen Abarten und Entartungen in der kolonialen Welt, die ansonsten reif für die sozialistische Revolution war, endgültig unvermeidlich.

Es wäre die Pflicht einer marxistischen Führung gewesen, den Prozess, der sich in der »Dritten Welt« abspielte, richtig einzuschätzen und auf dieser Grundlage den noch jungen und schwachen marxistischen Kräften eine vernünftige Orientierung zu geben. Aber trotz der Lehren, die Trotzki aus den Erfahrungen der kommunistischen Partei Chinas mit der Kuomintang gezogen hatte, trotz der reichen Erfahrungen, die die Entwicklung in Jugoslawien, China, Russland und in den Ländern Afrikas geliefert hatten, trotz alledem versäumte das VS der VI es, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Seine führenden Vertreter erstarrten in Ehrfurcht vor der mächtigen Kolonialrevolution. Natürlich ist es immer besser, an einer wichtigen Bewegung mitzuwirken (um sie beeinflussen zu können), als vor ihr in bloßer Verneinung und Opposition abseits zu stehen. das aber durfte niemals heißen, sich mit den kleinbürgerlich-nationalistischen Kräften der kolonialen Länder sozusagen zu verschmelzen und dabei seine eigene revolutionäre Identität vollständig aufzugeben. Indem man vor den unrealistischen Wunschvorstellungen der dortigen Mittelklassen kapitulierte, setzte man gleichzeitig die revolutionäre Avantgarde dem ansteckenden Einfluss des Nationalismus aus.

Guerillaismus und Marxismus

In diesem kleinbürgerlichen Milieu und wegen des noch größeren Misskredits und Bankrotts der Kommunistischen Partei und der Reformisten in Lateinamerika hat sich das Programm der Guerilla auf dem Lande und, schlimmer noch, der »Stadtguerilla« entwickelt. Junge, schwache Kräfte des Trotzkismus, verwirrt durch die Zickzacks seit 1945, wurden in diesen Wirrwarr hineingezogen. Ihre wichtigste Aufgabe aber wir und bleibt, alle fortgeschrittenen Kräfte unter den Intellektuellen, Studierenden und vor allem der Arbeiterklasse die fundamentalen Ideen de Marxismus zu lehren. Sie sollten klar sagen, dass die Bewegung für nationale und soziale Befreiung in Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile, Guatemala und den anderen Ländern Lateinamerikas nur aus einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und der Bauern entstehen kann. Sie sollten davor warnen, dass verzweifelte Zweikämpfe, Entführungen, Banküberfälle usw. nur sinnlos die jungen Kräfte ausrotten werden. Sie sollten nicht auf sich allein gestellt den Kampf mit der herrschenden Klasse ausfechten, mit der Armee und der Geheimpolizei. Es scheint schwerer zu sein und in gewissem Sinne ist es auch schwerer – aber nur, indem man vor allem die Arbeiterklasse im Kampf für nationale und soziale Befreiung organisiert, kann eine sozialistische Revolution zum Erfolg kommen und sich auch gesund entwickeln. Aufgrund der Vielfalt der historischen Faktoren und der eigentümlichen Beziehung der Klassenkräfte zueinander auf Weltebene kann es theoretisch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Guerillakrieg der Bauern erfolgreich sein könnte, doch wäre das Ergebnis bestenfalls ähnlich dem in China und auf Kuba. Eine Massenbewegung des Proletariats ist in den Ländern Lateinamerikas durchaus möglich. Die Generalstreiks in Chile, Peru, Bolivien, Argentinien sind ein Beweis für die potentielle Stärke der Arbeiterklasse. Eine revolutionäre marxistische Tendenz muss mit der Perspektive aufgebaut werden, dass eine gut vorbereitete Massenerhebung – als Höhepunkt der Bewegung in den Städten – zum Sieg der sozialistischen Revolution führen kann. Sie würde sich unter diesen Bedingungen über ganz Lateinamerika ausbreiten. Die Kader des Proletariats würden entsprechend ausgebildet werden, um nicht dem Beispiel der chinesischen, kubanischen und jugoslawischen Revolution zu folgen, sondern dem Beispiel Russlands von 1917. Marx’ Vorstellung von der proletarischen Revolution in den Städten mit dem Rückhalt des Kampfes der Bauern muss das Ziel sein, für das sie arbeiten. Die Hauptaufgabe in diesen Ländern ist, geduldig die Aktivisten von der führenden Rolle des Proletariat im Kampf um die Arbeitermacht und den Sozialismus zu überzeugen. Nicht die Stadtguerilla, sondern die bewaffnete und organisierte Masse der Arbeiterklasse muss dem kapitalistischen Staat entgegengestellt werden – dies gilt auch in den Militär- und Polizeidiktaturen Lateinamerikas.

Jene selbsternannten »Marxisten« verkehren die Lehren des Marxismus. Se übernehmen die Politik der Narodniki, »Volkstümler« und Sozialrevolutionäre in Russland. Für Bakunin waren die Bauern und das Lumpenproletariat die revolutionärsten Klassen der Gesellschaft. Dazu gehörte auch die Idee der individuellen Propaganda durch die Tat, das heißt durch Terror und individuelle Enteignungen.

Sobald es von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt ist, wird sich das Proletariat auch die nötigen Waffen besorgen. Die Armee, die hauptsächlich aus Bauern besteht, würde sich angesichts der Massenbewegung spalten und zum größten Teil auf die Seite der Revolution übergehen. Die Bauernarmee könnte mit dem Programm der Agrarrevolution und der nationalen Revolution gegen den Imperialismus gewonnen werden.

Gegen die Methoden und die Politik des Anarchismus muss unversöhnlich gekämpft werden. Die sogenannten Trotzkisten der Vierten Internationale haben das Ideengut der Feinde des Marxismus übernommen, statt der klaren Klassenanalyse, die ihre Wurzeln in den Jahrhunderten des Klassenkampfes und der nationalen Befreiungsbewegungen hat. Es liegt nicht in der Tradition des Marxismus, eine Bauernbewegung, losgelöst von der Bewegung der Arbeiterklasse, die entscheidend ist, zu fördern. Natürlich müssen immer auch andere unterdrückte Klassen in ihrem Kampf unterstützt werden, aber de Anstrengungen der Marxisten konzentrieren sich weitgehend auf die Städte und das Proletariat.

Angesichts der Erfahrung der letzten 30 Jahre scheinen die Argumente für den Bauernkrieg immerhin nicht völlig sinnlos. Aber selbst in diesem Fall liegt die Aufgabe der Marxisten nicht allein im Sturz der kapitalistischen Herrschaft, sondern auch darin, den Weg für die sozialistische Zukunft zu bahnen. Die Zerstörung des Kapitalismus und Großgrundbesitz in der sogenannten »Dritten Welt« ist ein enormer Fortschritt für die ganze Menschheit. Aber gerade weil die Bauernschaft als Klasse den zukünftigen sozialistischen Aufgaben nicht gewachsen ist, kann sie letztlich nur neue Hindernisse auf dem Weg dorthin errichten.

Der Sieg eines Bauern-Guerillakrieges kann unter dem jetzigen weltweiten Kräfteverhältnis und der Krise des Kapitalismus und Imperialismus in den unterentwickelten Ländern einen deformierten Arbeiterstaat zum Ergebnis haben. Er kann aber nicht zur bewussten Kontrolle über Industrie, Landwirtschaft und Staat durch die Arbeiter und Bauern führen, weil in den ehemals kolonialen und halbkolonialen Ländern – national betrachtet – die materielle Basis für den Sozialismus nicht vorhanden ist. falls diese oben beschriebene Entwicklung eintritt, so liegt das an der Reife der Produktivkräfte für den Sozialismus auf Weltebene. Denn weltweit sind die notwendigen Technologien, Produktionskapazitäten und Reserven vorhanden. Dies macht nicht nur eine gesunde Arbeiterdemokratie in den Kolonialgebieten möglich, – jedoch nur im internationalen Zusammenhang – sondern auch die Entartung in China, Jugoslawien und Kuba usw. wie wir sie heute vorfinden. Für den »Rückfall« in eine stalinistische Diktatur durch eine privilegierte und von Basiskontrolle unabhängige Elite müssen die Arbeiter und Bauern in jedem Fall mit einer neuen politischen Revolution zahlen, bevor der Staat und die Zwangsherrschaft absterben können.

Die Verbeugung vor Theorien, die dem Marxismus fremd sind, und das Verwässern der Ideen der Permanenten Revolution bedeuten in Lateinamerika ein Aufgeben des Marxismus-Leninismus und seiner Tradition. Wenn man dort, wie auch in Asien und Afrika, unter so schwierigen Bedingungen nicht die Grundideen des Marxismus aufrechterhält, verliert man sich im kleinbürgerlichen Nationalismus, anarchistischen Utopismus, stalinistischen Zynismus und verliert das Vertrauen in die Kraft des Proletariats. Vor allem verlässt man die Perspektive der Weltrevolution, auf die unser marxistischer Internationalismus sich gründet; man verlässt das Programm des Trotzkismus.

Das lateinamerikanische Proletariat, besonders in Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay und Mexiko ist stark genug, unumstritten die führende Rolle in der Revolution zu spielen. Hier müssen die Kräfte des Marxismus konzentriert werden. Intellektuelle und Studierende, die sich von ihren Mittelschichttraditionen lossagen und die Ausweglosigkeit des Kapitalismus und Imperialismus verstehen, müssen in diesem Geist ausgebildet werden. Nur in ideologischen Auseinandersetzungen mit allen anderen Tendenzen kann der Trotzkismus die nötigen Kader – vor allem unter den fortgeschrittenen Arbeiter – darauf vorbereiten, die Revolution zu Ende zu führen.

Vor allen Dingen muss die ernsthafte Kritik der bürokratischen Entwicklung in Kuba ein wesentlicher Teil des ideologischen Wiederaufbaus der revolutionären Kräfte in Lateinamerika werden. Es müssen sowohl die Errungenschaften der kubanischen Revolution verteidigt und ihre positiven Seiten hervorgehoben werden als auch deren negative Gesichtspunkte der fortgeschrittenen Arbeiter und der Jugend klargemacht werden. Nur so kann die kindische linke Phrasendrescherei des Castroismus in Lateinamerika erfolgreich bekämpft werden.

Massenpartei, Entrismus, Arbeitsmethoden

Die politische Linie des Vereinigten Sekretariats zum Problem des Entrismus basiert ebenso wenig auf festen Grundsätzen wie die anderen Teile ihrer Ideologie. In England warfen sie die Frage des Entrismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf, weil eine Krise herrschte und es innerhalb der Labour Party einen starken und sich entwickelnden linken Flügel gebe. Entgegen Trotzkis Konzept, die fortschrittlichen Elemente aufgrund fester politischer Grundsätze zu gewinnen, übernahmen sie die Politik, fortschrittliche Elemente ohne unnachgiebiges politisches Programm zu gewinnen. Mit der Begründung, dass die Massen oder gar die Aktivisten die reine Politik des Marxismus in einer wirtschaftlichen Aufschwungphase nicht akzeptieren würden, verwässerten sie ihr Programm, um sich den linksreformistischen Führern anpassen zu können.

Sie nannten diese Politik »tiefen Entrismus«. Obwohl sie objektive und subjektive Faktoren vermengten und in keiner Weise dem Bewusstwerdungsprozess der Massen Rechnung trugen, erklärten sie ihren Mitgliedern, dass sie den linken Flügel organisieren würden. Der verzweifelte Versuch einer verschwindend kleinen Gruppe, durch Verkleidung und Verdeckung ihres wahren Gesichts den breiten linksreformistischen Flügel um sich zu scharen und ihn sogar von der Richtigkeit ihrer bestehende Vorurteile zu überzeugen, war grotesk und zum Scheitern verurteilt. Wenn es darum ginge, eine Bewegung ausschließlich mit Tricks, Manövern und Taktieren zu organisieren, denn wäre die stalinistische Perversion des Marxismus die richtige.

Selbst wenn man die falsche Linie außer Acht lässt und eine korrekte Strategie, Politik und Taktik annimmt, hängt die Entwicklung des Massenbewusstseins nicht von willkürlichen Entscheidungen politischer Gruppen ab. Sie folgt ihren eigenen Gesetzen, die von Erfahrungen und Ereignissen abhängen. Ihr (teilweise erfolgreicher) Versuch, sich als Linksreformisten auszugeben, führte dazu, dass sie tatsächlich in großem Ausmaß zu »Linksreformisten« wurden. Auf lange Sicht ist eine solche Politik verhängnisvoll und legt den Keim für ein Umschlagen in Richtung »ultralinks« – beides hat seinen Ursprung in der Unfähigkeit, Prinzipien durchzuhalten, sowie gleichzeitig die objektive Situation richtig einzuschätzen und sie mit den subjektiven Faktoren in Einklang zu bringen. Natürlich werden die Ereignisse an sich nicht das Organisationsproblem lösen, und eine Organisation kann nur dann gedeihen, wenn sie objektive Prozesse versteht und dabei aktiv mitwirkt, wenn die fortgeschrittenen Arbeiter im Kampf Bewusstsein entwickeln. Als Massentendenz wird der linke Flügel sich zunächst auf linksreformistischer und zentristischer Grundlage entwickeln. Die revolutionären Kräfte können eine kritisch-solidarische Rolle beim Aufbau des linken Flügels spielen. doch in der Massenbewegung werden erst einmal Linksreformisten und Zentristen an die Spitze geraten. Im frühen Stadium werden sie unvermeidlich die Führung stellen und erst nach vielen Prüfungen durch die Praxis und damit verbundenen marxistischer Kritik werden sie durch marxistische Kader ersetzt.

Bis zum heutigen Tage haben die Führer der VI nicht das ABC dieser Frage verstanden. In England sagten sie in der Nachkriegsperiode jedes Jahr den sofortigen Weltkrieg voraus. Sie plapperten die opportunistische Propaganda der Labour-Führer in den Wahlen von 1951 nach und behaupteten, dass der Sieg Churchills Krieg bedeuten würde. Als ob Krieg und Frieden allein von der Laune eines Individuums abhängen würden. Ebenfalls 1951 erklärten sie, dass es sich in England innerhalb von 12 Monaten entscheiden würde, ob es Sozialismus oder Faschismus gäbe. Dies ist jedoch nicht eine Frage, die zu einem bestimmten Moment von der herrschenden Klasse beschlossen wird, sie wie man beschließt, mit dem Auto statt mit dem Zug zu fahren; vielmehr ist es eine Frage des Kräfteverhältnisses in der Mittelschicht, der Arbeiterklasse und der herrschenden Klasse.

Nicht nur in England, wo sie niemals die Lehren aus ihren Erfahrungen zogen, sondern überall, wo sie ihre Erfahrungen anwandten, haben sie schrecklich gegenüber den selbst gesetzten Zielen versagt. Das lag an dem langen wirtschaftlichen Aufschwung der größeren kapitalistischen Länder, der in der Nachkriegszeit zu einer Erneuerung der Sozialdemokratie in Ländern wie der BRD und England sowie des Stalinismus in Ländern wie Frankreich und Italien führte. Wegen ihrer theoretischen Ausweglosigkeit und wegen der objektiven Situation entwickelte das VS eine Theorie des generellen Entrismus in der Sozialdemokratie oder der KP, je nachdem, welche stärker war. Dies war unter den gegebenen Bedingungen die korrekte Taktik. doch leider waren sie in der Durchführung ihrer Taktik durch und durch opportunistisch. In den KPs in Frankreich und Italien passten sie sich dem Stalinismus an, ohne eine feste, revolutionäre, leninistische Position zu beziehen. Selbst unter schwierigen Bedingungen hätte es möglich gewesen sei müssen, die Politik der jeweiligen Parteiführung der Politik von Marx und Engels gegenüberzustellen. Als Folge ihres Opportunismus erzielten sie in Frankreich und Italien keine großen Gewinne und verließen die KP mit der gleichen Anzahl wie beim Eintritt. Wie immer verfolgten sie einen Zickzackkurs zwischen opportunistischer Anpassung an die Führung und einer ultralinken Position gegenüber der KP und blockierten sich so den Weg zur Basis.

In den sozialdemokratischen Parteien unterwarfen sie sich dem Linksreformismus, so in der BRD, England, Holland und Belgien. Dies konnte zu nichts führen, so verabschiedeten sie 1967 tatsächlich eine Resolution, dass diese Parteien als Arbeitermassenparteien nicht mehr existierten, und nahmen ihnen gegenüber eine ultralinke Position ein. Doch leider behielten die KPs in Frankreich und Italien und die Sozialdemokratie in anderen Ländern immer noch die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse, und so bemerkte man weder das Missfallen dieser Ultralinken noch die Tatsache, dass sie gegangen waren.

Keynesianismus statt Marxismus

Ihre ultralinke Wendung 1967 war nicht die erste in ihrer Nachkriegsgeschichte. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg machten sie sich in praktisch allen Fragen einer ultralinken Haltung schuldig. Sie leugneten die Möglichkeit eines Wirtschaftsaufschwungs des Nachkriegskapitalismus, der jedoch aufgrund der Politik des Stalinismus und Reformismus unvermeidlich geworden war, weil diese die politischen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben des Kapitalismus schufen: sie behaupteten 1946/47, dass die Wirtschaft der kapitalistischen Länder nicht wiederhergestellt werden könnte. Wir standen angeblich vor der Nachkriegskrise, aus der der Kapitalismus keinen Ausweg finden konnte. Sie verspotteten uns, wenn wir Lenin zitierten, um klarzumachen, dass der Kapitalismus immer einen Ausweg findet, wenn er nicht gestürzt wird. Als ihre Behauptungen durch die Ereignisse nach 1948 widerlegt wurden, dozierten sie feierlich »marxistisch« dass es eine obere Grenze der Produktion gebe, einen höchsten Grad, den der Kapitalismus in der Vorkriegszeit erreicht hätte und nicht mehr überschreiten könnte. Zum Kummer unserer selbsternannten marxistischen Ökonomen wurde diese oberste Grenze schon Anfang der fünfziger Jahre durch den Aufschwung der Weltwirtschaft gesprengt.

Sie behaupteten 1949, es sei dem amerikanischen Imperialismus unmöglich, seinen Rivalen Hilfe zu gewähren. Wie könnte Amerika seine Rivalen hochpäppeln, lachten sie ironisch, sind die Kapitalisten etwa Menschenfreunde, die ihre Konkurrenten unterstützen? Mit anderen Worten: sie hatten nicht die leiseste Ahnung vom Verhältnis zwischen den Klassen und Nationen, vom Kräfteverhältnis zwischen Russland und Amerika. Ihre wirtschaftliche Analyse zu dieser Zeit lag auf dem Niveau der Stalinisten der »Dritten Periode« hinsichtlich der Einschätzung des Kapitalismus in den 30er Jahren.

Neue Perioden, neue Götter. Anfang der sechziger Jahre, als Folge der empirischen Zerstörung ihrer ungehobelten »Theorien« schlugen sie nun einen neuen Purzelbaum. Ihre Analyse sei nicht etwa falsch gewesen, sondern der Kapitalismus habe sich offensichtlich gewandelt. Insgeheim glaubten sie, dass die marxistische Analyse kapitalistischer Wirtschaftskrisen nicht mehr relevant sei. Obwohl sie sich nicht trauten, dies offen zu erklären, aus Angst davor, als Revisionisten bezeichnet zu werden, akzeptierten sie dennoch die grundlegenden Aussagen des Keynesianismus, dass eine Krise durch staatliche Eingriffe und Defizitfinanzierung verhindert werden könne. Dies kann nachgewiesen werden, wenn man auf ihre hauptsächlichen ökonomischen Dokumente über zwei Jahrzehnte hinweg verweist. Klar geht es aus ihrem Weltkonferenzdokument von 1965 hervor, »Die Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa und die Aufgaben der revolutionären Marxisten«. wir zitieren:

„Wenn dieser Boom sich 1965 und in der ersten Hälfte 1966 fortsetzt, ist es wahrscheinlich, dass keine allgemeine Rezession in Westeuropa stattfinden wird. Wenn dagegen in den USA 1965 oder Anfang 1966 eine Rezession ausbricht, ist es wahrscheinlich, dass dies mit einer allgemeinen Rezession in Westeuropa zusammentreffen würde und dass zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die wirtschaftlichen Zyklen aller wichtigen kapitalistischen Länder gleichlaufen würden. Jedoch sogar im letzteren Fall würde es nur eine Rezession sein und nicht eine ernstliche wirtschaftliche Krise wie die von 1929 oder 1938. Der Grund dafür, wie schon in den früheren Dokumenten der Internationale weitläufig dargestellt, ist die Möglichkeit des Imperialismus, Krisen zu »amortisieren«, indem er die Staatsausgaben erhöht auf Kosten ständiger Kaufkraftminderung des Geldes“ (S. 3).

Heute wird diese Position sogar von den ernsthaften bürgerlichen Ökonomen zurückgewiesen. Das VS erklärte die Entwicklung des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht auf der politischen Linie unserer Dokumente, im Gegenteil, sie gaben dem Druck bürgerlicher »Theoretiker« nach. auch zu dieser Frage werden sie ihre Position ändern, jetzt, da diese Ideen völlig in Misskredit geraten sind. sie wurden von den wirtschaftlichen Ereignissen völlig überrascht und passten sich in der Folge allen Strömungen der Sozialdemokratie, des Stalinismus und sogar bürgerlichen Ideenströmungen völlig eklektisch4 an und gaben dies als marxistische Theorie aus.

Die Probleme des Krieges

In unseren Nachkriegsdokumenten hatten wir erklärt, dass weder ein Weltkrieg der Imperialisten untereinander drohe noch ein sofortiger Weltkrieg gegen die Sowjetunion. Der Grund für diese Prognose war die internationale revolutionäre Welle im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Die Bourgeoisie in Westeuropa konnte ihre Position nur festigen durch das Zugeständnis demokratischer Rechte. Die daraus folgende Stärkung mächtiger Massenorganisationen der Arbeiterklasse bedeutet, dass die politischen Voraussetzungen für einen Angriff auf die Sowjetunion oder die chinesische Revolution fehlten. Gleichzeitig – innerhalb einiger Jahre nach Ende des Weltkriegs – hatte sich wegen des verstärkten Abzugs anglo-amerikanischer Truppen auf Druck der in Europa stationierten Soldaten und der Bevölkerung in den Heimatländern – das Kräfteverhältnis in Bezug auf konventionelle Streitkräfte in Europa drastisch zugunsten der Sowjetunion verändert. Mit 200 einsatzbereiten Divisionen gegenüber etwas mehr als einem Viertel davon in den Händen der Westmächte würden die Russen im Falle eines konventionellen Krieges in Europa schneller vorwärts dringen als Hitler damals in Frankreich. Zweifellos würden sie ganz Westeuropa besetzen. Mit einer erdrückenden Übermacht an Panzern, Flugzeugen und Kanonen könnten sie die Streitkräfte, die den Westmächten zur Verfügung stehen, innerhalb von Tagen in Deutschland und innerhalb von Wochen in Frankreich zurückgedrängt und vernichtend geschlagen werden.

In Asien ist China die größte Militärmacht auf dem Festland und hier könnten in einem revolutionären oder halbrevolutionären Krieg die chinesischen Streitkräfte Asien einnehmen, indem sie die Bauern für sich gewinnen.

Dementsprechend hatte sich das weltweite Kräfteverhältnis entscheidend zuungunsten des Imperialismus verändert. Da sie nichts in der Schule Lenins und Trotzkis gelernt hatten, konnten sie die Strategen des Vereinigten Sekretariats nur ständig die Binsenwahrheit wiederholen, dass »Kapitalismus Krieg bedeutet«. Aber diese Formel erklärt nicht, wie, wann, unter welchen Bedingungen ein Krieg ausbrechen würde. als Leitlinie für Strategie und Taktik sagt sie uns gar nichts. Besonders in der heutigen Zeit ist Krieg nicht nur eine Frage des Verhältnisses der Klassen zueinander. Erst nach einer blutigen und endgültigen Abrechnung mit den Arbeitern wäre ein Weltkrieg möglich. Die Niederlage der Arbeiter in Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien, die die Zerstörung ihrer Organisationen durch den Faschismus ebnete den Weg für den Zweiten Weltkrieg. Seitdem ist jedoch die Macht der Arbeiter ungeheuer angewachsen und die Imperialisten müssen dementsprechend auf der Hut sein. Es trifft zu, dass örtlich begrenzte Kriege gegen die Kolonialrevolution und zwischen kleineren Mächten jedes Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben. Ähnlich gab es nach dem Ersten Weltkrieg jedes Jahr einen Krieg bis zum abschließenden Inferno 1939.

Zusätzlich zu allen anderen Faktoren gibt es das Problem nuklearer und anderer schrecklicher Vernichtungsmechanismen. Die Kapitalisten stürzen sich aber nicht in einen Krieg um des Krieges willen, sondern um Macht, Einkünfte und Profit auszudehnen. Die Absicht im Krieg ist nicht, den Feind zu vernichten, sondern ihn zu besiegen. Den Feind zu zerstören oder selbst zerstört zu werden, ist kein Gewinn. die Arbeiterklasse zu zerstören, was ein Atomkrieg bedeuten würde, hieße die Gans töten, die die goldenen Eier legt. Gegenseitige Ausrottung würde auch die Ausrottung der herrschenden Klasse bedeuten. Nur totalitäre faschistische Regimes, völlig verzweifelt und aus dem Lot geraten, würden diesen Weg wählen. Und hier wiederum ist es eine Frage des Klassenkampfes. Die Bourgeoisie wird ihr Schicksal nicht leichtfertig neuen diktatorischen Wahnsinnigen wie Mussolini oder Hitler überlassen. auf jeden Fall müssten sie der Arbeiterklasse eine blutige Niederlage bereiten, bevor sie das tun könnten.

Wenn man vor diesem Hintergrund trotzdem mit der Perspektive des Weltkriegs arbeitet, bedeutet das nicht nur Mangel an Verständnis für die vielfältigen beteiligten sozialen und militärischen Kräfte, sondern es ist auch Ausdruck eines zutiefst pessimistischen Programms. sich vorzustellen, dass Krieg die Problem der sozialistischen Revolution lösen würde, bedeutet, so leichtfertig zu sein wie die Stalinisten in Deutschland, die glaubten, die Machtergreifung der Faschisten würde dem Sozialismus den Weg ebnen. In Wahrheit würde der Ausbruch eines Weltkriegs eine entscheidende Niederlage der Arbeiterklasse anzeigen. Ein Atomkrieg würde höchstwahrscheinlich die gegenseitige Ausrottung von Ländern und Klassen bedeuten. Im günstigsten Fall könnt es ein paar Überlebenden gelingen, eine Art Sklavenstaat zu schaffen und von neuem die notwendige Entwicklung der Produktivkräfte zu beginnen, die neben dem Vorhandensein einer Arbeiterklasse absolut notwendige Voraussetzung für den Sozialismus ist. Alle Tendenzen, die sich als Trotzkisten verstehen, hatten in der Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre die Perspektive des nuklearen Weltkrieges. Die Posadisten machten sogar aus der Not eine Tugend und sahen im Krieg eine willkommene Gelegenheit, sich der herrschenden Klasse zu entledigen und mit den Volksmassen neu anzufangen. Sie waren nicht in der Lage, die Interessenwidersprüche zu sehen, die unter den Imperialisten herrschen. Die westeuropäischen Mächte waren nicht am Sieg eines idealen Kapitalismus oder des amerikanischen Imperialismus interessiert, sondern an der Durchsetzung ihrer eigenen althergebrachten Interessen. Ein Weltkrieg würde bestenfalls die Zerstörung Westeuropas bedeuten, so wie Korea und Vietnam von amerikanischen Bomben zerstört wurden. Deshalb hatten diese imperialistischen Mächte kein Interesse an einem Krieg, den sie nicht gewinnen konnten, der auf ihrem Territorium ausgefochten würde und der sogar im günstigsten Fall nur dem Nutzen des amerikanischen Imperialismus dienen würde.

Ein konventioneller Krieg wäre für die Amerikaner eine entmutigende Aussicht. In Calais zu beginnen und sich durch den Kontinent nach Kalkutta, Schanghai und Wladiwostok durchzuarbeiten, wäre eine unlösbare Aufgabe. Ein Atomkrieg würde erstmals bedeuten: Krieg auf amerikanischem Boden. Es würde Zerstörung ihrer Heimatbasis bedeuten – der Städte und der Industrie Amerikas. Deshalb war das Motto »Kriegsrevolution« nicht nur reaktionär, sondern auch eine Utopie. Die Position der Posadas-Tendenz zeigte völlige Ahnungslosigkeit gegenüber den realen sozialen Faktoren in Bezug auf den Krieg, ein Problem, das sie bis heute nicht verstanden haben. Bei jeder Krise, jedem Konflikt zwischen dem Imperialismus und der Sowjetunion erhoben sie das Geheul von der »drohenden Apokalypse«. Trotz aller Interessenkonflikte zwischen den Supermächten waren tatsächlich sowohl Korea- und Vietnamkrieg als auch die anderen Kriege der Nachkriegsgeschichte örtlich und auch sonst begrenzt, durch ein überlegtes Arrangement zwischen dem Imperialismus und den chinesischen und russischen Bürokratien. Während der ganzen Periode befand sich der Imperialismus in der Defensive gegen Vorstöße der Kolonialrevolution und gegen die militärische, industrielle und strategische Stärke der Sowjetunion und der Sowjetbürokratie.

Lateinamerika – Kuba

Dass ihr Ansatz mit einer marxistischen Vorgehensweise auch gar nichts zu tun hat, dies zeigt sich in ihrer Haltung zur kubanischen Revolution. Die kubanische Revolution, sagen sie, sei ein Beispiel marxistischer Methode. In Wahrheit wurde Castros Armee um ein bürgerlich-demokratisches Programm gesammelt und bestand hauptsächlich aus Landarbeitern, Bauern und Lumpenproletariern. Castro begann als bürgerlicher Demokrat, und sein Vorbild für eine Gesellschaft waren die Vereinigten Staaten.

Die Arbeiterklasse griff im letzten Stadium des Kampfes ein, als Castro auf Havanna marschierte – die Arbeiter riefen zu seiner Unterstützung einen Generalstreik aus. Der Fall Havannas bedeutete den Zusammenbruch der verhassten Armee und Polizei des Batista-Regimes. Castros Guerillas hatten die Macht fest in der Hand. Die Entwicklung der Castro-Herrschaft in Richtung auf die Zerstörung des Kapitalismus und des Großgrundbesitzes fand nicht als Ergebnis eines durchdachten, bewussten Prozesses statt. Im Gegenteil, es waren die Fehler des amerikanischen Imperialismus, die Castro auf den Weg der Enteignung drängten.

Zu einer Zeit, da Castro lediglich bürgerlich-demokratische Reformen durchführte, verhängte die amerikanische herrschende Klasse eine Blockade über Kuba, dessen Wirtschaft zu 90% amerikanischen Kapitalisten gehörte. Die Monopole, die Kuba kontrollierten, weigerten sich, die Steuern zu zahlen, die Castro erheben wollte, um das Geld für die Reformen zu bekommen. Obwohl diese Steuern immer noch niedriger waren als die, die sie auf dem amerikanischen Festland bezahlten, erhoben sie wütend Einspruch und wandten sich an Washington um Unterstützung. Als Vergeltung für die Blockade verstaatlichte das kubanische Regime die amerikanischen Besitzungen auf Kuba. Dies bedeutete, dass sich nun neun Zehntel der Landwirtschaft und Industrie in Staatshand befanden; anschließend verstaatlichte das kubanische Regime auch noch das restliche Zehntel.

(In den ersten Jahren nach dem Sturz des verhassten Diktators Batista genoss Castros Guerilla-Bewegung die begeisterte Unterstützung der Massen. Andere Arbeiterparteien bleiben mehrere Jahre lang legal und es gab einige Oppositionszeitungen. Das Vereinigte Sekretariat der VI betrachtete die Situation in Kuba oberflächlich und impressionistisch. Während unsere Tendenz die illusionäre Position Mandels kritisierte und eine »Gleichschaltung« nach stalinistischem Muster prophezeite, traten Mandel & Co an Castros Regime mit wohlwollenden Ratschlägen heran.)

Die führende Schicht hatte China, Jugoslawien und Russland zum Vorbild und errichtete eine Herrschaft nach diesem Muster. Zu keiner Zeit gab es auf Kuba eine Arbeiterdemokratie. Der Bonapartismus der Herrschaft verkörpert sich in Castro und den Versammlungen auf dem Platz der Revolution, wo der einzige Beitrag der Massen darin besteht, auf Castros Appelle mit einem einmütigen »Si« zu antworten.

Kuba ist ein Einparteienstaat ohne Räte und ohne Arbeiterkontrolle über Industrie oder Staat. Als Folge hat es sich immer mehr bürokratisiert. Dies war unvermeidlich angesichts der Isolation der Revolution und der Art, wie die Revolution sich entwickelt hatte. Die Arbeitermiliz ist entwaffnet worden. Die Differenzierung zwischen den Bürokraten – besonders den höheren – und der Arbeiterklasse nimmt ständig zu. Die Entwicklung eines Staatsapparates über und unabhängig von den Massen schreitet voran. Hinter den Kulissen versucht Castro, mit dem amerikanischen Imperialismus diplomatische Anerkennung und Entwicklungshilfe zu vereinbaren; und in der nächsten Periode ist eine Einigung wahrscheinlich unausweichlich. Dies wird den »revolutionären« Appellen, die Castro an Lateinamerika richtet, ein Ende machen. In den Gedanken seiner Führer wird Kuba mehr und mehr in den Beziehungen zu den Nationen und Klassen der Welt an die engen Inselgrenzen gebunden sein.

Gegenwärtig gibt es die stalinistische Bürokratie in Russland täglich mehrere Millionen an Hilfe, ohne die das Regime nicht überleben könnte. Für eine Arbeiterdemokratie würde die Bürokratie der Sowjetunion nicht eine Kopeke geben. Nur weil das Regime im Wesentlichen mehr und eher den anderen bonapartistischen Arbeiterstaaten ähnelt, kann die Bürokratie sich den Luxus brüderlicher Hilfe an Kuba leisten.

Ausgehend von einem falschen theoretischen Anfangspunkt kann nur ein Irrtum dem anderen folgen. Daher ist das Vereinigte Sekretariat völlig blind gegenüber den Prozessen, die auf der Insel ablaufen. Sie weigern sich, die Unvermeidbarkeit der Degeneration und des Niedergangs des Regimes zum Totalitarismus anzuerkennen und beharren auf ihrem reaktionären Traum eines bäuerlichen und rückständigen Kubas, das sich zum Sozialismus hin bewegt Scheinbar braucht Kuba nur kleinere Reformen, um zu einer Muster-Arbeiterdemokratie zu werden. Für sie gibt es keine Notwendigkeit einer politischen Revolution, die die Kontrolle von Industrie und Staat durch die Arbeiter bedeutet, sondern wieder nur fantastische und sagenhafte Reformen, die eine Arbeiterdemokratie errichten würden. Als ob Kontrolle über Industrie und Staat durch die Arbeiterklasse erreicht werden könnte, indem man Castro überredet, dass dies notwendig sei. Andererseits argumentierten sie auf die zweifelhafteste Weise, dass eine Arbeiterdemokratie schon existiere, dass Kuba sogar demokratischer sei als Russland in den Jahren 1917-1920.

Die Wahrheit ist: wenn Castro solche Aktionen auch nur versuchen würde, würde er selbst von der Bürokratie entfernt werden. Abgesehen davon glaubt Castro ohne jeden ideologischen Hintergrund, dass er den »Sozialismus« aufbaut. Ohne ideologische Scheuklappen könnte er die Rolle, die er spielt, nicht durchstehen. Aber die Sektierer beugen sich, ohne selbst dem Druck bürokratischer Interessen ausgesetzt zu sein, dieser Variante des Stalinismus und setzen sich die Scheuklappen freiwillig auf. Bis zum heutigen Tag hat diese Tendenz nichts gelernt und alles vergessen. In Lateinamerika wiederholen sie die Fehler, die sie in der Algerien-Frage gemacht haben, und in anderer Form zeigt sich das in der Einschätzung Chinas, Jugoslawiens und Kubas.

Eine Zeitlang war für sie dann Bolivien das Zaubermittel, mit dem die Weltsituation verändert werden könnte. Sie verschmolzen sich mit den kleinbürgerlichen Guerillas im Versuch, die kubanische Erfahrung zu wiederholen. Castro, der »unbewusste Trotzkist«, der neue Messias des Marxismus, er war das Vorbild, dem sie nacheiferten. Ungeachtet veränderter Umstände, unterschiedlicher Bedingungen, der Wachsamkeit der herrschenden Klasse und des Imperialismus unterstützen sie Abenteuer wie die Guevaras, der versuchte, den Guerillakrieg künstlich unter der Bauernschaft auszubreiten. Guevaras Heldentum darf uns gegenüber seinem theoretischen Bankrott nicht blind machen. Eine Wiederholung der Politik des Castroismus in Lateinamerika anzustreben, bedeutet, ein Verbrechen gegen die internationale Arbeiterklasse zu begehen. Die marxistische Literatur ist voll von Erklärungen zur Rolle der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft: des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und des Bürgertums Für diese »Trotzkisten« der VI ist das anscheinend ein Buch mit sieben Siegeln. Der Marxismus erklärt, dass in der kolonialen Revolution das Proletariat die führende Rolle spielt. Das Proletariat wird im Produktionsprozess zur Zusammenarbeit gezwungen. Es wird gezwungen, sich zusammenzuschließen zum Schutz gegen die Ausbeuter. Wichtiger noch: Ein Proletarier besitzt keine Produktionsmittel und kann wegen des gesellschaftlichen Charakters der Massenproduktion nie welche besitzen. Der Bauer zeigt als ersten Instinkt jedoch, seinen Besitz zu vergrößern bzw. sich Land anzueignen, Nur dort, wo landlose Landarbeiter und Kleinbauern sich den revolutionären Proletariern der Städte anschließen, mit dem Ziel, durch die sozialistische Revolution den Großgrundbesitz zu stürzen, könne die uralten Instinkte der sonst konservativen Bauern überwunden werden.

Deshalb ist das Proletariat die einzige Kraft, die die sozialistische Revolution durchsetzen kann. Doch sogar das Proletariat ist nur Material für die Ausbeutung, so lange es nur eine Klasse an sich und nicht eine Klasse für sich ist. Dieses Bewusstsein entwickelt sich mit den Erfahrungen der Klasse und in ihrem Kampf für bessere Lebensbedingungen. Auch hier wird die Partei und ihre Führung der Arbeiterklasse gebraucht. Der Bauernkrieg kann – und dies verstanden Lenin und Trotzki auch – eine wichtige, ja sogar eine militärisch entscheidende Rolle im Verlauf der sozialistischen Revolution spielen. Je rückständiger das Land, desto wichtiger die Haltung der Bauernmassen zur Arbeiterrevolution. Aber die Bauern, das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat können keine unabhängige Rolle spielen.

Wenn dennoch in Jugoslawien und China die Bauernschaft, das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat, organisiert in den nationalen und sozialen Befreiungsarmeen, die verrottete halbfeudale Herrschaft hinwegfegen konnten, so konnten wir das nur wegen des geschichtlichen Prozesses, den wir in vielen unserer Dokumente erklärt haben. Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution hat sich bis zum heutigen Tage als korrekt erwiesen. Die Widersprüche und Spannungen in den rückständigen Ländern der Welt ließen keine weitere Verzögerung zu. Die proletarische Revolution im Westen war ausgeblieben. Andere gesellschaftliche Kräfte dienten so als blinder »Rammbock« gegen die alte Ordnung. Das Ergebnis war zwar die Beseitigung des Kapitalismus und der halbfeudalen Strukturen, sowie die Schaffung der Grundlagen eines – im historischen Sinne – Arbeiterstaates, jedoch kein Sozialismus. Es ist wahr, dass Lenin die Möglichkeit sah, dass Afrika direkt von der Stammesorganisation zum Kommunismus übergehen könne. Doch dies, sagte er, könne nur mit Hilfe des Sozialismus in den fortgeschrittenen Ländern geschehen, und nicht auf der Grundlage der eigenen nationalen Ressourcen. Die materiellen Voraussetzungen des Sozialismus existieren in keinem der Kolonialländer, nur im Weltmaßstab und angesichts des Niedergangs des Kapitalismus als Weltsystem wird die Basis für die sozialistische Revolution in den rückständigen Ländern der Welt gelegt.

Ultralinke und studentische Ideologie

Weil bei seiner Spielart des Entrismus nach fast zwanzig Jahren wenig herausgekommen war, schwenkte das VS 1967 in den westlichen kapitalistischen Ländern auf einen ultralinken Kurs um. Ohne aus der Erfahrung mit dem Entrismus in den sozialdemokratischen und Kommunistischen Parteien aufrichtig ihre Lehren gezogen zu haben, gingen sie in Deutschland, Frankreich und Italien zu einer ultralinken Politik über. Sie schafften es jedoch, diese mit einem gehörigen Maß an Opportunismus zu kombinieren. Die Regierungsübernahme durch Wilson in Großbritannien sei die Machtergreifung einer »linken sozialdemokratischen Regierung«, schrieb einer ihrer Anhänger in England. Seine Ansichten wurden von der Führung der VI in Paris wärmstens verteidigt und nicht etwa zurückgewiesen. Doch wurden ihr diesbezüglich durch die Ereignisse schnell die Illusionen geraubt. Zur gleichen Zeit gelang es dem VS, einen grundlegenden Unterschied zwischen der Regierung Wilson in England und der Regierung Brandt in der BRD zu finden. weiter konnte der Eklektizismus nicht gehen. Unterschiede zwischen Individuen sind unbedeutend, selbst wenn es wesentliche Unterschiede zwischen Brandt und Wilson gäbe.

In der BRD weigerte sich das VS nach 1968, bei den Jusos mitzuarbeiten und richteten ihre Aufmerksamkeit statt dessen ausschließlich auf die Studierendenbewegung. Dies war eine taktische Frage, wenn auch falsch verstanden. Eine gewisse Aufmerksamkeit sollte den Studierenden gezollt werden, doch mit der Hauptabsicht, sie von der Notwendigkeit der Orientierung auf die Arbeiterbewegung zu überzeugen. Die Arbeiterklasse der BRD muss ihre Erfahrungen mit einer sozialdemokratischen Regierung machen, um zu verstehen, dass der Reformismus nicht ihre Probleme lösen kann. Die westdeutsche Arbeiterklasse, die durch ihre Erfahrungen mit dem Faschismus und mit der Politik von Reformismus und Stalinismus zurückgeworfen wurde, kann nur revolutionäre Ideen entwickeln, indem sie ihre Führer in reformistischen Regierungen auf die Probe stellt.

Wertvolle Kräfte unter den Studierenden wurden damals falsch behandelt, indem man ihren Vorurteilen Vorschub leistete, anstatt sie marxistisch auszubilden. Das bedeutete, dass die meisten von ihnen zu einem späteren Zeitpunkt mutlos werden, aus der Politik aussteigen und der Arbeiterklasse für ihre eigene Unzulänglichkeit die Schuld geben. Wie überall, so schafften die Mandelisten es auch hier, die schlimmsten Ergebnisse zu erzielen. In der BRD wäre die Hauptaufgabe gewesen, näher an die sozialdemokratischen Arbeiter heranzukommen, insbesondere an die Jugend; eine Aufgabe, die sie jetzt unmöglich bewältigen können, wegen der Versäumnisse in der Vergangenheit. Eine Quittung für die falsche Politik der VI sehen wir heute bei den Jusos und den sozialdemokratischen Studierenden in Gestalt eines starken Einflusses der Stalinisten.

Nicht nur in der BRD, sondern auch in Frankreich, Italien, den USA und weltweit, hat diese Tendenz einer Sache gefrönt, die man »Studentismus« nennen könnte. Der fortschrittliche Bruch der Studierenden mit der bürgerlichen Ideologie – ein weltweites Phänomen – musste natürlich erkannt und genutzt werden, um die Besten an die Ideen des Marxismus heranzuführen. Vor allem hätte man den Studierenden erklären müssen, dass dieses Phänomen ein Symptom der sozialen Krise des Kapitalismus ist. Es ist ein Symptom der Linksbewegung, die weltweite Ausmaße annimmt. Sie kann in den Kolonialländern, den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und in den bonapartistischen Arbeiterstaaten beobachtet werde. Sie ist ein Barometer einer wachsenden sozialen Krise, doch wenn die ernsthaftesten Studierenden keine Wurzeln in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung schlagen, dann sind sie zur Fruchtlosigkeit und Wirkungslosigkeit verdammt. Wenn die Studierenden sich nicht die Disziplin marxistischer Ideen und Methoden aneignen können, wird die Bewegung zu verschiedenen Methoden des Utopismus, Anarchismus und Terrorismus entarten. Studierende können für die Verbreitung marxistischer Ideen praktisch als Hefe im Brotteig wirken, aber nur auf der Grundlage marxistischer Ideen und mit Verständnis für ihre begrenzte, keineswegs zentrale gesellschaftliche Rolle.

Die Ereignisse in Frankreich von 1968 stellten einen neuen entscheidenden Test für alle Tendenzen in der revolutionären Bewegung dar. Die Feuerprobe für Revolutionäre ist die Revolution. Das VS der VI wurde natürlich von den Ereignissen in Frankreich überrascht, weil sie die Möglichkeit einer Revolution im Westen für eine ganze historische Periode geleugnet hatten. Von einem Standpunkt des tiefen Pessimismus gegenüber dem Potential der westlichen Arbeiterklasse gingen sie nach dem Mai 1968 zu einer unverantwortlichen ultralinken Position über. Sie wurden zu völligem Sektierertum verdammt, weil sie für eine weitere historische Periode die entscheidende Rolle der Kommunistischen Partei verkannten. Die Vorstellung, dass die sich 1968 in Frankreich gerade entfaltenden revolutionären Prozesse sich innerhalb von Tagen oder Wochen entscheiden würden, war völlig falsch. Weder die Schwäche der revolutionären Kräfte hatten sie verstanden noch die Notwendigkeit, einen Weg zu den Massen der KP zu finden. Statt dessen biederten sie sich mit vielen ultralinken Gesten und Schritten an die wilden und verschwommenen Ideen der Studierenden an. Der folgende Wahlboykott und der Boykott der Studierendenwahlen waren reine Unverantwortlichkeit, die der Führung der KP nur in die Hände spielen konnte, die immer noch die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse genoss. Während des Generalstreiks im Mai 1968 hätte die Hauptforderung von Marxisten diejenige nach der Errichtung von Räten sein müssen. Als dann aber im Juni 1968 die Bewegung abgeebbt war, wäre eine Beteiligung an den Wahlen die richtige Taktik gewesen. Zu diesem Zeitpunkt gab es nämlich keine ernsthafte Alternative – wie es die Räte gewesen wären -, die man den Wahlen hätte entgegensetzen können.

Die VI zog nicht in Erwägung, dass die KP ihre Verluste als Alternative zur gaullistischen Partei wieder wettmachen würde. Bis zum heutigen Tag haben sie ihre Anhänger nicht auf eine neue, unvermeidliche Periode der Volksfrontideologie vorbereitet, zu der die Bourgeoisie Zuflucht nimmt, um eine neue Offensive seitens der Arbeiterklasse zu brechen. Alle Tendenzen der revolutionären Linken in Frankreich sind zur Zeit im Niedergang begriffen, weil sie Ebbe und Flut der Revolution nicht verstehen und analysieren können: dass die Perioden der Ruhe, sogar der Reaktion den Weg bereiten werden für die revolutionäre Mobilisierung der Massen und für eine neue Offensive der Revolution. Die Ereignisse deuten darauf hin, dass nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern, in denen die KP die Hauptpartei der Arbeiterklasse ist (Italien), nur eine Massenspaltung an der Basis der KP den Weg zur Entwicklung einer alternativen Massenpartei bereiten kann. In den Ländern, in denen die Sozialdemokratie die beherrschende Kraft ist, gelten ähnliche Überlegungen. Das ist die historische Erfahrung der letzten fünf bis sieben Jahrzehnte.

Die Geschichte der ceylonesischen Organisation erteilt eine lehrreiche Lektion, was passiert, wenn die Lehren jeder Periode von einer revolutionären Tendenz nicht gezogen werden. Sie war die einzige Massenorganisation der VI und die Massenpartei der Arbeiterklasse auf Ceylon. Doch gerade deswegen war sie auch allen Tendenzen der Entartung unterworfen, dem Druck feindlicher Klassenkräfte, dem Massenorganisationen ausgesetzt sind. Die inkorrekte Politik der sogenannten Führung der VI über 25 Jahre hinweg bedeutete im Falle Ceylon, dass sie keine Kontrolle über die Parlamentsmitglieder oder die Führung der Organisation besaß. Weil die VI im größten Teil der Welt aus kleinen Gruppierungen bestand, konnte sie nur politische statt organisatorische Autorität besitzen. Da sie aber bezüglich politischer Autorität bankrott war, konnten ihre schwachen Versuche, organisatorischen Einfluss zu nehmen, von den ceylonesischen Trotzkisten nur mit Verachtung behandelt werden.

Das VS unterstützte Hals über Kopf eine sofortige Spaltung, als die Lanka Sama Samaja Party (LSSP) eine opportunistische Position in Bezug auf eine Koalitionsregierung einnahm. Diese Haltung konnte aber nur die revolutionären Elemente isolieren und sie machtlos und ultralinks werden lassen. Die Folge war eine Spaltung der Position der LSSP sowie Niedergang und Spaltung in dem Teil, der sich abgespalten hatte. Die unmittelbare Aufgabe jeglicher Gruppierung innerhalb oder außerhalb der LSSP hätte sein sollen, sich der Massenorganisation der Arbeiter zuzuwenden, in diesem Fall also der LSSP. Politische Autorität kann jedoch nur über Jahre und Jahrzehnte hinweg gewonnen werden, indem man die Richtigkeit der Ideen, Methoden und Analysen einer revolutionären Führung zeigt. Die VI versuchte, diese wahre Autorität durch administrative Maßnahmen zu ersetzen, die nur zu einer Reihe erniedrigender und schwächender Spaltungen führen konnten.

Die Streitfragen auf der Weltkonferenz der VI 1965, auf der die britische Sektion ausgeschlossen wurde, sind in Materialien unserer Tendenz genügend dokumentiert worden, und das Dokument zum Ausschluss hat ihre Unfähigkeit gezeigt, eine aufrichtige marxistische Tendenz in ihren Reihen zu dulden.

Die Notwendigkeit marxistischer Theorie

Auf dem Kongress 1965 legte das VS eine »neue« Theorie dar, die vom Kapitalismus und dem starken Staat. Sie war eine Erweiterung der schon vorher von der VI vertretenen Theorie, dass bonapartistische Staaten in Westeuropa auf der Tagesordnung seien, dass der Kapitalismus die Existenz der Demokratie nicht länger dulden könne und daher in Westeuropa nur diktatorische Regimes errichtet würden. Sie bereiteten diese Theorie mit einer neuen Fassung des »starken Staates« wieder auf. In Frankreich, Deutschland, England, überall würde die Bourgeoisie die Demokratie durch ein bonapartistisches Regime ersetzen. Diese Analyse berücksichtigte nicht die Stärke und Macht der organisierten Arbeiterklasse, das veränderte Kräfteverhältnis der Klassen untereinander, die schwankende Haltung des Kleinbürgertums und die Tendenz der Bourgeoisie, selbst nach links zu rücken, weil sie weit davon entfernt war, der Gesellschaft ihren Willen aufzwingen zu können. Abgesehen von der diktatorischen Phase in Griechenland (1967-74) ging die Tendenz in die entgegengesetzte Richtung. Sogar die alten bonapartistischen Staaten Portugal und Spanien wurden durch die Arbeiterklasse zerstört.

In einigen Ländern hat es eine Tendenz zur Massenradikalisierung gegeben; nirgendwo ist es der Bourgeoisie gelungen, ihre Herrschaft mit einem Militär- und Polizeistaat durchzusetzen. Auch die Radikalisierung der Studierenden geht in eine entgegengesetzte Richtung. Der einzige »starke« Staat in Europa, der von de Gaulle in Frankreich, wurde durch die erste wirkliche Arbeitermassenbewegung (Mai 1968) hinweggefegt. Ohnehin war de Gaulles Bonapartismus die demokratischste Form von Bonapartismus, die es je gab. Die Schwäche dieses Bonapartismus war Ausdruck der in der Arbeiterklasse schlummernden Macht. Dazu hat auch die Entwicklung der französischen Bourgeoisie beigetragen.

Bevor die Entwicklung in Richtung Reaktion durchgesetzt werden kann, wird es eine blutige Abrechnung mit der Arbeiterklasse geben müssen. Dabei könnte die Bourgeoisie aber auch Gefahr laufen, im Kampf alles zu verlieren. Folglich würde die Bourgeoisie nur widerstrebend diesen Weg einschlagen. Nirgendwo gibt es starke faschistische Organisationen wie vor dem Krieg. Nach der bitteren Erfahrung mit den Faschisten in den 30er und 40er Jahren wird die Bourgeoisie sich nur äußerst ungern in die Macht der Faschisten begeben.

Andererseits ist ein »starker« bonapartistischer Staat nicht in der Lage, sich lange eine Massenbasis zu halten. Daher sind vielleicht reaktionäre Gesetze und Methoden seitens des bürgerlichen Staats an der Tagesordnung, aber keine Militär- und Polizeidiktatur. Überall in der bürgerlichen Welt – ganz besonders in Westeuropa – werden es nicht »starke« Staaten, sondern extrem schwache und gelähmte Staaten sein, denen die Arbeiterklasse und die revolutionäre Bewegung gegenüberstehen wird.

Durch Isolierung von der Massenbewegung wurde die marxistische Bewegung weit zurückgeworfen. Historisch betrachtet haben wir in gewisser Hinsicht sogar Glück gehabt. Wenn nämlich die VI statt winziger Sekten Organisationen von 10.000-50.000 Mitgliedern in Frankreich, Amerika und anderen Ländern gehabt hätte, wäre durch deren ultralinken Kurs enormer Schaden in der Bewegung entstanden. Das wäre vergleichbar gewesen mit der Politik der Komintern in ihrer ultralinken Phase der 30er Jahre, als die unbesonnene Haltung der KPs gegenüber den Massenorganisationen ihre Isolierung von der Arbeiterklasse zur Folge hatte. Auf diese Weise wurde Hitlers Sieg in Deutschland vorbereitet. In Frankreich erleichterten die Mätzchen und Spielereien all dieser Tendenzen es der KP-Führung und den Reformisten ungeheuerlich, wieder an Prestige und Einfluss in der Arbeiterklasse zu gewinnen. Wo das VS in anderen Ländern überhaupt Einfluss hatte, hat es erfolgreich dazu beigetragen, die Studierende von der Arbeiterbewegung zu trennen. Hätten die Führer der VI zu dieser Zeit wenigstens aufrichtig Selbstkritik geübt und eine gründliche Analyse ihrer Fehler und der Gründe für diese Fehler durchgeführt, hätten sie die Bewegung auf neuer, fester Grundlage aufbauen können; doch sie verließen immer mehr die Theorie des Marxismus und beschränkten sich auf reinen Empirismus und Impressionismus.

Unsere Aufgabe, national wie international, bleibt im Grunde die gleiche wie seit zwei Generationen: Verteidigung und Verbreitung der Grundlehren des Marxismus. Der Grund für die Entartung der Sekten, deren wichtigste sich um das Banner des VS scharen, liegt in der historischen Entwicklung unserer Zeit. Der Druck des Kapitalismus, Reformismus, Stalinismus – in einer Periode kapitalistischen Aufschwungs im Westen, einer zeitweiligen Konsolidierung des Stalinismus im Osten sowie der verzerrten Entwicklung der Kolonialrevolution – all dies waren Ursachen der Entartung aller Sekten, die den Anspruch erhoben, die VI zu sein.

Doch eine Erklärung ist keine Entschuldigung. Notwendigkeit besitzt zwei Seiten. In der Vergangenheit rechtfertigte die auf objektiven und subjektiven Faktoren beruhende Entartung der Zweiten und Dritten Internationale nicht die Handlungen ihrer Führer, die den Marxismus verlassen hatten. Sie rechtfertigte weder Reformismus noch Stalinismus. Genauso gibt es keine Rechtfertigung für die Verbrechen des Opportunismus und Sektierertums, die von den Führern der sogenannten Vierten Internationale über mehr als eine ganze Generation begangen wurden. Es ist eine Sache, zeitweilig einen Fehler zu machen. Auch die revolutionärsten und weitsichtigsten Tendenzen werden Fehler machen. Aber ständige Wiederholungen, ein ständiger Zickzackkurs zwischen Opportunismus und ultralinkem Verhalten, hört auf, ein Fehler zu sein, und wird zu einer Linie. Eine derartige Tendenz wird nie die ihr von der Geschichte gestellten Aufgaben bewältigen können. Sie wird ständig mit Spaltungen und mit Manövern weitermachen – und mit Diktaten, die keinen Bezug zu echter Autorität auf der Grundlage politischer Erfahrungen haben. Eine Tendenz dieses Charakters kann niemals eine Tradition des Bolschewismus und Trotzkismus fortführen. Vielleicht werden sich viele der jüngeren von diesem vergifteten Milieu lossagen und beim Aufbau der neuen Internationale helfen. Für eine echte revolutionäre Massentendenz ist es notwendig, nicht nur die Tradition, Methode und Politik des Marxismus zu besitzen, sondern auch im Strom der Geschichte zu stehen. So war es bei den Bolschewiki.

Für eine kleine revolutionäre Tendenz dagegen ist es lebensnotwendig, die Grundlagen aufrechtzuerhalten, während sie auf der Basis der Erfahrung bewusst und offen Ergänzungen macht. Ohne dies ist eine Tendenz als revolutionäre Kraft zum Tode verurteilt. Wenn eine Tendenz nicht aus den Erfahrungen der Ereignisse lernen kann, ist sie verdammt, eine Sekte zu bleiben und weitere Niederlagen und Zersplitterungen der Bewegung zu provozieren. Es gibt keine Entschuldigung für eine derartige beständige Folge von Irrtümern. Lenin und Trotzki dagegen korrigierten peinlich genau theoretische Irrtümer bis ins kleinste Detail, damit die bolschewistische Theorie messerscharf blieb.

Die Stalinisten und Reformisten haben Massenorganisationen. Die Marxisten haben eine revolutionäre Theorie, die sie von einer kleinen Qualität in eine revolutionäre Quantität verwandeln wird. Ohne Massenorganisationen und marxistische Theorie gibt es keine Zukunft. Das VS ist historisch zum Untergang verurteilt. In jedem Abschnitt der Entwicklung der Ereignisse haben demgegenüber die britischen Marxisten richtig gehandelt. Hinsichtlich der grundlegenden Probleme können sich unsere Dokumente sehen als ein als ein Beitrag zum Marxismus in den letzten 25 Jahren.

Dass es den trotzkistischen Kräften misslungen ist, eine funktionsfähige Internationale aufzubauen, kann vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Epoche verstanden werden. Sie war gleichzeitig revolutionär und konterrevolutionär, stellte das Proletariat vor ungeheure Hürden in Gestalt von Sozialdemokratie und stalinistischen Organisationen. So war es unvermeidlich, dass der Schaffung von revolutionären Massentendenzen große Schwierigkeiten entgegenstehen würden. Die neue Periode, eröffnet durch die 68er-Revolution in Frankreich, beginnt eine gänzlich neue Stufe in der Entwicklung des Proletariats. Masseninitiative und Massenaktion werden mächtige Organisationen von Stalinismus und Sozialdemokratie auf die Probe stellen. Es werden sich revolutionäre oder quasi-revolutionäre Flügel in diesen Parteien bilden, aber es wird auch eine Serie von katastrophalen Spaltungen sowohl nach rechts als auch nach links geben. Im Laufe dieser Erfahrung werden die Arbeiter nicht nur die reformistischen und stalinistischen Massenorganisationen auf die Probe stellen, sondern auch die verschiedenen sektiererischen und zentristischen Tendenzen, z.B. Maoisten und Castristen, die sich fortgepflanzt haben, weil es keinen revolutionären Pol für die Masse gab.

Alle werden sich als unwirksam und unzureichend erweisen. Die frischen Kräfte der neuen Generation werden den revolutionären Weg suchen. In den westliche Ländern werden sich dort, wo der Stalinismus die Hauptströmung darstellt, in den KPs revolutionäre Massentendenzen formieren, und dort, wo es die Reformisten sind, innerhalb der sozialdemokratischen Parteien.

In den dunklen Tagen des Ersten Weltkriegs waren die Marxisten auf kleine Häuflein zusammengeschrumpft. Auf der Grundlage der Ereignisse führten sie eine siegreiche Revolution 1917 in Russland durch und bereiteten den Weg für den Aufbau revolutionärer Massenparteien. Durch Lenins und Trotzkis Einfluss hielten die Bolschewiki die Methode des revolutionären Marxismus aufrecht. Im Laufe feindlicher historischer Strömungen nach 1917 wurden die Ideen des Bolschewismus zurückgedrängt. In einer neuen historischen Epoche werden die Ideen, verstärkt durch die Erfahrung der letzten dreißig Jahre, erneut eine große Zuhörerschaft finden. Die anderen Tendenzen, die sich Trotzkisten nennen, werden auf die Probe gestellt werden und untergehen. Der Kapitalismus wird sich weltweit in einer Sackgasse befinden. Andererseits enthüllt in den nichtkapitalistischen Ländern der Stalinismus mehr und mehr seine Unvereinbarkeit mit Verstaatlichung und Planwirtschaft. Die Ausweglosigkeit der Bourgeoisie und der stalinistischen Bürokratie widerspiegelt sich in der Ideenlosigkeit ihrer Theoretiker auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Das Auseinanderfallen der Stalinisten in sich bekriegende nationale Gruppierungen – in Ländern, in denen sie an der Macht sind, und in Ländern, in denen sie in der Opposition sind – zeigt den Bankrott des Stalinismus an.

Auf der anderen Seite hat der Reformismus seine unheilvollen Auswirkungen gezeigt, sowohl in den Ländern, in denen die Reformisten an der Regierung sind, als auch in den Ländern, in denen sie in der Opposition sind. Auch die kleinen und schwachen trotzkistischen Tendenzen gerieten unter den korrumpierenden Einfluss von Stalinismus und Reformismus, wo diese Strömungen die Arbeiterbewegung beherrschen. Für sie gibt es keinen Weg nach vorn, doch in einem bevorstehenden revolutionären Aufschwung wird die Jugend von den Ideen des Trotzkismus angezogen werden.

Obwohl 1917 keine Internationale bestand, führten die Bolschewiki ihre Revolution mit der Methode, den Ideen und im Namen der Internationale durch. Sie waren Internationalisten durch und durch. Die größte internationale Aufgabe der Marxisten ist der Aufbau einer mächtigen internationalen revolutionären Tendenz, erfüllt von den Prinzipien und Traditionen des Internationalismus, die den Weg für die Schaffung der VI bereiten kann.

Wie wird die Internationale organisiert werden?

Lenin und Trotzki betonten mehrmals, dass ein Fehler, der nicht korrigiert wird, sich zu einer Tendenz auswächst. Das VS ist während der letzten 30 Jahre von einem Fehler zum nächsten gestolpert. Von einer falschen Politik zum Gegenteil und, schlimmer noch, wieder zurück. Das ist das Kennzeichen einer durch und durch kleinbürgerlichen Tendenz. Für die Führung sind die Fehler chronisch geworden. Das gilt für ihre Denkmethoden, ihre Arbeitsweisen und für ihre gesamte Einstellung. Sie zentristisch zu nennen wäre noch ein Kompliment. Die Entartung der Zweiten Internationale, die noch immer eine Massenbewegung ist, kann erklärt werden mit dem Druck der Gesellschaft, der Geschichte des letzten Teils des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts sowie der daraus resultierenden Entfremdung und Trennung der Führung von der Basis.

Die Dritte Internationale begann als revolutionärste internationale Massentendenz, die die Welt je sah. In vielen Dokumenten wurde die Entartung der Internationale in einer revolutionären Epoche (revolutionär und konterrevolutionär zugleich) erklärt als das Ergebnis des Drucks der Bürokratie und ihrer Selbsterhebung über die Massen. Auf internationaler Ebene begann die Entartung der Dritten Internationale mit der Weigerung, aus den Ereignissen zu lernen und die Fehler der stalinistischen Bürokratie zu korrigieren. Dies war unter anderen nicht der unwichtigste Faktor.

Der Trotzkismus, die revolutionärste und aufrichtigste Strömung der Geschichte, begann seine Arbeit vor allem mit einer Analyse dieses Prozesses. Da er ohne die Unterstützung der breiten Massen begann, konnte er als revolutionäre Tendenz nur mit einer überaus ernsthaften Haltung gegenüber der Theorie und den Ereignissen Erfolg haben. Dies war die Lehre aus Lenins Werken und vielleicht mehr noch aus den Werken und der Aktivität Trotzkis in der Periode des theoretischen Niedergangs und der Entartung der Komintern. Weil das VS und andere ähnliche Tendenzen dieses kostbare Erbe verlorengehen ließen – und ohne das Korrektiv des Druckes von revolutionären Massen – wurden die Führer der trotzkistischen Bewegung verantwortungslos. Fragen der Theorie wurden nicht ernsthaft betrachtet, sondern wurden Teil der wechselnden Einfälle und Launen der führenden Clique. Die ganze Periode seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat erwiesen, dass diese Leute völlig unfähig sind, eine organisatorische und politische Wende in Richtung auf den Marxismus zu vollziehen.

Wie aber wird die Internationale aufgebaut werden? Die Periode, die Trotzki in der unmittelbaren Vorkriegszeit zuversichtlich voraussah, eröffnet sich jetzt unter anderen historischen Umständen. Das Gedankengut des Marxismus, das wir eine ganze Generation lang bewahrt haben, wird allmählich eine breite Zuhörerschaft finden. National wie international können die Ideen unserer Tendenz während der kommenden Epoche die Unterstützung der Massen gewinnen. Unser Kampf besteht darin, die Bewegung international aufzubauen.

Vielfach haben wir darauf hingewiesen, dass die Bewegung nur au der Grundlage der Ereignisse aufgebaut werden wird. Diese werden die sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien in die Krise bringen. Die Entwicklung in den Industrienationen wird eine Schlüsselrolle spielen. Eine neue Periode eröffnet sich in der Geschichte des Kapitalismus im Westen und des Stalinismus im Osten. Die Mai-Unruhen 1968 in Frankreich und der gegenwärtige Aufruhr in Italien sind nur ein Anfang.

Die Umrisse der Krise in den Beziehungen der Klassen zueinander, nicht nur in Europa, sondern auch in Japan, Amerika und anderen wichtigen Zentren, werden gegenwärtig bereits deutlich. Unvermeidlich werden sich im weiteren Verlauf zentristische Gruppierungen in den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien bilden. Massenabspaltungen werden in den nächsten zwei Jahrzehnten an der Tagesordnung sein. Eine politische Revolution im Ostblock könnte die Situation international verwandeln. Ähnliches gilt für Amerika und andere westliche Industrieländer. Wenn sich zentristische Massengruppierungen bilden, wo eine große Anzahl Arbeiter nach einer revolutionären Führung sucht, wird dies ein günstiges Milieu, sozusagen ein Treibhaus, für die Aufnahme marxistischer Ideen sein. Wir müssen versuchen, diese Elemente mit auf internationaler Ebene mit den Gedanken und Methoden Trotzkis zu erreichen. Aus diesen Kräften wird die Internationale aufgebaut werden.

Gesellschaftliche Erschütterungen werden auch die jüngeren und intelligenteren Elemente innerhalb der anderen sich trotzkistisch nennenden Organisationen unseren Ideen zugänglich machen. Viele von ihnen werden wir dann für uns gewinnen können. Es wird ähnlich sein wie in der spanischen Revolution (1931-37), nur mit einer noch deutlicher an die Oberfläche tretenden organischen Krise des Stalinismus und Reformismus. Die Arbeiterklasse ist viel stärker, die internationale Reaktion weit schwächer als in der Vergangenheit; dies bildet die Grundlage für eine Offensive der Arbeiter. Dann, in einer Periode von Niederlagen und Reaktion in der einen oder anderen Form als auch von wichtigen Gewinnen und Erfolgen (Ebbe und Flut der Revolution), wird es einen noch größeren Vorstoß der Arbeiter geben, der Weg wird geebnet sein für die Schaffung zentristischer Massentendenzen. Die Russische Revolution entwickelt sich innerhalb von neun Monaten, vor allem aufgrund der Stärke des Bolschewismus. Die spanische Revolution dagegen entwickelte sich über sechs, sieben Jahre hinweg. Solch eine lange Periode der Revolution, wegen der Schwäche der revolutionären Kräfte, ist für uns am wahrscheinlichsten, wie das Beispiel Frankreichs schon gezeigt hat. In solch einem langen Prozess bietet sich für uns die Möglichkeit, unsere Kräfte aufzubauen und erfolgreiche einzugreifen.

Die revolutionären Elemente in den zukünftigen zentristischen Massenparteien werden nach konsequenten und in sich geschlossenen Ideen, Politik und Arbeitsmöglichkeiten suchen. Dies hebt die Notwendigkeit hervor, unsere internationale Arbeit fortzuführen und auszudehnen. Wir müssen unsere Arbeit mit Interessenten entwickeln und erweitern, mit Gruppen und neuen Individuen, die wir in anderen Ländern erreichen können. Unsere Kritik an anderen Tendenzen und der Kontrast zu deren Politik sollte uns die Möglichkeit geben, ein Fundament zu gewinnen.

Weit stärker als in irgend einer anderen Geschichtsepoche ist der Boden bereitet für revolutionäre Ausbrüche in den industriell entwickelten Ländern. Auf der Grundlage revolutionärer Entwicklungen werden unsere Ideen begierig aufgegriffen werden von Arbeiter, die tastend nach dem Marxismus suchen. Der Bolschewismus wuchs international durch den Erfolg der Oktoberrevolution. Dieser wiederum hing von der Organisation der russischen Partei ab und von der Theorie und der Politik Lenins und Trotzkis. Wir stehen heute einer ähnlichen Aufgabe gegenüber, jedoch müssen wir erst noch den Test der Geschichte bestehen und eine revolutionäre Massentendenz aufbauen.

Trotz erster erfreulicher Erfolge, die wir beim Aufbau der Internationale bereits erzielen konnten, müssen wir uns über die Größe der noch vor uns liegenden Aufgabe im Klaren sein – die eigentliche Geschichte unserer Tendenz auf internationaler Ebene hat gerade erst begonnen.

1 Aktualisierung: Auf Drängen vieler ihrer Sektionen revidierte das Vereinigte Sekretariat sein Urteil zum Charakter Chinas und zwar nach Abflauen der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« 1966/67, die es als antibürokratischen Kampf verstand.

Jetzt hat das Vereinigte Sekretariat die Position, dass eine »politische Verwandlung tiefgehenden Charakters« stattfinden müsste, bevor Marxisten von einem gesunden Arbeiterstaat sprechen könnten. Diese zaghafte, halbherzige Formulierung stellt einen faulen Kompromiss dar: zwischen denjenigen in der VI, die eine politische Revolution in China für erforderlich halten und denjenigen, die nicht dieser Meinung sind. Eine derartige Schwammigkeit in Bezug auf ein Land mit einem Viertel der Erdbevölkerung!

Was Jugoslawien angeht, so ließen die Führer der VI ihre Begeisterung für Tito stillschweigend abflauen, vor allem seit den Enthüllungen über die Aktivitäten de jugoslawischen Geheimpolizei, die die Billigung Titos hatten, Anfang der 70er Jahre ans Licht kamen

2 vgl. vorige Aktualisierung

3 Aktualisierung: zuletzt noch in Portugal

4 eklektisch verfährt jemand, der aus verschiedenen Weltanschauungen das ihm Passende »auswählt«, d.h. unschöpferisch fremde Gedankenverbindungen nebeneinanderstellt.


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