(Militant, Nr. 1265, 1. März 1996, S. 8 und 9)
Die Reichen reicher zu machen, komme den Armen zugute, argumentieren rechte Ökonom*innen. Die Realität beweist etwas anderes, sagt Lynn Walsh.
Herabtröpfeln
Reich und arm in den USA
In den 1930er Jahren verhöhnte Franklin D. Roosevelt – der Präsident der Vereinigten Staaten, der die reformistische New-Deal-Politik einführte, bei der staatliche Gelder für Projekte ausgegeben wurden, die die Arbeitslosigkeit verringern und die Wirtschaft ankurbeln sollten –, „die Theorie, dass, wenn wir die Reichen reicher machen, sie irgendwie einen Teil des Wohlstands zum Rest von uns herabtröpfeln [trickle down] lassen werden“.
Fünfzig Jahre später ließ Ronald Reagan die „Trickle Down“-Theorie wieder aufleben. „Ich möchte vor allem, dass dies ein Land bleibt, in dem immer jemand reich werden kann.“ Reagans Politik eröffnete den Großkonzernen und den Superreichen fabelhafte Möglichkeiten, ihren Reichtum zu vergrößern.
Die Politik des freien Marktes, der Deregulierung, Angriffe auf die Gewerkschaften und drastischen Steuersenkungen machten die 1980er Jahre zu einem Jahrzehnt beispielloser Finanz- und Immobilienspekulationen. Die Kapitalertragssteuer wurde von 49% auf 20% gesenkt. Die Steuern für Kapitalgesellschaften fielen auf einen historischen Tiefstand von 6,2% ihrer Profite.
Es ist nicht überraschend, dass sich in den 1980er Jahren die Zahl der Millionär*innen in den USA verdreifachte (auf 1,5 Millionen) und die Zahl der Milliardär*innen vervierfachte (auf 51).
Die Behauptung rechter Politiker*innen und Freier-Markt-Ökonom*innen lautete: Wenn der Kuchen größer wird, bekommt jeder ein größeres Stück davon. Sie behaupteten, dass die Erhöhung des Reichtums der Reichen und Superreichen durch Steuersenkungen zu einem Wachstumsschub führen würde, der allen zugute käme. Diese „Theorie“ wurde von Thatcher und vielen anderen führenden kapitalistischen Vertreter*innen enthusiastisch übernommen.
Was ist die Wahrheit? In Wirklichkeit wurden die Reichen unermesslich reicher, während die Armen viel ärmer wurden. Und nicht nur das, auch der Lebensstandard der „durchschnittlichen“ Arbeiter*innenschichten wurde gesenkt.
Diese Vergrößerung der Kluft zwischen den reichen Kapitalist*innen und der Mehrheit der Gesellschaft ist das unvermeidliche Ergebnis einer ungezügelten Politik des freien Marktes. Die Vereinigten Staaten enthüllen in aller Deutlichkeit die Tendenzen, die sich in allen kapitalistischen Ländern abzeichnen, in denen die Regierungen eine ähnliche Politik verfolgen.
Selbst die führende kapitalistische Zeitung, das „Wall Street Journal“, kommentierte, dass „statistische Beweise bereits darauf hindeuten, dass der amerikanische Traum schwindet“ (31. März 1989). Jüngste Untersuchungen zeigten, dass die Reichen, d.h. die obersten 20% der Vermögensinhaber, 99% des gesamten Zuwachses an marktfähigem Vermögen zwischen 1983 und 1989 erhielten.
Gleichzeitig erhielten die unteren 80% der Bevölkerung nur 1%. Die Zuwächse für die Superreichen, d.h. das oberste eine Prozent, waren sogar noch dramatischer. Zwischen 1983 und 1989 erhielten die Superreichen etwa ein Drittel des Anstiegs des Realeinkommens. Sie erhielten einen noch größeren Anteil des neuen Reichtums (in Form von marktfähigen Vermögenswerten, z.B. Immobilien, Finanzanlagen usw.) – 62%. Diese Trends haben sich seither zweifellos fortgesetzt. Das superreiche eine Prozent hat schätzungsweise 68% des Anstiegs des Gesamtvermögens der privaten Haushalte zwischen 1989 und 1992 erhalten.
Die Vereinigten Staaten sind immer noch das reichste und mächtigste Land der Welt. Obwohl ihr Lebensstandard ernsthaft untergraben ist, genießen die meisten Amerikaner*innen der „Mittelschicht“ immer noch einen relativ hohen Lebensstandard. Aber in den USA gibt es auch einige der ärmsten Ghettos der Welt.
In den Vereinigten Staaten, dem reichsten und mächtigsten Land der Welt, gibt es einige der ärmsten Ghettos der Welt
Offiziell leben 16% der Bevölkerung, d. h. 39,7 Millionen Menschen, an oder unterhalb der staatlichen Armutsgrenze. Bei einer realistischeren Schätzung der tatsächlichen Armutsgrenze wird jedoch geschätzt, dass fast ein Drittel der Bevölkerung, d. h. 79,4 Millionen Menschen, unter Armutsbedingungen leben. Ein großer Teil der Armen sind schwarze und hispanische Amerikaner*innen, deren durchschnittlicher Lebensstandard laut einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen nicht besser als der der Einwohner*innen von Trinidad und Tobago ist.
Der US-Kapitalismus hat in der Tat einige der größten innerstädtischen Ghettos der Welt. Nahezu 60% der armen Menschen leben in „Armenvierteln“ (in denen 40% oder mehr unter der offiziellen Armutsgrenze leben). Die meisten dieser Viertel befinden sich in nur zehn Großstadtregionen im Nordosten und Mittleren Westen.
Diese nackten Tatsachen sind Ausdruck der zunehmenden Krise des amerikanischen Kapitalismus, der in eine Phase der langfristigen Stagnation und des Niedergangs eingetreten ist. Während des langen wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit besaß das superreiche eine Prozent etwa ein Drittel des Reichtums des Landes. Sein Anteil stieg auf einen Höchststand von 37% im Jahr 1965, sank jedoch auf 22% im Jahr 1979. Dies spiegelt die Erhöhung der Steuern für die Reichen und die Entwicklung der Sozialreformen und Wohlfahrtsprogramme im Rahmen der so genannten „Great Society“-Programme wider.
Seitdem sich der US-Kapitalismus jedoch wieder der freien-Markt-Politik zugewandt und sich die während des Aufschwungs gemachten Zugeständnisse zurückerobert hat, hatte sich der Anteil der Superreichen am Vermögen des Landes 1992 auf 42% fast verdoppelt.
Ende der 1980er Jahre waren die USA in Bezug auf den Reichtum zu einem der ungleichsten der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder geworden. Das oberste eine Prozent kontrollierte 39% des gesamten Haushaltsvermögens, verglichen mit 26% in Frankreich, 25% in Kanada, 18% in Großbritannien und 16% in Schweden.
Eine Minderheit kapitalistischer Ökonom*innen beginnt sich klarzumachen, dass das Wachstum der Ungleichheit, das aus einer starken Verschiebung des Reichtums zugunsten der Kapitalist*innenklasse resultiert, die Bedingungen des kapitalistischen Wachstums untergräbt. Durch die Senkung des Lebensstandards der Arbeiter*innenklasse, einschließlich der staatlichen Sozialleistungen, haben die Kapitalist*innen den Markt für ihre Waren und Dienstleistungen ernsthaft unterminiert.
Sinkende Löhne
Die US-Arbeiter*innen galten lange Zeit als die wohlhabendsten der Welt. Außerhalb der USA ist man sich weithin nicht im Klaren darüber, wie weit der Lebensstandard der US-Arbeiter*innen untergraben worden ist. Der Median des Stundenlohns (unter Berücksichtigung der Inflation) fiel zwischen 1973 und 1993 um 6%. (Der Median ist die Mitte des Lohnniveaus, mit einer gleichen Anzahl von Arbeiter*innen darüber und darunter).
Gleichzeitig hat sich die Kluft zwischen gut ausgebildeten, gut bezahlten Arbeiter*innen und ungelernten, schlecht bezahlten Arbeiter*innen beträchtlich vergrößert. Der durchschnittliche Reallohn von männlichen High-School-Absolventen sank um 20%, von 14,02 Dollar pro Stunde im Jahr 1973 (gemessen in Dollar 1993) auf 11,19 Dollar pro Stunde im Jahr 1993. Der Durchschnittslohn von Männern, die die High School nicht abgeschlossen haben, sank im gleichen Zeitraum um 27%, von 11,85 Dollar auf 8,64 Dollar pro Stunde.
Der stetige Rückgang der Löhne wurde jedoch teilweise durch eine Reihe anderer Faktoren abgefedert. Vor allem arbeitet ein viel höherer Prozentsatz der Frauen Vollzeit. Die meisten Arbeiter*innen haben längere Arbeitszeiten, und viele haben zwei oder mehr Jobs, um über die Runden zu kommen. Infolgedessen ist das Median-Familieneinkommen in den 20 Jahren zwischen 1973 und 1993 leicht gestiegen, allerdings nur um magere 0,2%. Diese „Abfederung“ stößt nun an ihre Grenzen. Die Arbeiter*innen können nicht beliebig viele Stunden pro Woche arbeiten. Gleichzeitig führt die anhaltende Depression des Lohnniveaus zu einem drastischen Anstieg der Armut unter den Erwerbstätigen.
Reagan und Bush brüsteten sich ständig mit der Zahl der in der US-Wirtschaft geschaffenen Arbeitsplätze – als ob die Arbeitslosigkeit eine Sache der Vergangenheit sei. Es ist wahr, dass in der US-Wirtschaft zwischen 1973 und 1994 37 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Ein großer Teil davon war jedoch lediglich erforderlich, um Arbeitsplätze für Neuzugänge auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen.
Es ist auch wahr, dass die Arbeitslosigkeit in den USA nach offiziellen Angaben niedriger ist (5,6% oder 7,3 Millionen) als in Europa (10,8% oder 18 Millionen). Die Ökonom*innen des freien Marktes argumentieren, dass dies darauf zurückzuführen sei, dass sich die US-Arbeiter*innen „in die Arbeitsplätze eingepreist haben“. Im Vergleich zu Europa, wo das Lohnniveau relativ höher ist und die Sozialleistungen (Krankenversicherung, Renten usw.) umfangreicher sind, sind die Arbeitskosten in den USA relativ niedrig, was zu mehr Beschäftigung führe.
Aber auch hier ist die Realität anders. Zunächst einmal unterschätzen die offiziellen Arbeitslosenzahlen das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit erheblich. Ende der 80er Jahre schätzte man, dass etwa ein Drittel aller US-Arbeiter*innen „nicht erfasst“ war. Wegen des fehlenden Anspruchs auf Sozialleistungen wurden sie von keiner staatlichen Stelle gezählt.
Gleichzeitig ist die Grenze zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ziemlich unscharf geworden. Es gibt eine enorme Anzahl von Arbeiter*innen, die weit unter ihrem Qualifikationsniveau beschäftigt sind. Millionen von Arbeiter*innen arbeiten in Teilzeit oder in befristeten Gelegenheitsjobs. Das in Washington ansässige Economic Policy Institute bezeichnet diese Arbeiter*innen als „notleidend“. Es schätzt, dass 1992 insgesamt 36 Millionen Arbeiter*innen, d.h. 40% der amerikanischen Erwerbsbevölkerung, notleidend waren.
Eine wachsende Zahl von Arbeiter*innen erhält Löhne, die an der Armutsgrenze liegen. Die Bundesregierung setzt die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie auf etwa 14.000 Dollar pro Jahr fest. Dieser Wert ist jedoch seit 30 Jahren überholt. Wirtschaftswissenschaftler*innen schätzen, dass eine zeitgemäße Armutsgrenze auf der Grundlage der aktuellen Lebenshaltungskosten (Lebensmittel, Miete, Transport usw.) bei mindestens 20.000 Dollar und eher bei 28.000 Dollar pro Jahr liegen würde.
Derzeit beträgt der Median-Stundenlohn für Produktions- und andere keine Aufsichtstätigkeit ausübende Arbeiter*innen jedoch nur 10,02 Dollar, d. h. 20.841 Dollar pro Jahr. Zwei Erwachsene, die Vollzeit für den Mindestlohn arbeiten, verdienen nur etwa 16.320 Dollar im Jahr vor Steuern. Und die Republikaner*innen drängen auf die Abschaffung des Mindestlohns.
Es gibt schon ein Guerillakrieg, der sich in Episoden von Unruhen, Aufständen und ständigen sozialen Spannungen ausdrückt
Etwa 25% aller Arbeiter*innen verdienen derzeit 7,50 Dollar pro Stunde – das sind nur etwa 14.000 Dollar im Jahr, selbst wenn sie vollzeitbeschäftigt sind.
Angesichts dieser Lage ist es nicht überraschend, dass die Armut rasch zunimmt. Während 16% (39,7 Millionen) der US-Bevölkerung an oder unter der offiziellen Armutsgrenze leben, leben etwa 30% (79,4 Millionen) unter der realistischeren Armutsgrenze von 28.000 Dollar.
Ein extrem hoher Anteil der von schwerer Armut Betroffenen sind Schwarze oder Hispanics, die in armen innerstädtischen Gebieten leben. Während das Medianeinkommen weißer Familien 1991 bei 37.783 Dollar lag, betrug es bei hispanischen Familien nur 23.895 Dollar und bei schwarzen Familien 21.548 Dollar. Und natürlich liegt die Hälfte der Familien unter dem Medianwert.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die Zunahme der Armut ist die steigende Zahl der Haushalte mit nur einem Elternteil. Im Jahr 1992 lebten etwa 27% der Kinder in einem Ein-Eltern-Haushalt (der hauptsächlich von Frauen geführt wird), und 46% der von Frauen geführten Familien leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Doch sind in den letzten 15 Jahren die durchschnittlichen Leistungen (im Rahmen von Programmen wie Beihilfen für Familien mit abhängigen Kindern, Lebensmittelmarkenprogrammen usw.) inflationsbereinigt real um 20% gesunken. Für die 80 Millionen Menschen, die in extremer Armut leben, in einer Gesellschaft, die eine Rekordzahl von Milliardär*innen hervorbringt, ist das Konzept des „Herabtröpfelns“ ein brutal kranker Scherz.
Wachsende Kluft zwischen den Klassen
Seit Reagan den Spekulant*innen und Profiteur*innen freie Bahn gegeben hat, haben sich die Reichen und Superreichen am Streben nach ungeahntem Reichtum berauscht. Sie hatten es noch nie so gut. Dennoch setzen sie sich jetzt für die Wahl eines Republikaners als Nachfolger Clintons ein, eines Präsidenten, der Reagans Politik des freien Marktes und der Steuersenkungen noch weiter vorantreiben wird.
Manche Kommentator*innen werfen jedoch gelegentlich einen besorgten Blick auf die potenziell explosiven Folgen des Grabens einer noch tieferen Kluft zwischen Arm und Reich, einer Verschärfung der Klassenspaltung in der amerikanischen Gesellschaft.
„Dies ist eine Fernsehnation“, schrieb Benjamin Stein, ein ehemaliger Berater des Weißen Hauses. „Vielleicht ist es an der Zeit für eine Miniserie über den zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. Diesmal wäre es nicht Nord gegen Süd. Diesmal wären es die Habenden gegen die Habenichts: Harlem gegen die Upper Eastside, Beverley Hills gegen Compton, die Vorstädte gegen die Innenstädte, die Verdrängten gegen die Eingesessenen. Dieses Mal würde es nicht ordentlich und territorial zugehen. Diesmal würde es ein Guerillakrieg sein, in den Vierteln, in den Städten, Block gegen Block …“ (1987)
Es gibt schon ein Guerillakrieg, der sich in Episoden von Unruhen, Aufständen und ständigen sozialen Spannungen ausdrückt Die wachsende Klassenspaltung in der amerikanischen Gesellschaft, die sich in den Statistiken über Reichtum und Armut widerspiegelt, macht massive soziale Bewegungen unvermeidlich. In der Tat hätte der drastische, langfristige Rückgang des Lebensstandards bereits große politische Bewegungen hervorgebracht – wenn es nur Parteien oder Führungsfiguren gäbe, die die Beschwerden der Ausgebeuteten und Unterdrückten zum Ausdruck bringen und radikale Veränderungen in der US-Gesellschaft fordern.
In der Vergangenheit hat die Demokratische Partei zuweilen Reformpolitiken vorgeschlagen, um die Exzesse der superreichen Elite einzudämmen, zum Beispiel unter Roosevelt und erneut unter Lyndon Johnson in den späten 1960er Jahren. Heute sind die führenden Vertreter*innen der Demokrat*innen kaum noch von den Republikaner*innen zu unterscheiden. Wie ein geistreicher Mensch es ausdrückte, haben die USA eine kapitalistische Partei mit zwei rechten Flügeln. Leider bleiben die bürokratischen führenden Vertreter*innen der Gewerkschaften an die Demokratische Partei gebunden und bieten keine unabhängige Vertretung für die Arbeiter*innenklasse.
Die Tatsache, dass die Flut der Unzufriedenheit und des Zorns aufgestaut ist, wird jedoch die Wirkung noch größer machen, wenn sie sich zu bewegen beginnt. In triumphaler Stimmung beglückwünschen sich die Verfechter des US-Kapitalismus, dass die Bedrohung durch den Sozialismus für immer begraben sei. Doch Karl Marx wird zweifellos das letzte Wort haben. Wie er sagte, schaufelt sich das System sein eigenes Grab – und es ist die Arbeiter*innenklasse, die die Totengräberin sein wird.
Der Kampf wird viele verschiedene Formen annehmen und verschiedene Stadien durchlaufen. Aber in den nächsten Jahren wird die wachsende Armee der Ausgebeuteten und Unterdrückten in der US-Gesellschaft die superreichen Parasit*innen, die auf ihrem Rücken leben, stürzen. Sie werden keine Wahl haben.
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