Leo Trotzki: Vorwort und Nachwort zur gekürzten Ausgabe von „Mein Leben“

[4. Dezember 1933, eigene Übersetzung der englischen Übersetzung]

Vorwort

Dieses Werk wurde vor vier Jahren im Exil auf der Insel Prinkipo in der Nähe von Konstantinopel [Istanbul] verfasst. Man stellt es hier in einer neuen, beträchtlich gekürzten Ausgabe den Lesern zur Verfügung. Der Autor hofft, dass das Werk kaum unter den Kürzungen gelitten hat und dadurch auf jeden Fall den breiten Leserkreisen zugänglich gemacht wurde, für die es von Anfang an bestimmt war.

Leo Trotzki.

Nachwort

Dieses Buch wurde vor etwa vier Jahren geschrieben. Seitdem ist viel Wasser unter der Brücke hindurchgeflossen. Es ist unerlässlich, zumindest einige Zeilen der letzten Periode dieses Lebens zu widmen. Viereinhalb Jahre meiner dritten Emigration bis zu meiner jüngsten Niederlassung in Frankreich vergingen in der Türkei auf der Insel Prinkipo. Es waren Jahre der theoretischen und literarischen Arbeit, hauptsächlich an der Geschichte der Russischen Revolution. Die Verbindung zu den Freunden im Geburtsland war natürlich abgebrochen, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie es die Führer der herrschenden Fraktion wollten und erhofften. Um mich in der Türkei vollständig zu isolieren, scheuten sie vor keinem Mittel zurück. Bljumkin, der 1918 den deutschen Botschafter Mirbach getötet hatte und danach einer der Aktivisten meines militärischen Sekretariats wurde, besuchte mich heimlich in Konstantinopel, um die regelmäßige Übermittlung des von mir herausgegebenen Bulletins der Russischen Opposition in die UdSSR zu organisieren. Bei seiner Rückkehr nach Moskau hatte er die Unvorsichtigkeit oder das Unglück, sich einer Person anzuvertrauen, die ihn verriet. Bljumkin wurde hingerichtet. Er war nicht das einzige Opfer.

Am 11. Januar 1933 schickte ich aus der Türkei einen Brief an das Zentralkomitee der Partei, aus dem ich hier einige Zeilen wiedergebe:

„Ich betrachte es als notwendig, Euch mitzuteilen, wie und weshalb meine Tochter Selbstmord begangen hat.

Ende 1930 habt Ihr auf mein Gesuch meiner tuberkulösen Tochter Sinaida Wolkowa erlaubt, vorübergehend mit ihrem 5-jährigen Sohne Wsewolod zur Kur in die Türkei zu reisen. Ich konnte damals nicht annehmen, dass sich unter diesem Liberalismus Stalins ein Hintergedanke verbarg. Im Januar 1931 kam meine Tochter hierher mit einem beiderseitigen Pneumothorax. Nach 10-monatigem Aufenthalt in der Türkei gelang es, – unter dauerndem Widerstand der ausländischen Sowjetvertretungen – für sie zwecks ärztlicher Behandlung eine Einreiseerlaubnis nach Deutschland zu erhalten. Das Kind blieb vorerst bei uns in der Türkei, um die Kranke nicht zu belasten. Es gelang dem deutschen Arzt nach einiger Zeit, weiteren Pneumothorax überflüssig zu machen. Die Kranke begann sich zu erholen und träumte nun davon, zusammen mit ihrem Kinde in die USSR zurückzukehren, wo ihr Töchterchen geblieben war und ihr Mann, der als Bolschewik-Leninist von Stalin in der Verbannung gehalten wird.

Am 20. Februar 1932 habt Ihr ein Dekret veröffentlicht, das nicht nur mich, meine Frau und meinen Sohn, sondern auch meine Tochter Sinaida Wolkowa der Sowjet-Bürgerrechte für verlustig erklärt.

Im Auslande, wohin Ihr sie mit einem Sowjetpass gelassen habt, hielt sich meine Tochter ausschließlich zu Kurzwecken auf. Sie nahm am politischen Kampfe keinerlei Anteil und hätte schon ihres Gesundheitszustandes wegen daran keinen Anteil nehmen können. Sie vermied alles, was auch nur den Schatten von ,Unzuverlässigkeit‘ auf sie hätte werfen können. Das man ihr die Staatsangehörigkeit nahm, war ein purer und sinnloser Racheakt gegen mich. Für sie persönlich aber bedeutete dieser Akt die Trennung von ihrem Töchterchen, ihrem Mann, all ihren Freunden, von ihrem gewohnten Leben. Ihre durch den Tod der jungen Schwester und danach durch ihre eigene Krankheit ohnehin erschütterte Psyche erlitt einen neuen Schlag, der umso schwerer traf, als er völlig unerwartet und von ihr durch nichts hervorgerufen kam. Die Psychiater erklärten einmütig, dass nur schnellste Rückkehr zu ihren gewohnten Lebensbedingungen, zur Familie, zur Arbeit, sie retten könnte. Aber gerade diese Rettungsmöglichkeit wurde durch Euer Dekret vom 20. Februar 32 genommen. Alle Versuche nahestehender Menschen, eine Aufhebung des Dekrets in Bezug auf die Kranke zu erwirken, blieben, wie Ihr wisst, erfolglos. Die Berliner Ärzte bestanden darauf, dass ihr mindestens das Kind gebracht werde: sie sahen darin noch eine Möglichkeit, das seelische Gleichgewicht der Mutter wieder herzustellen. Da ihr aber auch dem 6-jährigen Knaben das Sowjetbürgerrecht entzogen habt, verzehnfachte das die Schwierigkeit, ihn von Konstantinopel nach Berlin zu bringen. Ein halbes Jahr verging mit ununterbrochenen, ergebnislosen Bemühungen in einigen Ländern Europas. Nur meine zufällige Reise nach Kopenhagen ermöglichte es, den Jungen nach Europa zu bringen. Unter großen Schwierigkeiten machte er die Reise von hier bis Berlin in sechs Wochen. Er hatte kaum eine Woche mit seiner Mutter verbracht, als die Polizei des Generals Schleicher, zweifellos infolge von Intrigen der stalinschen Agenten, beschloss, meine Tochter aus Berlin auszuweisen. Wohin? In die Türkei? Auf die Insel Prinkipo? Aber das Kind braucht eine Schule, die Mutter ständig ärztliche Aufsicht, normale Familien- und Arbeitsumgebung. Der neue Schlag war für die Kranke unverwindbar. Am 5. Januar vergiftete sie sich mit Gas. Sie war 31 Jahre alt.

Im Jahre 1928, bald nach meiner Verbannung nach Alma-Ata, erkrankte meine jüngste Tochter Nina, deren Mann von Stalin nun schon 5 Jahre in einem Isolator eingesperrt gehalten wird, und sie kam ins Krankenhaus. Man stellte galoppierende Schwindsucht fest. Den rein persönlichen Brief von ihr an mich, ohne die geringste Beziehung zur Politik, habt ihr 70 Tage festgehalten, so dass meine Antwort sie nicht mehr lebend erreichte. Sie starb im 26. Lebensjahr…. Ich begnüge mich mit diesen Mitteilungen ohne weitere Schlussfolgerung. Für Schlussfolgerungen wird die Zeit kommen. Diese Schlussfolgerungen wird die wiedererstandene Partei ziehen.“

Trotz aller Vorteile der Türkei als Deportationsort gelang die Isolierung im weiteren Sinne dennoch nicht. Die befreundeten Russen, die deportiert und inhaftiert wurden, wurden durch ausländische Freunde ersetzt, die nicht weniger treu waren. Aus verschiedenen Ländern kamen junge Genossen nach Prinkipo, die bereit waren, mehrere Monate, manchmal sogar ein Jahr und länger, in unserer Familie zu verbringen. Unter ihnen befanden sich Franzosen, Deutsche, Tschechoslowaken, Engländer, Amerikaner, Chinesen und Hindus. Die neuen persönlichen Verbindungen und Freundschaften, die unser Dasein auf der kleinen Insel erleichterten, waren der besondere Ausdruck einer neuen politischen Gruppierung in der Arbeiterbewegung. Die linke russische Opposition nahm allmählich einen internationalen Charakter an. Es entstanden Dutzende von nationalen Sektionen und Publikationen. Es entstand eine umfangreiche Literatur in allen Sprachen der zivilisierten Menschheit. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Zeilen geschrieben werden, hat die linke Oppositionsbewegung endgültig mit der Kommunistischen Internationale gebrochen und sich die Aufgabe gestellt, eine neue Internationale, die Vierte, vorzubereiten…

Hier wird mich ein Skeptiker unweigerlich unterbrechen:

– Wie viele Jahre gehörten Sie der Zweiten Internationale an?

– Von 1897 bis 1914, also mehr als siebzehn Jahre.

– Und dann?

– Dann – Bruch mit der Zweiten Internationale gleich zu Beginn des Krieges und etwa fünf Jahre Kampf für die neue Internationale, die 1919 gegründet wurde.

– Sie waren also 14 Jahre lang Mitglied der Dritten Internationale?

– So ziemlich.

– Und jetzt wollen Sie eine Vierte gründen? Klingt das nicht wie die kreisende Bewegung eines Eichhörnchens in seinem Käfig?

– Nein, das ist nicht dasselbe. Die gesamte Entwicklung der Menschheit verläuft nicht auf einer direkten, sondern auf einer komplexen Linie, da der Weg nicht mit Zirkel und Lineal, sondern durch den Kampf lebendiger Kräfte, die aus verschiedenen Richtungen ziehen, vorgegeben wird. Die historische Bahn der Arbeiterklasse ist keine Ausnahme. Nach jedem großen Erfolg zahlt das Proletariat, die einzige fortschrittliche Klasse der heutigen Menschheit, den Preis neuer Niederlagen, Enttäuschungen und Rückzüge. Die Zweite Internationale hat zu ihrer Zeit eine große erzieherische Aufgabe erfüllt. Aber sie verlor sich durch einen bornierten Geist des Nationalismus und Reformismus. Als der Kapitalismus von der Zeit seines Aufstiegs in die Zeit der Stagnation überging, wurde der Boden unter der Politik der Reformen knapp. Auf der anderen Seite wurden die nationalen Grenzen für die wirtschaftliche Entwicklung eng: Der Sozialpatriotismus nahm einen zutiefst reaktionären Charakter an. Die Zweite Internationale wurde durch die Dritte ersetzt. Die Oktoberrevolution war ihre historische Taufe. Aber auch die Revolution ist ein zutiefst widersprüchlicher Prozess, dessen Etappen durch die Umstände von Zeit und Ort bedingt sind. Aus der Revolution ging eine neue Führungsschicht hervor, die das von der Revolution geschaffene Gesellschaftssystem verteidigte und gleichzeitig verfälschte, indem sie die Maßnahmen des kurzsichtigsten, borniertesten und konservativsten Bürokratismus ergriff. Durch die Autorität der Oktoberrevolution hat sich die sowjetische Bürokratie die Kommunistische Internationale untergeordnet, sie entpersönlicht und machtlos gemacht. In den letzten Jahren hat sie dem Proletariat nichts als ein erstickendes Polizeiregime, tödliche Fehler und schwere Niederlagen gebracht. Im Ergebnis hat sie, was auch immer sie wollte, zu einer vorübergehenden Wiedergeburt der von der Geschichte verurteilten sozialdemokratischen Parteien beigetragen. Indem sie sie mit Worten wütend bekämpfte und ihnen in Wirklichkeit das Feld überließ, öffnete sie die Türen für eine in der Geschichte beispiellose Reaktion. Der Sieg des deutschen Faschismus ist durch die kombinierten Kapitulationen der Zweiten und Dritten Internationale bedingt.

Solche Verbrechen können nicht verziehen werden. Die Parteien, die der größten politischen Katastrophe schuldig sind, sind dazu verurteilt, in die Ecke gedrängt zu werden. Aus der gegenwärtigen schrecklichen Reaktion wird das Proletariat früher oder später wieder auf den revolutionären Weg zurückkehren. Aber es wird seine Phalanx unter einer neuen Fahne versammeln. Darin liegt der historische Sinn der Vorbereitung einer Vierten Internationale. Mögen die Herren Skeptiker kichern und schimpfen! Die Geschichte wird nicht von Skeptikern gemacht. Auf jeden Fall ist dieses Buch nicht für Skeptiker geschrieben.


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