Leo Trotzki: Brief an das Politbüro der WKP(B)

[15. März 1933, eigene Übersetzung des russischen Textes. Korrekturen von russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen. Der Brief, den Trotzki erst anderthalb Monate nach seiner Versendung bekannt machte, war ein „letzter“ Versuch in Richtung Reformierbarkeit des stalinistischen Regimes angesichts der Bedrohung der den deutschen Faschismus.]

Geheim

An das Politbüro der WKP(B)

ich halte es für meine Pflicht, noch einen Versuch zu machen, mich an das Verantwortungsgefühl derjenigen zu wenden, die in der gegenwärtigen Zeit den Sowjetstaat leiten. In die Lage im Lande und in der Partei haben Sie mehr Einblick als ich. Wenn die innere Entwicklung weiter auf der Bahn verlaufen wird, auf welcher sie jetzt verläuft, ist eine Katastrophe unausbleiblich. Es gibt keine Notwendigkeit in diesem Brief eine Analyse der aktuellen Lage zu geben. Dies wurde in Nr. 33 des „Bulletin“ getan, welches dieser Tage erscheint. Die feindlichen Kräfte in Verbindung mit den Schwierigkeiten werden die Sowjetmacht in anderer Form, aber nicht weniger heftig schlagen als der Faschismus das deutsche Proletariat schlägt. Vollkommen hoffnungslos und tödlich ist der Gedanke mit der derzeitigen Lage mit Hilfe allein von Repression fertig zu werden. Dies wird nicht gelingen. Der Kampf hat seine eigene Dialektik, deren Umschlagpunkt Sie längst hinter sich gelassen haben. Repression wird je weiter umso mehr ein Resultat herbeiführen, das im Gegensatz zu dem ist, auf was sie berechnet ist: sie wird den Gegner nicht erschrecken, sondern ihn umgekehrt aufwecken, in ihm die Energie der Verzweiflung hervorrufen. Die nächstgelegene und unmittelbarste Gefahr ist Misstrauen in die Führung und wachsende Feindschaft zu ihr. Sie wissen davon nicht weniger als ich. Aber Sie drängt die Trägheit Ihrer eigenen Politik auf die schiefe Bahn, aber am Ende der schiefen Bahn ist der Abgrund.

Was muss man tun? Zuallererst die Partei wiederbeleben. Dies ist ein schmerzlicher Prozess, aber er muss durchlaufen werden. Die Linke Opposition – ich zweifle daran nicht eine Minute – wird sich bereit erweisen, dem ZK vollen Beistand dabei zu leisten, um die Partei ohne Erschütterungen oder mit den geringsten Erschütterungen auf die Bahn einer normalen Existenz zu bringen.

Bezüglich dieses Vorschlags wird jemand von Ihnen sagen, dass vielleicht die linke Opposition auf diesem Weg an die Macht kommen will. Darauf antworte ich: Es handelt sich um etwas unausbleiblich größeres als die Macht Ihrer Fraktion oder der linken Opposition. Es handelt sich um das Schicksal des Arbeiterstaats und der internationalen Revolution auf viele Jahre. Selbstverständlich wird die Opposition bloß in jenem Falle dem ZK helfen können, in der Partei ein Regime des Vertrauens wiederherzustellen – das ohne Parteidemokratie undenkbar ist – falls die Opposition selbst wieder die Möglichkeit zu normaler Arbeit innerhalb Partei erhält. Nur offene und redliche Zusammenarbeit der historisch aufgekommenen Fraktionen mit dem Ziel ihrer Verwandlungen in Strömungen der Partei und ihrer fernerеn Auflösungen in ihr kann unter den gegebenen konkreten Bedingungen das Vertrauen zur Führung wiederherstellen und die Partei wiederbeleben.

Es gibt keinen Grund, den Versuch von Seiten der linken Opposition zu fürchten, die Spitze der Repression umzudrehen: Eine solche Politik wurde bereits ausprobiert und bis zur Neige erschöpft; die Aufgabe besteht jedoch genau darin, mit gemeinsamen Kräften diese Folgen zu beseitigen.

Die linke Opposition hat ihr Aktionsprogramm sowohl in der UdSSR als auch in der internationalen Arena. Vom Aufgeben dieses Programms kann natürlich keine Rede sein. Aber hinsichtlich des Verfahrens der Darstellung und Verteidigung dieses Programms vor dem ZK und und vor der Partei, nicht zu reden von Verfahren seiner wirklichen Durchführung im Leben, kann und muss eine vorhergehende Vereinbarung mit dem Ziel erreicht werden, Brüche und Erschütterungen zu vermeiden. Wie angespannt die Atmosphäre auch sein mag, man kann sie doch bei gutem Willen auf beiden Seite in einigen aufeinanderfolgenden Etappen entschärfen. Aber das Ausmaß der Gefahr setzt diesen guten Willen voraus, richtiger: diktiert ihn. Das Ziel des vorliegendеn Briefes ist, das Vorhandensein von gutem Willen bei der linken Opposition zu erklären.

Ich schicke diesen Brief in einem Exemplar, ausschließlich an das Politbüro, um ihm die erforderliche Freiheit in der Auswahl der Mittel zu lassen, falls es es wegen der ganzen Lage für erforderlich halten sollte, ohne jede Öffentlichkeit in vorhergehende Verhandlungen einzutreten.

15. März 1933, Prinkipo

L. Trotzki


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