Resolution der RCP-Konferenz zur Sowjetunion

[Veröffentlicht in Workers International News, Jg. 6, No. 9, September-Oktober 1946, S. 267-269]

Die Konferenz bekräftigt die grundlegenden programmatischen Auffassungen der Vierten Internationale in Bezug auf die Sowjetunion, auf den Doppelcharakter des Gesellschaftssystems in der UdSSR als eines Übergangsregimes zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in dem daher sowohl kapitalistische als auch sozialistische Kräfte miteinander im Konflikt stehen.*

Sie erklärt, dass die Bezahlung der Lohnarbeit, die Produktion von Waren, die Zirkulation des Geldes und die Differenzierungen, die auf der Grundlage dieser kapitalistischen sozialen Beziehungen bestehen, dem Staat (der in Bezug auf die Volkswirtschaft dieselbe Stellung einnimmt wie der Kapitalist in Bezug auf ein einzelnes Unternehmen) in den ersten Stadien selbst einer gesunden proletarischen Revolution einen kapitalistischen Charakter verleihen. In diesem Sinne existiert der kapitalistische Staat, aber ohne eine Kapitalistenklasse.

Soweit der Staat in Russland bürokratisch, degeneriert und totalitär ist, was die Tendenz zur kapitalistischen Differenzierung fördert, nehmen die kapitalistischen Merkmale dieses Staates enorme und wachsende Ausmaße an. Dennoch ist es falsch, aus diesen Merkmalen den Schluss zu ziehen, die russische Wirtschaft sei eine staatskapitalistische Wirtschaft.

Der grundlegende Klassencharakter der UdSSR als Arbeiterstaat, der in Richtung Kapitalismus degeneriert ist, wird für uns auf der Grundlage der Verstaatlichung des Bodens, der grundlegenden Produktions-, Transport- und Tauschmittel, des Planwirtschaftssystems und des in den Händen des Staates befindlichen Außenhandelsmonopols festgestellt. Diese bleiben die grundlegenden Errungenschaften der Oktoberrevolution von 1917 und sind die wirtschaftliche Voraussetzung für unsere Klassencharakterisierung.

Neben vielen anderen Faktoren, die Leo Trotzki feststellte, führten die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft im Jahr 1917 und die Isolierung und Einkreisung durch die imperialistischen kapitalistischen Staaten zur politischen Enteignung des Proletariats und zur Verankerung der totalitären stalinistischen Bürokratie in der vollständigen Kontrolle des Staatsapparats und der wirtschaftlichen Lebensmittel des russischen Volkes, was die wirtschaftliche Ausbeutung der russischen Arbeiter und Bauern durch die Staatsbürokratie zur Folge hatte. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Rubelmillionäre auf der Grundlage der kapitalistischen Entartungsformen. Diese Veränderungen bezeugen, dass die Doppelnatur des russischen Staates zum Kapitalismus zurückführen kann, wenn es den Arbeitern Russlands nicht gelingt, der Bürokratie die politische Kontrolle und die damit verbundene Lenkung der Wirtschaft zu entziehen, ebenso wie die Verstaatlichung zur Weiterentwicklung der sozialistischen Wirtschaft führen kann, wenn die Arbeiterklasse, wie in den Anfängen der russischen Revolution, die Kontrolle wieder in die eigenen Hände nimmt.

Die Verteidigung des Staatseigentums gegen die Übergriffe von Privatpersonen, gegen die Übergriffe der Bürokratie und gegen die wirtschaftliche Durchdringung und den eventuellen militärischen Angriff des Weltimperialismus ist eine fortschrittliche historische Aufgabe, der sich die Vierte Internationale mit den Mitteln der revolutionären kommunistischen Politik gestellt hat. Die Konferenz bekräftigt ihre uneingeschränkte Solidarität mit der Notwendigkeit dieser Verteidigung und mit den im Programm der Vierten Internationale festgelegten Methoden, wie sie bisher von der RCP propagiert wurden.

Die Konferenz lehnt die Auffassung ab, dass die russische Gesellschaft eine neue Form der Klassenausbeutungsgesellschaft ist, die soziologisch als Managergesellschaft oder bürokratischer Kollektivismus definiert wird. Sie erklärt, dass diese Theorien in Bezug auf die Marxsche Ökonomie im Wesentlichen revisionistisch sind, dass sie die Philosophie des Pragmatismus an die Stelle des historischen Materialismus setzen und unweigerlich zu einem vollständigen Bruch mit dem Kommunismus und zu weiterem theoretischen Revisionismus und falscher Politik im Klassenkampf führen müssen, wie sie es bereits bei denjenigen getan haben, die diese Theorien in der Vergangenheit übernommen haben. Die Konferenz lehnt die Auffassung dieser revisionistischen Tendenz ab, dass wir in Bezug auf Russland im Krieg genauso Defätisten sind wie wir es in Bezug auf die kapitalistischen Mächte sind.

Der Übergangscharakter der UdSSR erfordert, dass wir unserer Theorien im Lichte der sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen ständig überprüfen. Die weitere Verfestigung der Bürokratie, die zunehmende Differenzierung der sozialen Verhältnisse der russischen Bevölkerung und die Ausweitung des kapitalistischen Erbrechts sind Prozesse, die eine ständige Überprüfung des soziologischen Charakters der russischen Gesellschaft durch die Organisationen der Vierten Internationale erforderlich machen. Eine solche Überprüfung ist vor allem in Anbetracht der sozialen Veränderungen notwendig, die in den von Russland besetzten und kontrollierten Ländern Osteuropas bereits stattgefunden haben und sich noch entwickeln.

Die Konferenz stellt fest, dass unsere eigene Organisation und vor allem die führenden Genossen es ebenso wie alle anderen Sektionen der Vierten Internationale versäumt haben, die in diesen osteuropäischen Ländern stattfindenden sozialen Umwälzungen zu untersuchen und zu erklären, den Klassencharakter des Prozesses festzustellen und insbesondere den Klassencharakter der entstandenen Staaten zu bestimmen. Dies ist ein Zeichen für das theoretische Zögern und die Unentschlossenheit unserer gesamten internationalen Bewegung angesichts neuer und erstaunlich komplizierter spezieller Phänomene.

In der Tschechoslowakei wie auch in den anderen Ländern, in denen vor allem als Folge des Krieges und der Auswirkungen der russischen Besatzung und des Aufstandes der Arbeiter und Bauern, den das Herannahen der Roten Armee auslöste, der Boden von den Großgrundbesitzern konfisziert und verstaatlicht oder zerschlagen wurde, oder die Produktions-, Transport- und Tauschmittel verstaatlicht wurden, verteidigt die RCP diese Verstaatlichungs- und Reformmaßnahmen gegen die Konterrevolution und versucht, diese neuen Eigentumsformen auf der Grundlage der Arbeiterkontrolle und der Ergreifung der Staatsmacht durch das Proletariat zu erweitern. Trotz der umfangreichen Maßnahmen gegen das Privateigentum an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln teilen die Parteien der Arbeiterklasse in diesen Ländern die Macht mit den Kapitalisten und binden die liberalen und noch reaktionäreren Teile der Bourgeoisie in den politischen Staatsapparat und die wirtschaftliche Organisation ein. Der genaue Charakter der Regime in der Tschechoslowakei und in Osteuropa, die im Wesentlichen Übergangsregime sind, muss auf der Grundlage einer gründlichen Analyse der wirtschaftlichen und politischen Transformation (die umfassende Daten erfordert) in einer internationalen politischen Diskussion festgestellt werden. In Anbetracht der Verwirrung, die zweifellos in den Reihen der Vierten Internationale besteht, und der Dringlichkeit der Klärung dieses Problems für die gesamte Zukunft der Internationale fordert die Konferenz das IS auf, eine Erklärung abzugeben, in der sie ihren Standpunkt darlegt, mit dem Zweck, eine internationale Diskussion in Gang zu setzen. Die Konferenz weist das PB an, eine Diskussion in der theoretischen Zeitschrift der britischen Partei zu eröffnen.

* Die kapitalistischen Kräfte innerhalb der Sowjetunion sind während des Krieges zweifellos gestärkt worden, aber die folgende Definition des Doppelcharakters der Sowjetunion, die Trotzki 1935 [1936] gegeben hat, bleibt im Wesentlichen richtig.

„Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der a) die Produktivkräfte noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter zu verleihen, b) das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation allenthalben durch die Poren der Planwirtschaft dringt, c) die bürgerlich bleibenden Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrunde liegen, d) der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert und die rasche Herausschälung einer privilegierten Schicht fördert, e) die Bürokratie unter Ausnutzung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden Kaste wurde, f) die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen und dem Bewusstsein der Werktätigen noch fortlebt, g) die Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin als auch zum Kapitalismus zurückführen kann, h) auf dem Wege zum Kapitalismus eine Konterrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müsste, i) auf dem Wege zum Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müssten. Letzten Endes wird die Frage sowohl auf nationaler wie internationaler Arena durch den Kampf der lebendigen sozialen Kräfte entschieden werden.“ (Die verratene Revolution. S. 255)


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert