Leo Trotzki. Zum Gedenken an P. A. Slydnew

[„Bor’ba“ Nr. 3, 9./22. April 1914. Eigene Übersetzung des russischen Nachdrucks in Политические силуэты {Polititschkije Siluety}]

Die russische Sozialdemokratie tritt unmerklich in den Sommer ein. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sie in Kinderschuhen zu laufen schien, aber man sieht sich um: wie viele Gräber liegen schon hinter uns! … Die Sozialdemokratie kann nicht alt und senil werden: die Parteien, die sich mit der Wirklichkeit versöhnen, werden politisch senil. Aber die Sozialdemokratie ist unversöhnlich. Sittliche und politische Frische ist ihr gewiss – bis sie vollbringt, was für sie vorgesehen ist. Aber wir haben die Epoche der Jugend verlassen und treten in die Epoche der Reife ein. Auf äußerliche Weise überzeugt man sich davon jedes Mal, wenn man auf die Gräber zurückblickt, von denen es schon so viele gibt …

Das Grab Pjotr Alexandrowitschs befindet sich im fernen Tschita, denn er gehörte zu jenem Schlag von russischen Menschen, für die der Wohnort von anderen bestimmt wird, auch wenn sie niemand darum bittet. Slydnew wurde irgendwo im Süden geboren, anscheinend in Nikolajew; in den entscheidenden Monaten des Jahres 1905 stand er in in der ersten Reihe der Arbeiter Petersburgs und starb in Tschita, kaum dass er die volle Reife erlangt hatte: Pjotr Alexandrowitsch war kaum älter als 35 Jahre alt.

Gibt es heute noch viele Arbeiter in der Obuchow-Fabrik, die Slydnew persönlich kannten? Wenn es möglich wäre, eine Zählung vorzunehmen, würde dies ein grelles Licht auf die Unbeständigkeit des Schicksals des fortgeschrittenen russischen Arbeiters werfen. Alles, was damals, 1905, aus der Arbeitswelt hervortrat, alles, was den Stempel der Außergewöhnlichkeit, des Talents, des Mutes trug, wurde weggeschnappt, eingesperrt, weggeworfen: durch solche Maßnahmen hofft man, den politischen Wachstumsprozess der Arbeiterklasse zu verzögern, wenn nicht völlig aufzuhalten. Aber wie ein Organismus wächst und erstarkt, indem er seine Zellen erneuert, so reift auch die Klasse unwiderstehlich, indem sie den inneren Gesetzen ihrer Entwicklung gehorcht und nicht den Polizeivorschriften. Aber die einzelnen Zellen der Klasse – die lebenden Menschen – nutzen sich unter unseren Bedingungen schnell ab und sterben weg.

Slydnew starb an Herzlähmung. Dass sein Herzmuskel schwach war, erfuhren selbst seine engsten Freunde erst im Gefängnis, 1906, als sie mit Pjotr Alexandrowitsch auf den Prozess gegen den Sowjet der Arbeiterdeputierten warteten. Als sich ein grünlicher Farbton, der die Gefängnisnorm weit übertraf, auf sein Gesicht legte und sich zwei unheilverkündende dunkle Ringe um seine Augen legten, antwortete Pjotr Alexandrowitsch auf die Frage nach der Ursache lakonisch: „Das Herz rast“. Und wir erfuhren, dass Slydnew ein schlechtes Herz hatte. Vorher wussten wir nur, dass er ein redliches und mutiges Herz hatte.

Sein Mut war echt, von höchstem Niveau, geadelt durch das Bewusstsein seiner eigenen Würde und eine ihn nie verlassende Selbstbeherrschung. An ihm war etwas Festes, Zuverlässiges, innerlich Stabiles und Beruhigendes.

Und sein Aussehen war ungeachtet seines kranken Herzens ebenso zuverlässig: mittelgroßer Wuchs, eher unterdurchschnittlich, stämmig, breitschultrig, rundes Gesicht, ausgeprägte Wangenknochen und gelassen-scharfsinnige kleine Augen, in denen sich jedoch die Zuneigung seines Kopfes befand und seine ganze Erscheinung auflockerte.

Der Einfluss Slydnews wuchs mit außergewöhnlicher Schnelligkeit – wie alles, was in dieser ungewöhnlichen Zeit geschah, und er, der gestern aus der Provinz Gekommene, nahm diese Tatsache ohne Verwunderung und ohne Pose, einfach und selbstverständlich hin. Er selbst machte keinen Schritt, sagte kein Wort, das von dem Streben nach Popularität, von der Bestrebung, „eine Rolle zu spielen“, diktiert worden wäre.

Dieser kleine Ehrgeiz billiger Naturen war ihm vollkommen fremd. Er hat sich nie bei den Massen eingeschmeichelt und war auch nicht im Geringsten „schüchtern“ gegenüber den aus dem Ausland angereisten „Führern“, die damals zum ersten Mal den russischen Arbeitermassen von Angesicht zu Angesicht begegneten. Er war immer ausgeglichen und sich selbst treu, sagte wenig und nur das, was er dachte. Er war kein feuriger Redner, – er erläuterte mehr und wog ab, als dass er aufrief.

Es gab Redner, die die Zuhörer unvergleichlich mehr entflammten als er, aber wenn es um die Frage der Vertretung ging – sei es einer Werkstatt, einer Fabrik, eines Bezirks oder des gesamten Petersburger Proletariats –, wurde als erstes der Name Slydnews genannt. Von der Obuchow-Fabrik wurde er im Februar in die Kommission des Senators Schidlowski berufen.

Im Oktober war er einer der ersten, die in den Sowjet der Arbeiterdeputierten gewählt wurden.

Vom Newski-Bezirk wurde er in den Exekutivausschuss des Sowjets gewählt.

Als ein dreiköpfiges Präsidium an die Spitze des Sowjets gesetzt wurde, wurde Slydnew fast einstimmig in dieses gewählt. Als der Sowjet eine Deputation zum Grafen Witte schickte, stand Slydnew beide Male an der Spitze der Deputation. Und schließlich, als die Angeklagten im Prozess des Sowjets beschlossen, vor dem Gericht zu erklären, dass ihre Teilnahme am Prozess allein durch den Wunsch nach historischer Wahrheit begründet war, wurde Slydnew einstimmig dazu bestimmt, diese Erklärung abzugeben. Sein klarer, realistischer Verstand, seine Selbstbeherrschung und seine moralische Festigkeit machten ihn zu einem natürlichen Vertreter jedes Kollektivs, dem er angehörte.

Pjotr Alexandrowitsch durfte nicht zur politischen Tätigkeit zurückkehren. Das Gericht verbannte ihn zur Ansiedlung in Sibirien, „unter Entzug aller Rechte“. Unter diesen scheinbaren „Rechten“ des russischen Proletariers gab es ein tatsächliches, das Slydnew durch die Verbannung entzogen wurde: das Recht, in den Reihen seiner Klasse zu kämpfen. Und bevor die Umstände ihm dieses wichtigste der „Rechte“ des Arbeitersozialisten zurückgeben konnten, hatte ihn der Tod für immer aus unseren Reihen gerissen. Die Sozialdemokratie hat mit ihm eine herausragende Persönlichkeit verloren, und wir, die wir ihn näher kannten, haben mit Pjotr Alexandrowitsch einen Freund verloren, den wir schätzen und lieben gelernt haben.


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