Leo Trotzki: Nach der österreichischen Niederlage

[13. März 1934, eigene Übersetzung des englischen Textes in Writings of Leon Trotsky, Bd. 14, verglichen mit der französischen Übersetzung in Œuvres, Bd. 3, November 1933 – April 1934, dort unter dem Titel „Un appel pour un nouveau drapeau“, „Ein Appell für ein neues Banner“]

Genossin Reeses Broschüre spricht mehr aus direkter politischer und persönlicher Erfahrung als aus allgemeinen theoretisch-historischen Überlegungen – und das ist ihre Stärke. In ihr wird jeder denkende Arbeiter die großen Ereignisse in Deutschland miterleben und die politischen Folgen, die sie mit sich brachten, schmecken. Das ist auch für die deutschen Arbeiter notwendig, aber besonders nützlich wird diese Broschüre für die Arbeiter der Länder sein, in denen der Faschismus sich gerade anschickt, die Staatsmacht in einen mörderischen Knüppel gegen das Proletariat zu verwandeln. Es wird nur möglich sein, den Aktivitäten der Faschisten Einhalt zu gebieten, wenn die Avantgarde des internationalen Proletariats die Ursachen der schrecklichen Niederlage des deutschen Proletariats durchlebt, durchdacht und gründlich verstanden hat.

Die Broschüre der Genossin Reese ist eine Anklage gegen die beiden Apparate, die bei der Sabotage der proletarischen Revolution eine Rolle spielten: die deutschen Sektionen der Zweiten und der Dritten Internationale. Obwohl ihre Beweggründe und Methoden in der Tat unterschiedlich waren, waren die Ergebnisse, die sie herbeiführten, ebenso fatal. Die proletarische Partei beweist ihre Stärke in einer revolutionären Lage wie eine Armee sie im Krieg beweist. Die bloße Tatsache, dass die Widersprüche der bürgerlichen Demokratie so groß geworden waren, dass sie nicht mehr mit demokratischen Methoden gelöst werden konnten, bedeutete für die Sozialdemokratische Partei den politischen Tod. Die Tatsache, dass die Kommunistische Partei dieser beispiellosen Verschärfung der Widersprüche hilflos, verwirrt und ohne Plan gegenüberstand, ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass ihre bisherigen theoretischen und politischen Positionen und ihre Ausbildung unzureichend und falsch waren.

Das Verhalten der österreichischen Sozialdemokratie nach der deutschen Erfahrung hat bewiesen, dass selbst die „linken“ Parteien der Zweiten Internationale völlig verknöchert, festgefahren und unfähig zum Ziehen der revolutionären Lehren aus der schrecklichen Erfahrung des deutschen Proletariats sind. Die mutigen Kämpfe der österreichischen Arbeiter beweisen nur, dass das Proletariat auch unter den ungünstigsten Bedingungen und unter der schlechtesten Führung kühn und kampfbereit sein kann. Die Tatsache, dass einige sozialdemokratische Führer an den Kämpfen teilgenommen haben, ist bestenfalls ein Zeugnis ihrer persönlichen Tapferkeit. Aber die Arbeiterklasse verlangt von ihrer Führung politische Einsicht und revolutionären Mut. Persönliche Tugenden – und noch dazu solche, die durch den Druck der Ereignisse hervorgerufen werden – können einen Mangel an diesen Eigenschaften nicht ersetzen. Auch der engstirnige Kleinbürger ist zuweilen in der Lage, mit der Pistole zu reden, wenn ihm der Entzug seiner Bequemlichkeit und die Verdrängung aus seiner gewohnten Lebensweise drohen. Was aber notwendig ist, ist eine systematische revolutionäre Erziehung der Vorhut und die Gewinnung des Vertrauens der Mehrheit des Proletariats in die praktische Intelligenz und den Mut des proletarischen Generalstabs. Ohne diese Vorbedingung ist ein Sieg völlig unmöglich. Jahrelang drohte die österreichische Sozialdemokratie, mit Gewalt zu antworten, wenn ihre demokratischen Rechte angetastet wurden. Sie hat die revolutionäre Aktion in eine legalistisch-literarische Drohung verwandelt, die sie selbst nicht ernst genommen hat. Nur eine Führung, die von vornherein erkennt, dass die Revolution unausweichlich ist, die dies zum handlungsleitenden Prinzip macht und alle praktischen Konsequenzen daraus zieht, kann der Lage in der kritischen Stunde gerecht werden. So ist der Bankrott der Zweiten Internationale in Österreich – trotz der heroischen Aktionen des österreichischen Proletariats und in gewissem Maße auch wegen dieser Aktionen – nicht weniger klar und sicher als in Deutschland.

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem Beispiel des kleinen Norwegens zu. Auch dort finden wir eine nur zahlenmäßig „starke“ sozialdemokratische Partei. Diese Partei, die von Tranmæl geführt wird, steuert, obwohl sie bisher durch widrige Umstände daran gehindert wurde, sich offiziell der Zweiten Internationale anzuschließen, genau den gleichen Kurs wie die Austromarxisten, macht ihren „siegreichen Vormarsch“ und strebt daher mit aller Macht danach, dem norwegischen Faschismus den Weg zu ebnen.

Aber auch in der Dritten Internationale ist die Lage nicht besser. Leute, die in den deutschen und österreichischen Ereignissen nur die Bestätigung der sogenannten Prognose der Kominternführung lesen, stellen nichts anderes als bürokratische Dummheit in ihrer reinsten Form dar. Wenn sie aus der passiven, demoralisierenden Untätigkeit der deutschen Kommunistischen Partei und der völligen Enthaltung der österreichischen Kommunistischen Partei in der Schicksalsstunde nichts gelernt haben, was um alles in der Welt könnte sie dann noch etwas lehren? In der Zwischenzeit stellen wir fest, dass die Theorie des „Sozialfaschismus“ in der französischen, englischen und jeder anderen Sektion der vom Unglück verfolgten Komintern wieder einmal in voller Blüte steht. Die kommunistischen Bürokraten stopfen ihren Mund mit Losungen wie „Oktoberrevolution“, „Sowjets überall“ usw. voll. Aber sie verstehen den ersten Buchstaben im Alphabet der proletarischen Revolution nicht. Die Sowjets entwickeln sich aus den Organisationsformen der Einheitsfront der Arbeiterklasse im Kampf. Aus Verteidigungsaktionen, Straßendemonstrationen, großen Streiks usw. entsteht die organisatorische Vereinigung der Arbeitermassen, die sogar die konservativen Organisationen zwingt, sich anzuschließen, und sei es auch nur in der Absicht, die Organisation auf Dauer zu zerstören (die Menschewiki 1917, die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten 1918-19). Die stalinistischen Parteien, die jede Form der Einheitsfront verleugnen, sabotieren und zerstören, blockieren in der Praxis den Weg zur Bildung von Sowjets. Und die gescheite Weisheit des „Sozialfaschismus“ war und ist die theoretische Krönung dieser Sabotage der Revolution.

Man kann aus den Ereignissen keine andere Lehre ziehen als die Schlussfolgerung, dass eine neue revolutionäre Auswahl notwendig ist. Die proletarische Avantgarde muss unter einem neuen Banner versammelt werden, d.h. es müssen neue Parteien und eine neue Internationale gebildet werden. Mit diesem Aufruf endet das Pamphlet von Maria Reese. Und genau darin liegt ihr politisches Verdienst.


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