Leo Trotzki: Entweder zum Opportunismus oder zum Marxismus, es gibt keinen anderen Weg

[veröffentlicht am 8. Juni 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes in Œuvres 4, Avril 1934 – Décembre 1934, verglichen mit der englischen Übersetzung in Writings of Leon Trotsky, Bd. 6, dort unter dem Titel „Conversation with a dissident from Saint-Denis“, „Gespräch mit einem Dissidenten aus Saint-Denis“]

(Gespräch mit einem Genossen aus dem Bezirk Saint-Denis)

– Wenn man der „Humanité“ glauben wollte, folgt ihr uns ins „Lager der Konterrevolution“. Wann wird also euer Ausschluss aus der Kommunistischen Partei kommen? Und was gedenkt ihr zu tun?

– Unsere Ausschlüsse wird das Zentralkomitee bald beschließen. Aber schon jetzt hat der Rayon von Saint-Denis mit über 3001 Stimmen gegen nur wenige Stimmen beschlossen, die Beziehungen zur Parteiführung abzubrechen. Was wir tun werden? Unser Wachkomitee am Leben erhalten und den Arbeitern helfen, andere im ganzen Land zu gründen, um dem Faschismus zu widerstehen.

– Die Aktionseinheit der Arbeiter zu erreichen, ist sehr gut; wir haben euch in diesem Punkt unterstützt, für den wir seit Jahren kämpfen (erinnere dich an die Ereignisse in Deutschland). Um zu kämpfen, muss die Arbeiterklasse trotz aller politischen Spaltungen vereint sein; Reformisten und Revolutionäre müssen die Reihen schließen. Aber wenn du mit der Kommunistischen Partei brichst, weil sie Lenins Lehren über die Einheitsfront mit Füßen tritt, glaube ich nicht, dass du darauf bestehst, Lenins Lehren über das Problem der Partei mit Füßen zu treten. Wenn die Partei, die sich „kommunistisch“ nennt, und die Dritte Internationale nicht mehr die Organisation der marxistischen Avantgarde des Proletariats sind, muss man eine neue Partei, eine Vierte Internationale, wieder aufbauen. Wird sich dein Rayon an solch eine Aufgabe machen?

– Wir wollen Lenins Lehren nicht mit Füßen treten, aber wir weigern uns, euch zu folgen, um eine Partei und eine Internationale zu schaffen. Das sind keine Organisationen, die man willkürlich aufbaut.

– Ich stimme mit dir überein, dass es schädlich ist, willkürlich Organisationen aufzubauen: Deshalb haben wir, die Ligue Communiste, die Amsterdam-Pleyel-Bewegung bekämpft, 2die ein Apparat war, der dazu diente, der Aktionseinheit mit den sozialistischen Organisationen auszuweichen, indem er sich des Deckmantels literarischer und künstlerischer Persönlichkeiten bediente, über deren Talente ich nicht urteilen kann, die aber vor den Organisationen der Arbeiterklasse absolut keine Verantwortung haben.

Ihr habt in der Aktion erkannt, dass Amsterdam-Pleyel es nicht erlaubt hat, eine wirkliche Aktionseinheit der Arbeiter zu gewährleisten. Andere (Autonomer Angestelltenverband, Action Socialiste usw.) sind zu den gleichen Schlussfolgerungen gekommen. Es ist notwendig, sich zu verständigen, um diese willkürliche Kombination abzuschaffen, die nur einige Versammlungen veranstalten kann, auf denen ein Thorez paradieren kann, die aber infolgedessen Hindernisse für die Aktionseinheit in jeder Gemeinde, in jedem Viertel schaffen kann, indem sie sich allen Komitees der wirklichen Organisationen, die es geben kann, entgegenstellt.

Schaffen wir die künstlich errichteten Organisationen ab. Aber die Arbeiterklasse braucht eine Partei, eine Kommunistische Internationale. Wenn es noch keine gibt, müssen wir daran arbeiten, sie aufzubauen; wir müssen das Problem klar formulieren. Das heißt nicht, dass wir es in ein paar Tagen lösen können.

– Natürlich ist es nicht willkürlich zu sagen, dass die Arbeiterklasse eine kommunistische Partei braucht, aber um sie aufzubauen, braucht man bestimmte Bedingungen. Es wäre heute verfrüht, die Massen würden ihr nicht folgen. Sie werden den Wachsamkeitskomitees folgen, sie sind für die Aktionseinheit. Wenn man, wie ihr, die Frage nach der Gründung einer neuen Partei stellt, erscheint man als Spalter und isoliert sich von den Massen.

– Das Argument der „Spalter“ kann ich nicht gelten lassen; Du bist Kommunist und weißt daher sehr wohl, dass die Avantgarde des Proletariats zu sammeln nicht nur bedeutet, sie nicht zu spalten, sondern die Grundvoraussetzung zu schaffen, um sie im Kampf zu sammeln. Aber ich werde eure anderen Argumente aufgreifen: es ist zu früh, wir sind zu wenige. Ihr führt Argumente der Opportunität an, aber nicht der Prinzipien. Ist es zu früh, weil die Massen nicht da sind? Erstens bin ich mir sicher, dass wir zahlreicher sind als Lenin Ende 1914, als er verkündete „Es lebe die Dritte Internationale“; er kannte die Massen gut und hatte in bestimmten Momenten keine Angst, fast allein zu sein Zweitens, wie kann man die Massen zu einer Idee, zu einer Konzeption führen, ohne sie ihnen klar zu erklären? Es kann nicht früh genug sein, eine klare politische Grundlage zu schaffen, und das ist das sicherste Mittel, um zahlreicher zu werden.

– Ihr vergesst die Hauptaufgabe der gegenwärtigen Stunde: dem Faschismus den Weg zu versperren und dafür die Wachsamkeitskomitees zu entwickeln, sie an die Massen zu binden. Eine neue Organisation der proletarischen Avantgarde kann sich in der Aktion herauskristallisieren und nicht in Kämpfen um Thesen.

– Ich bin weit davon entfernt, Reaktion und Faschismus zu vergessen, und gerade um sie zu bekämpfen, stelle ich die Frage der Partei, ohne sie der Arbeit der Einheitsfront gegenüberzustellen, sondern im Gegenteil, indem ich sie mit ihr verbinde. Um dem Faschismus den Weg zu versperren, um ihn ein für alle Mal zu versperren, reicht es nicht aus, dass die Arbeiter ihm physisch auf Demonstrationen entgegentreten; es reicht nicht aus, seine Schandtaten in Deutschland und Italien anzuprangern. Heute verteidigen wir uns gegen den Aufstieg der Reaktion, aber – und das habt ihr in eurem „Offenen Brief an die Komintern“ gesagt – um wirksam zu sein, muss sich dieser Widerstand in einen Kampf um die Macht verwandeln. Das Wachsamkeitskomitee – das hast du richtig geschrieben – muss ein Schritt in Richtung Sowjets sein. Aber sage mir, von wem können wir die richtigen Losungen für den Kampf des Wachsamkeitskomitees erwarten, ein Aktionsprogramm, um das herum der langsame Prozess der Sammlung der Massen voranschreiten sollte? Sicherlich nicht von der Sozialistischen Partei; ein antifaschistisches Komitee ist kein Jungbrunnen, an dem sich die altersschwache Sozialdemokratie verjüngen kann. Auch nicht von den Massen insgesamt; die Massen machen ihre eigenen Erfahrungen, die es ihnen erlauben, den revolutionären Weg zu wählen und zu beschreiten, aber unter der Bedingung, dass sie eine Avantgarde finden, die ihnen in jeder Phase des Kampfes die Lage erklärt, ihnen die zu erreichenden Ziele, die anzuwendenden Methoden und die endgültigen Perspektiven aufzeigt. Nur über einen ersten Kern, der auf unabhängige und disziplinierte Weise handelt, kann die Auswahl innerhalb des Wachsamkeitskomitees erfolgen. Ohne sie hätte selbst die zahlreichste Ansammlung von Arbeitern keine Zukunft.

Das Wachsamkeitskomitee ist keine ausreichende Basis, um das Leben des Bezirks Saint-Denis zu sichern. Sich darauf zu beschränken, hieße, sich zum Zerfall zu verurteilen. Keiner der lokalen Kerne, die sich von der Kommunistischen Partei gelöst haben, ist dem entgangen: Kommunalismus, PUPismus – die Sozialdemokratie zerfrisst sie.

Noch ein Wort. Deine Wachsamkeitskomitees ohne kommunistische Partei, sie erinnern mich an eine … menschewistische und konterrevolutionäre Parole; ich will dich damit nicht als menschewistisch oder konterrevolutionär bezeichnen. Als die Oktoberrevolution mit den schlimmsten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, als Bürgerkrieg und Hungersnot wüteten, gaben die Feinde der proletarischen Macht die Losung aus: „Sowjets ohne Kommunisten“. Die Konterrevolution hatte instinktiv begriffen, dass selbst die Sowjetform nicht immun gegen ihren Einfluss war, dass, wenn es keine Kommunisten gibt, die ihre Klassen-Unversöhnlichkeit in sie einbringen, sie sie auch gegen die Revolution einsetzen könnte. Und dann, wenn das für die Sowjets nach der Machtübernahme gilt, kann man sicher sein, dass es noch mehr für die Wachsamkeitskomitees gilt, die noch keine Sowjets sind; bei Wachsamkeitskomitees ohne Kommunisten (d.h. ohne eine Partei, denn es gibt keine kommunistische Aktion außerhalb einer Organisation), kann man sicher sein, dass sie niemals zu Sowjets werden und die Macht übernehmen werden.

Und dann kommt noch eine weitere Frage hinzu, die sich an die Frage des Kampfes gegen den Faschismus und für die Macht anschließt, das ist der Kampf gegen den Krieg. Wer wird diesen Kampf leiten? Die Einheitsfrontkomitees3 können allenfalls Aktionen gegen die Kriegsvorbereitungen, gegen den zweijährigen Dienst usw. organisieren. Aber wer wird die antimilitaristische4 Arbeit anführen, wer wird den Defätismus befürworten? In der Einheitsfront hast du Sozialisten, die von Patriotismus oder Pazifismus durchdrungen sind, Verteidiger des Völkerbundes. … Bald wirst du letztere sogar in der offiziellen kommunistischen Partei finden, weil die Sowjetunion diesem Räuberverein beigetreten ist.

– Ich warne dich rundheraus: Niemals werden wir eure Angriffe auf die UdSSR gutheißen, niemals werden wir uns ihnen anschließen.

– Und ich antworte dir nicht weniger unverblümt: Wir haben die UdSSR nie angegriffen. Daher musst du dich auch nicht dem anschließen, was nicht ist. Was wir getan haben, ist eine Politik zu bekämpfen, die wir für falsch und schädlich für die Oktoberrevolution und die Weltrevolution halten. Du kämpfst gegen die Politik der KI in Frankreich; glaubst du, dass diese Politik unabhängig von der allgemeinen Politik der KI und auch von der Politik der UdSSR ist? Als Lenin und Trotzki die KI und die Sowjetunion leiteten, betrieben sie nicht zwei verschiedene, einander widersprechende Politiken, von denen die eine gut und die andere schlecht war: Die Politik der KI und die der Sowjetunion ergänzten sich entsprechend den Notwendigkeiten der internationalen proletarischen Revolution. Als die revolutionäre Welle zurückging und der proletarische Staat Zugeständnisse machen musste, erklärten seine Führer dies allen Arbeitern offen. Was liest man heute in der „Humanité“? Zuerst, dass die revolutionäre Bewegung in allen Ländern unaufhörlich wächst, dass sie von Erfolg zu Erfolg eilt, dass gleichzeitig die UdSSR mit großen Schritten auf den Sozialismus zugeht, dann schließlich, dass die UdSSR dem Völkerbund beitreten wird.

– Die UdSSR ist von einer Welt von Feinden umgeben; sie muss wissen, wie sie die Differenzen im kapitalistischen Lager ausnutzen kann und wie sie Kompromisse mit bestimmten Staaten eingehen kann, um den Block von seinen Gegnern zu entkoppeln.

– Natürlich kann kein Kommunist der sowjetischen Regierung vorwerfen, dass sie Kompromisse eingeht, obwohl es Kompromisse und Kompromisse gibt. Unzulässig ist es jedoch, sie einerseits als Siege über die Bourgeoisie darzustellen, andererseits ihre gesamte Tätigkeit auf die Qualitäten ihrer Diplomatie zu stützen, anstatt die Verteidigung der UdSSR auf die Stärke der revolutionären Bewegung zu gründen. Warum hat die Außenpolitik der Sowjetregierung seit einem Jahr5 einen so starken Rechtsruck erhalten, wenn nicht als Folge der Niederlage des deutschen Proletariats? Und glaubst du, dass, wenn die Reaktion in Frankreich triumphieren würde, Litwinows Talente ausreichen würden, um die Konstruktionen6 der Fünfjahrespläne vor dem faschistischen Block zu bewahren? Die Politik, die der Aktionseinheit feindlich gegenübersteht, und die Politik, die den Eintritt in den Völkerbund als Sieg darstellt, ist ein und dieselbe Politik, nämlich die der herrschenden Bürokratie in der UdSSR, deren Horizont auf die Sowjetunion beschränkt ist und die revolutionäre Kämpfe in anderen Ländern vernachlässigt, ja sogar fürchtet.

Um die UdSSR nicht mit leeren Phrasen, sondern wirklich zu verteidigen, d.h. um den revolutionären Kampf trotz und gegen einen Apparat von Unfähigen zu entwickeln, wird es notwendig sein, wie die Ligue Communiste den Wiederaufbau der revolutionären Partei des Proletariats anzustreben. Das ist der Weg, den ihr, das Rayon von Saint-Denis, gehen müsst, um euch selbst treu zu sein; es ist dieser „Weg Trotzkis“, vor dem euch die „Humanité“ Angst machen will.

– Wir wollen den Weg der Revolution gehen.

– Es ist derselbe.

1In der englischen Fassung: „über 350“

2Die folgende längere Passage bis „zerfrisst sie“ ist aus der englischen Fassung. In der französischen Fassung steht stattdessen: „die eine Kombination des Apparats war, um sich der Aktionseinheit mit den sozialistischen Organisationen zu entziehen, indem sie sich des PUPismus bedient, die Sozialdemokratie hat sie zerfressen.“

3In der englischen Fassung: „Wachsamkeitskomitees“

4In der englischen Fassung: „antifaschistische“

5In der englischen Fassung fehlt „seit einem Jahr“

6In der englischen Fassung: „Errungenschaften“


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