(1904 – 1914)
[Bor’ba, Nr. 1, 22. Februar/7. März 1914, eigene Übersetzung nach dem Nachdruck in Политическая хроника {Polititscheskaja Chronika}]
Am 26. Januar 1904 versenken japanische Zerstörer in den Gewässern von Port Arthur zwei russische Panzerschiffe und einen Kreuzer.
Ein in der russischen Geschichte beispielloses Jahrzehnt liegt seitdem hinter uns, und diese Epoche bildete die ewige Wasserscheide zwischen dem vergangenen und dem zukünftigen Russland.
I. Das Jahr 1905
Nach einem Vierteljahrhundert des äußeren Friedens und der undurchdringlichen Reaktion im Innern ertönte der weltgeschichtliche Donner des fernöstlichen Krieges und der Donner der Revolution wurde sein Echo.
Das alte, unbewegliche Russland, gestützt auf ein passives Bauerntum und von den Erinnerungen an die patriarchalische Barbarei belebt, wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Der Legende unserer national-politischen Eigenständigkeit wurde ein nicht wieder gut zu machender Schlag versetzt, an dessen Vorbereitung die blinden Kräfte des Kapitalismus so fleißig gearbeitet hatten.
Sobald das Proletariat die Wiege verließ spielte es, auf seine kolossale Bedeutung für das Wirtschaftsleben des Landes gestützt, in den Zusammenstößen der Revolution die Hauptrolle. In voller Übereinstimmung mit diesen Ideen waren die Ideen der Sozialdemokratie auch die leitenden Ideen der Revolution selbst. Die Bauernschaft, in der unsere Narodniki die Hauptkraft des russischen Fortschritts sahen, war im Schicksalsjahr nicht in der Lage, ihr Verlangen nach Land politisch zu verwirklichen und mit dem Kampf des Proletariats zu verbinden. Die fortgeschrittenen Elemente der Bauernschaft, in Gestalt des Bauernverbandes und später der Trudowiki, waren zu schwach, um der Bauernbewegung einen politisch verallgemeinerten Charakter zu geben.
Unsere bürgerliche Pseudodemokratie in Gestalt der Kadettenpartei, ohne Stütze in den Arbeitermassen, war durch die Schwäche unserer Mittel-, Übergangs- und kleinbürgerlichen Klassen zu völliger Ohnmacht in der entscheidendsten Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung verdammt. Das Großkapital, durch einen sozialen Abgrund von den Volksmassen getrennt und erschreckt vom Angriff der Arbeiter auf seine wirtschaftliche Position, reichte die eine Hand dem Landadel, der wegen des Schicksals seines Besitzes und Standesprivilegien von Entsetzen erfasst war, und die andere der Bürokratie, die sich auf die Armee stützte. In diesen sozialen Beziehungen war der gesamte Verlauf und der Ausgang der Bewegung von 1905 festgelegt. Die Revolution selbst, deren Hauptfrage die Agrarfrage war und deren Hauptmotor das Proletariat war, wurde von der dem Bestand nach bäuerlichen Armee niedergeschlagen.
Aber auch das alte System erhielt in diesem Kampf eine unheilbare Wunde. Ein für alle Mal zeigte sich die volle Unversöhnlichkeit des bürokratischen Absolutismus mit der kapitalistischen Entwicklung mit deren unaufhörlichem Kampf der Klasseninteressen und ihren verwickelten ökonomischen und kulturellen Bedürfnissen, und sie bleibt sichtbar. Trotz des äußeren Triumphs der bürokratischen Selbstherrschaft verlässt das neue, nicht versklavte, demokratische Russland, das sein eigenes Schicksal aufbauen will, das historische Feld nicht. Man kann es zeitweilig ausbluten lassen, man kann ihm für kurze Zeit ein gusseisernes Schloss auf die Lippen setzen lassen, aber es kennt bereits seinen historischen Weg und wird sich von niemandem davon abbringen lassen.
II. Die beiden ersten Dumas
In den ersten beiden Dumas, die auf der Basis des Gesetzes des Grafen Witte gewählt wurden, fiel die Führungsposition an die Kadetten. Nachdem sie ein prinzipielles Kreuz über den Massenkampf gesetzt hatten, versprachen sie, die alte Macht nicht durch einen Sturmangriff, sondern durch eine regelrechte Belagerung „schmerzlos“ zu beseitigen. Doch dieser Versuch offenbart nur die politische Ohnmacht der Partei der diplomierten Intelligenz, die sich vor allem auf die städtischen Spießbürgerschichten stützt, aber keine der grundlegenden Klassen der zeitgenössischen Gesellschaft hinter sich hat. Das Schicksal der ersten beiden Dumas war ein neuer Nachweis dafür, dass große politische Zusammenstöße, die die Frage scharf stellte, wer der Herr im Lande sein soll, in letzter Instanz nicht durch Entlarvungen und Beweisgründe, sondern durch das Verhältnis und die Proportion der Kräfte entschieden werden.
Die vom vereinigten Adel angeschobene und vom Großkapital unterstützte alte Macht löste die ersten beiden Dumas nacheinander auf und festigte durch den offenen Staatsumsturz am 3. Juni 1907 das Dreierbündnis aus Bürokratie, Adel und Großkapital. Über diesem Bündnis erhob sich der Stern P. A. Stolypins, des Drachentöters Georg der Konterrevolution.
III. Konterrevolution und Agrarfrage
Die ganze Fülle der Macht befindet sich erneut in den Händen ihrer alten Träger. In der Zeit, als der Adel gerade im letzten Jahrzehnt alles tat, um den erblichen Grundbesitz zu verringern, richtete sich die gesamte Staatspolitik mit ungeheurer Freimütigkeit nach den Interessen der adligen ständisch-parasitären Interessen. Dem Großkapital in Gestalt der Oktobristen blieb nur die Aufgabe, die Herren der Lage zu halten und den Mist, den die Pferde der Sieger hinterließen, von der politischen Bühne zu fegen.
Die Lösung der Agrarfrage – aber für den Kapitalismus bedeutet das die Lösung der Frage des inneren Marktes! – wurde nach dem Abkommen zwischen Stolypin und dem Rat des vereinigten Adels durch das Dekret vom 9. November 1906 hinter dem Rücken der Volksvertretung geregelt. Dem Adel wurde die Landgrundlage seiner ständischen Obergewalt gegen die Anschläge der Muschiks voll garantiert. Die Dorfgemeinde, die die verschiedenen Schichten der Bauern durch die Einheit der Standes- und Landinteressen gegen die Gutsbesitzer zusammenband, wurde abgeschafft, so dass die kulakischen Spitzen des Dorfes ihren Grundbesitz auf Kosten der dörflichen Unterschichten abrunden konnten. Die Adelsbank warf immer neue Millionen in die Bresche der adligen Appetite. Die Operationen der Bauernbank wurde auf solchen Grundlagen ausgeweitet, dass schlecht wirtschaftende Gutsbesitzer ihr Land zu Wucherpreisen an den Staat verkaufen konnten.
Als Ergebnis der Agrarpolitik der Konterrevolution sind die Hungerstreiks der Bauern nach wie vor eine chronische Erscheinung, und die Bauernbank nimmt den Bauern, denen sie eine Wohltat erwiesen hat, das Brot weg und lässt es sinnlos an der Wurzel verfaulen, oder demoliert mit Äxten die Hütten der Säumigen und treibt die Bauernfamilien mitten im Winter auf die Landstraße.
IV. Der Reformismus des Dritten Juni
Die auf der Grundlage des Gesetzes vom 3. Juni gewählte Dritte Duma, in der die Sitze des entscheidenden Zentrums den Oktobristen zur Verfügung standen, beabsichtigte zuerst, das Land durch die Bemühungen eines Dreierbündnisses aus Bürokratie, Adel und Kapital zu reformieren. Nur der Kapitalist, d.h. das schwächste Mitglied des Bündnisses, brauchte jedoch liberale Reformen.
Er ergriff auch die Initiative. Die Oktobristen festigten ihre reformistischen Berechnungen gleichzeitig von drei Seiten: Erstens reduzierten sie die eigentlichen Reformprojekte auf das erbärmlichste Minimum; zweitens lehnten sie, um die alte Macht zu beschwichtigen, den Parlamentarismus „prinzipiell“ ab; drittens schließlich bekundeten sie einen unbändigen Eifer in Sachen Militarismus, indem sie an die Macht mit dem Prinzip der kaufmännischen Gegenseitigkeit herantraten: „Wir geben dir Hunderte von Volksmillionen, du gibst uns konstitutionelle Reformen.“ Aber sie haben sich grausam verkalkuliert. Der Kurs des oktobristischen Reformismus, dem sich die Kadetten anzuschließen versuchten, erwies sich als ebenso unfruchtbar wie unbegabt.
In der ersten Epoche der Dritten Duma machte Stolypin Versuche, den Oktobristen-Reformismus zu unterstützen: Der ungeheuer vergrößerte Staatsapparat mit seinem Drei-Milliarden-Budget brauchte selbst die Entwicklung der Produktivkräfte, und die Ende 1899 einsetzende Handels- und Industriekrise dauerte fast ununterbrochen bis Ende 1909. Aber der dritte Alliierte des Blocks, der Adel, auf dessen Kosten allein kapitalistische Reformen möglich waren, war nicht bereit, auch nur einen Zoll seiner Standesposition aufzugeben. Der Staatsrat und die so genannten Sphären waren das Bollwerk der Standesunversöhnlichkeit und des sozialen Stillstands. Die großen und kleinen Purischkjewitsche siegten. Die Bürokratie legte schnell ihre Reformer-Waffen nieder und beschloss erneut, dass es „für unser Jahrhundert ausreicht“. Der Oktobristen-Stolypinsche „Reformismus“ endete in einem jämmerlichen Zusammenbruch.
V. Der Imperialismus des dritten Juni
Als Ausweg aus der Sackgasse wird eine aktive Außenpolitik vorgeschlagen. Da die Reaktion im Innern sich als unfähig erwies, die Fesseln der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zu lockern und auf diesem Wege den Rahmen des Binnenmarktes zu erweitern, suchte sie nach äußeren Quellen der Bereicherung für die besitzenden Klassen oder zumindest für ihre Spitzen und für einzelne politische Cliquen. Mit den Kadetten als Ordonnanzen war die Konterrevolution auf den Schienen des Imperialismus unterwegs. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich herausstellte, dass eine aktive Außenpolitik die Möglichkeiten einer Regierung überstieg, die die unzufriedene Bevölkerung mit Hilfe von Ausnahmegesetzen und noch mehr Ausnahmemethoden regierte. Die Rechtlosigkeit und Verelendung der Bauernschaft, die systematische Erniedrigung von Dutzenden Millionen „Fremdstämmiger“, das ungeschickte und unsaubere Wirtschaften der Bürokratie in allen Bereichen, die Senatsrevisionen, die viel ans Licht brachten, aber nichts änderten, all das ist kein geeignetes Umfeld für „patriotische“ Begeisterung und äußere Erfolge. Wenn der Imperialismus der Epoche der Konterrevolution uns kein neues Mukden und kein neues Tsuschima beschert hat, dann nur deshalb, weil unsere Diplomatie mit ihrer ganzen Geschäftigkeit jedes Mal schuldbewusst den Rückzug antrat, sobald sich eine weitere internationale Frage scharf stellte, d.h. auf dem Boden eines Zusammenstoßes der Kräfte. Aber es wäre ungerecht zu behaupten, dass die Bemühungen der russischen Diplomatie ergebnislos blieben: alles, was man beschädigen konnte, beschädigte sie gewissenhaft, und wo sich ein neuer Fehlschlag abzeichnete, war sie unveränderlich auf ihrem Posten.
In Persien, das als unser natürlicher Markt erachtet wurde, wurde der Einfluss Englands und Deutschlands gefestigt. Der Hass auf Russland, das das persische Parlament zerschlagen und Anarchie im Lande gesät hatte, wurde fest verankert. Die derzeitige persische Regierung ist nach dem Bekenntnis der „Nowoje Wremja“ die organisierte Feindseligkeit gegen Russland. Auf dem Balkan lebt und atmet Bulgarien, das von der russischen Diplomatie verraten wurde, im Hass auf das „Befreierland“. Der „Erbfeind“ Österreich, der 1908 Bosnien und Herzegowina annektiert hat, erhielt nun in Gestalt eines eigenständigen Albaniens einen kräftigen Stützpunkt gegen Serbien. Das gegnerische Deutschland festigte sich in Konstantinopel in außerordentlichem Maße und nimmt den Schlüssel zur Bosporusstraße in die Hand. Im Fernen Osten schließlich verwandelte das mongolische Abenteuer die chinesische Republik in unseren erklärten Feind und entfremdete gleichzeitig die Mongolei von uns. Die Zeitungsagenten der russischen Diplomatie beginnen bereits, feige von der „autonomen“ Mongolei als einer unreifen Traube zu sprechen, die unsere Aufmerksamkeit nicht verdient. Mit einem Wort, die Außenpolitik der Konterrevolution bestand von Anfang bis Ende aus einer Reihe von Rückzügen und Niederlagen, die die Tripleentente grausam erschütterten*.
VI. Der Nationalismus des Dritten Juni
Der Zusammenbruch des Stolypin-Gutschkow-Reformismus und die ersten großen Misserfolge in der Außenpolitik, wie die Annexion von Bosnien und Herzegowina [durch Österreich-Ungarn], versteiften die Reaktion auf eine neue politische Idee: den Nationalismus. Diese Idee ist außerordentlich einfach: Im verschiedenstämmigen Russland, wo die Großrussen nicht mehr als 43 Prozent der Bevölkerung bilden, eine außerordentlich privilegierte Lage zu schaffen, selbstverständlich nicht für die einheimische Bevölkerung, aber für die einheimischen echt-russischen Eigentümer – zu denen übrigens viele „echt-russische“ Deutsche, Polen, Rumänen und sogar Juden gehören -; den Binnenmarkt für sie zu monopolisieren; den Brothandel zu nationalisieren; den Kredit zu nationalisieren; mit einem Wort, sie näher an den Staatshaushalt heranzulassen und die Fremdstämmigen zu vertreiben, weil es sonst nicht reicht; die noch nicht endgültig entpersönlichten Randgebiete (Finnland) zu entpersönlichen; aus den entpersönlichten Randgebiete neue wahrhaft russische Provinzen (Chelmer Land) herauszuschneiden und sie gierigen Patrioten in Form von Muttersöhnchen zu geben – das ist die ganze Politik des Nationalismus!
Unter diesem Banner verbrachte die dritte Staatsduma ihre Tage, die vierte wurde gewählt und tagt noch immer. Das hemmungslose Halali-Blasen zur Jagd gegen Fremdstämmige, insbesondere gegen Juden, ist eine erforderliche Ergänzung und Entwicklung des nationalen Staatskurses. Der Antisemitismus wurde für die Herren der Lage zu einer echten politischen Religion, in der sich Dritter-Juni-Gewissen und Dritter-Juni-Ehre glücklich verbinden. Der höchste schöpferische Akt des Nationalismus war ein Gerichtsfall, dessen Namen vollauf genügt, um die Epoche und ihre Männer zu charakterisieren: die Beilis-Affäre!
VII. Der Handels- und Industrieaufschwung
Die Politik des Nationalismus bestand in ihrem Wesen in nichts weniger als in der Vergeudung der letzten materiellen und finanziellen Ressourcen der Konterrevolution. Nicht umsonst gab sich Finanzminister Kokowzew als Opposition im Kabinett Stolypin aus, als er an die „Verstaatlichung“ des Kredits herantrat. Aber in der Eigenschaft als Premier beruhigte sich Kokowzew bald im Schoß seines Staatsoptimismus, wofür er seine eigenen ernsthaften Ursachen hatte: – nach zehn Jahren von Krise und Stillstand im Land brach der Handels- und Industrieaufschwung herein.
Die regierende Bürokratie schrieb den Industrieaufschwung ihren eigenen Verdiensten zu, beinahe mit ebenso viel Recht, wie sie sich den Frühlingsbeginn im März hätte zuschreiben können.
Russland ist längst in den kapitalistischen Kreislauf einbezogen und macht unabwendbar zusammen mit der gesamten kapitalistischen Welt den Zyklus Aufschwung, Stillstand und Krise durch. Diese Kreisläufe leiten historische Kräfte, die viel mächtiger sind als die Zirkulare unserer Ministerien. Aber das bedeutet ganz und gar nicht, dass unsere nationalstaatlichen Verhältnisse für den Verlauf der kapitalistischen Entwicklung gleichgültig seien. Umgekehrt: Die Überbleibsel der Leibeigenschaft und des Staatsdurcheinanders engen den Binnenmarkt extrem ein, schneiden dem Aufschwung die Flügel ab und verschlimmern die Bürden der Krise.
Hätte Russland in diesem Jahrzehnt ein demokratisches Staatssystem eingeführt, wäre unsere Agrarfrage radikal in Übereinstimmung mit den Interessen der viele-Millionen-starken Bauernschaft gelöst worden, hätten das bedeutet, die Pforte des ökonomischen Fortschritts sperrangelweit zu öffnen. Eine freie bäuerliche Wirtschaft als Basis des Binnenmarktes in einem Land mit riesigem Naturreichtum und einer 170-Millionen-Bevölkerung – das hätte eine mächtige Entwicklung der Produktivkräfte, einen unaufhaltsamen Zufluss von ausländischem Kapital und einen fieberhaften kulturellen Aufschwung des ganzen Landes bedeutet – eine Entwicklung auf nordamerikanische Art.
Bei Stolypins Agrargesetzen, dem Parlamentarismus des Dritten Juni und der nationalistischen Arbeit der Verwaltung und der Gerichte kann von einer solchen Entwicklung, selbstverständlich, nicht die Rede sein. Dennoch bahnten sich die elementaren Kräfte des Kapitalismus ihren Weg über die Hindernisse und Dämme des konterrevolutionären Staatswesens und schoben so die politische Auflösung hinaus. Das Gründertum begann, das Börsenspiel ging los, der Staatshaushalt wuchs schnell, die Militäraufträge und -lieferungen nahmen zu, kolossale Eisenbahnkonzessionen wurden vergeben. Die Deputierten der Regierungsmehrheit und zu einem großen Teil auch die Deputierten der liberalen Opposition begannen, in den Vorständen von Aktiengesellschaften und Banken, von Eisenbahnkonzessionen und überall dort, wo es nach fetten Braten roch, Platz zu nehmen.
Herr Kokowzew wurde mehr und mehr von der Überzeugung durchdrungen, dass Russland „keine politischen Gesetze braucht“.
VIII. Politische Belebung und nahende Krise
Aber zusammen mit der industriellen Belebung entfaltet sich auch die Arbeiterbewegung an der ganzen Front. Am 4. April 1912 gab die ferne Lena, aus deren goldenen Zitzen die Stärksten und Mächtigsten dieser Welt gierig trinken, ihr schreckliches Alarmsignal. Das allgegenwärtige Auftreten der Arbeiter, wirtschaftlich wie politisch, aus Teil- wie aus allgemeinen Anlässen, stellte in seiner Gesamtheit vor dem ganzen Land die Frage nach dem Schicksal des Regimes des 3. Juni.
Die Arbeiterbewegung rüttelte das politische Leben des ganzen Landes aus seiner Erstarrung. Eine ganze Reihe von Fakten des letzten Jahres (die gesellschaftliche Reaktion auf die Beilis-Affäre, der Lehrerkongress usw.) führten klar vor, in welche Richtung die Gefühle und Gedanken aller demokratischen und einfach lebensfähigen Elemente der Bevölkerung arbeiteten.
Doch auf den Industrieaufschwung folgt unausbleiblich die Krise. Ungeachtet der optimistischen Beteuerungen von Herrn Kokowzew und der Handels- und Industriesphären** ist sie keine Jahre mehr entfernt – sie klopft bereits an die Pforten. Und die nahende Epoche der Krise wird eine Epoche der grausamen Vergeltung für alle Sünden der Konterrevolution sein, die sich als ebenso kraftlos für das Gute wie kräftig für das Böse erweist – in der Innenpolitik wie in der Außenpolitik. Je größer der Aufschwung, je stärker die Börsenkursgewinne und die Aktienspekulation, je mehr Elemente der bürgerlichen Gesellschaft sie in ihren Strudel gezogen haben, – desto tiefer wird die Welle der Krise fallen, desto zerstörerischer und schmerzhafter werden ihre Folgen sein. Je größer der Rausch, desto größer der Katzenjammer. Wahrlich, Graf Kokowzew ging rechtzeitig ab!
Bereits der Industrieaufschwung rüttelte die bürgerlichen Klassen aus ihrem Zustand der Verblüffung und Unterwürfigkeit. Nicht alle finden Zutritt zu Konzessionen und Lieferungen, nicht für jeden stehen die Milchflüsse und Geleeufer des Staatshaushalts zur Verfügung. Weite bürgerliche Kreise sind verärgert darüber, dass der Aufschwung in der geringen Kapazität des bäuerlichen Marktes seine Grenzen findet, dass der Zufluss ausländischen Kapitals durch staatliche Anarchie behindert wird. Daher der Anstieg der Progressisten, daher die Flut der Oktobristenopposition, daher die Spaltungen und Umgruppierungen unter den Parteien der Duma-Mehrheit. Und was wird geschehen, wenn der letzte geliehene Silberrubel ausgegeben ist, wenn die letzte Werst Schiene verlegt ist und sich als unrentabel erweist, wenn die Panik an der Börse beginnt, Konzessionäre, Parlamentarier und spielende Würdenträger Bankrott gehen und in vielen Kontoren, Wirtschaftskabinetten und frommen Salons Panik und Zähneknirschen herrschen? Die Feindschaft zwischen den Alliierten des Dritten Juni – die Feindschaft wegen der Nähe zum Budget, wegen seiner „Nationalisierung“ – könnte sich unter solchen Bedingungen leicht in ein grausames Handgemenge verwandeln, das die derzeitigen Herren der Lage abschließend schwächen würde. Die weiten Kreise der bürgerlichen Gesellschaft werden natürlich unvergleichlich stärker unter der Krise leiden als die Börsenmagnaten und die kapitalistischen Monopolisten – die Unzufriedenheit wird zunehmen und damit auch die Isolation der Regierenden. Und das alles auf der Grundlage der unbeseitigten agrarischen Leibeigenschaft, die die Produktivkräfte des Landes in ihren Fesseln hält!
IX. Die Aufgaben des Proletariats
Die Arbeiterklasse, die künstlich in einem Zustand der Zerstäubung gehalten wird, hat die Früchte des Industrieaufschwungs nur sehr wenig in Anspruch genommen. Aber die nahende Krise mit ihren Schrecken der Ungesichertheit und fürchterlichen Arbeitslosigkeit wird auf die Arbeiterklasse mit ihrem ganzen Schwere einstürzen. Die Handels- und Industriekrise wird die Rechtlosigkeit, die Willkür, die nationale Hetze, den Parasitismus der Cliquen, den Budgetraub, all das, was das Wesen des Regimes des 3. Juni bildet, verschärfen und das Proletariat direkt und auf allerschmerzlichste Weise treffen. Unter diesen Bedingungen wird sich die Handels- und Industriekrise unausbleiblich in eine politische Krise verwandeln. Es gibt keine Möglichkeit, jetzt den Charakter und die Formen dieser Krise vorherzusagen, ihre soziale Tiefe und die Schärfe ihrer politischen Ausprägungen im Voraus zu messen. Verschiedene Überlegungen in dieser Hinsicht können bloß einen theoretisch-ratenden Charakter haben.
Aber es ist klar, dass sowohl bei einem scharfen Charakter der Krise als auch bei einer langwierigen der verantwortlichste Teil der Arbeit beim Proletariat liegen wird. Das Proletariat kann sich auf die Erfüllung seiner Rolle nur auf einem Wege vorbereiten, auf welchem Wege auch immer die politische Entwicklung verlaufen wird: indem es seine historische Rolle begreift, indem es lernt, seine Feinde und Freunde auseinanderzuhalten, indem es seine Kräfte vereint, indem es seine Positionen ausbaut und indem es unermüdlich am Wiederaufbau und der Festigung der vollen organisatorischen Einheit in seinen Reihen arbeitet!
* Die sechs europäischen „Großmächte“ sind in zwei einander feindselige Gruppen aufgeteilt: Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien bilden den Dreibund. Ihm steht die Tripleentente gegenüber: Russland, Frankreich, England.
** Siehe die erläuternden Notizen des ehemaligen Finanzministers zum Jahresabschluss 1914 und die Zeitschrift „Promyschlennostj i Torgowlja“ [Industrie und Handel] Nr. 1, 1914.
Schreibe einen Kommentar