Leo Trotzki: Der Scheinkonstitutionalismus in Russland

[Arbeiter-Zeitung, Wien, 23. Jahrgang, Nr. 221, 13. August 1911, S. 2, Spalte 3 – S. 3, Spalte 2]

Aus Russland wird uns geschrieben:

In den ersten zwei Jahren der dritten Duma, als die Oktobristenpartei sich noch ihrer „führenden“ Rolle erfreute und Stolypin auf der Höhe seiner Macht stand, war der Taurische Palast von den Gespenstern der Unruhe und Unsicherheit umgeben. Nicht der Vorsitzende leitete die Arbeiten der Majoritätsparteien, sondern die nackte Furcht vor der fatalen Katastrophe, die jeden Tag kommen und die ganze Pracht der Stolypinschen „Volksvertretung“ wegfegen könne. Stolypin, der Totengräber der zwei ersten Dumas, präsentierte sich als die einzige Stütze der dritten. Das durchschlagende Argument, mit dem er seine übrigens sehr fügsame Majorität zu bändigen pflegte, war die sakramentale Drohung: „Indem Sie mich zur Strecke bringen, sterben Sie selbst, meine Herren, den politischen Tod.“ Nach der Meinung der regierenden Kreise würde Stolypins Sturz nichts anderes als die offene Wiederherstellung der Selbstherrschaft bedeuten.

Wäre diese Meinung richtig, dann hätte die Festigung der dritten Duma zu gleicher Zeit die Festigung Stolypins und der Oktobristen bedeutet. Aber es geschah das Entgegengesetzte. Die Oktobristen sind doch durch die von ihnen vertretenen kapitalistischen Interessen in die Opposition gedrängt worden. Aus der bedienenden Partei ersten Ranges sind sie zu einer „widerstrebenden“ Partei zweiten Ranges geworden; dabei erlitt diese die vollkommene innere Zersetzung, verlor das Ziel des Lebens wie die Lust am Leben. Gleichermaßen gehört auch die Glanzepoche der Stolypiniade unzweifelhaft der Vergangenheit an. Die Gespenster der Unzulänglichkeit und Lächerlichkeit verfolgen jetzt den „großen“ Staatsmann auf Schritt und Tritt, und je entschiedener seine Maßnahmen werden, desto geringer wird der Glaube an die Standhaftigkeit seines Regierens.

Und merkwürdig: die starken Stützen der Konstitution vom 2. Jänner 1907 sind im Wanken; aber die Konstitution selbst scheint viel weniger bedroht zu sein als vor zwei bis drei Jahren, wo ihre Schöpfer und Nutznießer sich unbesiegbar fühlten.

Die beunruhigenden Gerüchte von der bevorstehenden rettenden Aktion, die die letzten Spuren des tollen Jahres ausrotten solle, sind verklungen, niemand will mehr an die Restauration der Selbstherrschaft glauben. Die dritte Duma geht ihrem ruhmlosen, aber ruhigen Ende entgegen und die Parteien bereiten sich zu neuen Wahlen vor. Noch vor kurzem sah man die dritte Duma an als eine flüchtige Episode auf dem Marsche der siegreichen Konterrevolution – jetzt rechnet man mit der vierten Duma als mit einer gegebenen Tatsache. Woher kommt das? Wer hat die russische Konstitution so gefestigt? Was bedeutet überhaupt diese Konstitution? Welche Kräfte stehen hinter ihr?

Die vulgären Radikalen (zum Beispiel die Sozialistisch-Revolutionären und die terroristisch-nationalistische Gruppe der PPS) haben es mit der Beantwortung dieser Frage leicht. Sie sagen, die russische Konstitution sei eine Heuchelei und die Duma ein eitles Spiel; drum müsse jeder revolutionäre Politiker der Duma seinen Rücken kehren. Dass der russische Parlamentarismus nicht vom puren Geiste der Aufrichtigkeit durchdrungen ist, mag schon richtig sein. Nun bleibt aber immer noch die Frage: Wem und wieso ist diese „Heuchelei“ von Nutzen? Wem fruchtet das „eitle Spiel“?

Der parasitäre Adel, der in Russland eine so große Rolle spielt, braucht beileibe den parlamentarischen Formelkram nicht: für ihn ist es viel bequemer, seinen Handel mit der Monarchie im Dunkeln zu treiben, hinter den Kulissen, nicht vor der Rampe.

Obwohl seinen Interessen am meisten angepasst, musste doch die Konstitution ihm aufgedrängt werden. Auch das Beamtentum als solches hat keinen Grund, für die Konstitution zu schwärmen. Die Senatorenrevisionen und die Intendantenprozesse sind doch der neuen Ordnung der Dinge entwachsen. Und die Dumaabgeordneten stecken in den Kommissionen ihre Nasen in jede Einnahmen- und Ausgabenpost des Budgets. Viel kommt dabei freilich nicht heraus, beunruhigend und unangenehm ist es indes auf jeden Fall.

Der Adel und die Bürokratie samt ihrer monarchischen Spitze haben das Heft in der Hand. Sie verfügen jetzt wie vor der Revolution über die gesamte materielle Macht des Staates. Warum schreiten sie nicht vor zur letzten rettenden Aktion? Es wäre doch so leicht, die Herrn Volksvertreter nach Hause zu schicken und die Wiederherstellung des Zarismus in seiner vorrevolutionären Herrlichkeit zu proklamieren. Geschieht dies etwa aus Furcht vor der Revolution, vor dem Volke nicht? Gewiss steckt die Furcht vor der Revolution den Siegern tief in den Knochen. Aber die dritte Duma ist doch keine Schutzvorrichtung gegen die Revolution. Der Staatsstreich vom 3. Juni 1907 war eine offene Beraubung der Volksrechte und die gesamte Arbeit der Dumamehrheit ist eine freche Herausforderung des Volkes. Warum behält man aber die Duma? Unter dem Drucke der kapitalistischen Bourgeoisie? Die Kapitalisten, durch die Furcht vor dem Proletariat paralysiert, gehen im Gefolge der Oktobristenpartei, deren schandhafte Schwäche und lakaienhafte Unterwürfigkeit die kurze Geschichte der dritten Duma ausfüllen. Dass man dem Moskauer Börsianer Gutschkow zuliebe die Konstitution aufrecht erhält, ist wirklich nicht zu glauben. Macht man dies vielleicht aus Respekt vor der europäischen Börse? Nehmen wir’s an, dann müssen wir die Frage beantworten: Wozu braucht eigentlich die europäische Börse die russische Konstitution? Man wird sagen: Die Duma garantiert die Zahlung der Prozente an die Börse. Aber wie? Die Duma produziert den Weizen nicht und sie prägt auch kein Gold. Unmittelbar kann also die Börse kein Interesse an der Duma haben.

Was den adelig-bürokratischen Zarismus zwingt, sich mit der Duma abzufinden, ist die kapitalistische Entwicklung. Hier ist der Schwerpunkt der Frage. Der Staat im Ganzen mit seiner Armee, mit seinen Beamtenkadern, mit seinem Kaiser, mit allen seinen adeligen Zuhältern – ist auf die kapitalistische Grundlage gestellt. Seine militärische wie seine finanzielle Macht hängt jetzt vollkommen von der Entwicklung der Industrie im Lande ab. Das ist die Frage auf Tod oder Leben für die Monarchie selbst – am deutlichsten hat es der russisch-japanische Krieg bewiesen. Nicht deshalb geht der Zarismus der kapitalistischen Gesellschaft unvereinbar entgegen, weil die Kapitalistenklasse die Konstitution fordert – politisch wäre die Großbourgeoisie, die keine Volksmassen hinter sich hat, durch die Machtmittel des Zarismus leicht niederzuwerfen –, sondern weil die kapitalistischen Bedürfnisse der staatlichen Organisation selbst innewohnen und ihr in immer weiterem Umfang entwachsen. Nur insoweit die zarische Gewalt, durch die Sorge der Selbsterhaltung getrieben, genötigt ist, sich an die industrielle Entwicklung anzupassen, um diese für ihre eigenen Bedürfnisse auszubeuten, nur insoweit kommt sie auch den „Forderungen“ der Kapitalistenklasse entgegen.

Die kapitalistische Entwicklung fordert in immer größerem Umfang vom Staat komplizierte und biegsame Initiative auf den verschiedensten Gebieten der Gesetzgebung, der Verwaltung und der auswärtigen Politik. Die adelige Bürokratie war ebenso wenig einer solchen Arbeit angepasst, als sie ihr Interesse entgegenbrachte, wenigstens unmittelbar – und es bedurfte des Krieges und der Revolution, die den ganzen Staatskörper erschütterten, damit die Monarchie am Schluss einer Reihe von Experimenten die Leute vom 3. Juni am Fuße des Thrones versammelte. Wie vor der Revolution ist auch jetzt die staatliche Macht in den Händen der Monarchie konzentriert, die sich auf ihre Armee stützt. Aber zum Unterschied von der alten Selbstherrschaft, die über alle Stände und Klassen erhoben war, ist der nachrevolutionäre Zarismus genötigt, die Vertreter der besitzenden Klassen in den Rahmen des Staates einzuführen und ihre Einmischung in seine Geschäfte zu dulden. Freilich behält der Zarismus für sich auch jetzt faktisch das freie Entscheidungsrecht – und in diesem Sinne ist er absolutistisch –, aber er ist nicht mehr imstande, mittelst bürokratischen Augenmaßes die Resultierende der kämpfenden Kräfte zu bestimmen.

Die Interessen sind zu mannigfaltig und widerspruchsvoll geworden, er muss vorher die interessierten Parteien anhören, um dann seine Entscheidung fällen zu können. Die Duma ist somit der Apparat, durch dessen Vermittlung die alte staatliche Organisation der Monarchie sich den neuen Verhältnissen anpasst und sich am Ruder zu erhalten sucht. Auf diese Weise wird die Duma ungeachtet dessen, dass sie über keine wirkliche Macht verfügt und ihrer Bedeutung nach viel näher einer gesetzberatenden als einer gesetzgebenden Institution steht, ungeachtet dessen wird sie zum Sammelpunkt des politischen Lebens, wo die Parteien der besitzenden Klassen offen vor den Augen des ganzen Landes um den Einfluss auf die Staatsmacht miteinander ringen.

Dies ist in ihren allgemeinen Zügen die widerspruchsvolle Mechanik unseres Scheinkonstitutionalismus – und diese Mechanik bestimmt auch die politische Haltung der russischen Sozialdemokratie. Ihre Ausgabe ist es – im Gegensatz zu den Oktobristen und Kadetten –, dem Volke klar zu machen, dass der Absolutismus der bürokratischen Monarchie in seiner materiellen Grundlage sich vollkommen erhalten hat; dass die gesamte soziale Entwicklung des Landes sich gegen den zaristischen Staat wendet; dass nicht friedliche Erneuerung, sondern revolutionäre Konflikte bevorstehen; dass nur der siegreiche Ansturm der Massen dem Lande auf die weite Straße der Geschichte verhelfen kann. Aber diese Arbeit kann die russische Sozialdemokratie nicht nach dem Muster des vulgären Radikalismus, das heißt durch abstrakte, für alle Fälle des Lebens taugliche Phraseologie vollbringen, die die Duma mit ihren Interessenkämpfen ignoriert, sondern durch aktives Eindringen in das politische Leben des jetzigen scheinkonstitutionellen Russland, wie es eben ist; durch völlige und allseitige Ausnützung der Gegensätze innerhalb der Duma; durch unermüdliche Mobilisierung der proletarischen Massen unter der Fahne ihrer Klasseninteressen.

Nach der Erfahrung der vier Jahre seit dem Staatsstreich sieht die russische Sozialdemokratie jetzt am Anfang einer neuen Wahlkampagne keinen Grund, ihren taktischen Standpunkt zu ändern. Die Schwierigkeit liegt für sie nicht in der prinzipiellen Abschätzung des Scheinkonstitutionalismus, sondern in dessen politischer Ausnützung. Es fehlt eben der Partei an einer einheitlichen Organisation, die die verschiedenen Gruppen und Strömungen für die Aktion und in der Aktion zusammenfasst Eine derartige Organisation zu schaffen sind jetzt die besten Kräfte der Partei an der Arbeit.

N. T.


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