Leo Trotzki: Begrüßungsrede auf dem Innsbrucker Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie

[Arbeiter-Zeitung, Wien, 23. Jahrgang, Nr. 300, 31. August 1911, S. 2, Spalte 3 – S. 3, Spalte 2]

Ich bin vom Auslandsbüro unserer Partei beauftragt, Sie auf diesem Parteitag herzlich zu begrüßen und den Arbeiten Ihres Parteitages, deren Bedeutung und deren Schwierigkeit auch wir zu kennen glauben, den besten Erfolg zu wünschen. Auch in Russland haben wir die Schwierigkeiten, die Sie in Österreich überwunden haben oder noch zu überwinden haben, einigermaßen im Keime. Ob uns die Geschichte erlauben wird. diese Schwierigkeiten im Keime zu ersticken, das wissen wir noch nicht. Jedenfalls sind Ihre Geschichte, Ihre Arbeit, Ihre Schwierigkeiten für uns eine große Quelle der Belehrung, und unser Interesse für Ihre Partei ist nicht nur das allgemeine Interesse eines Mitgliedes der Internationale für das andere, es ist ein eminentes praktisches Interesse, ich möchte sagen, kein platonisches, sondern ein egoistisches Wenn manche Schwierigkeiten, die Sie hier haben, bei uns noch im Keime sind, sind umgekehrt die Schwierigkeiten, die Sie in den Sechziger- bis Achtziger Jahren zu überwinden hatten, bei uns jetzt in solcher Schärfe wie nirgends anders in der ganzen Internationale.

Wir haben jetzt die schlimmste Epoche hoffentlich hinter uns, die Epoche der auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens siegreichen Konterrevolution, und es ist eine merkwürdige Symbolistik der Geschichte, dass diese Epoche mit dem Tode des Mannes abschließt, der ihr Leiter war, des zarischen Ministerpräsidenten Stolypin. Er war von der Geschichte vollkommen abgenützt, er stand da als absoluter politischer Bankrotteur, und da hat ihn ein dienstbeflissener Schuss eines ihm unterstehenden Lockspitzels von der politischen Bühne beseitigt.

Sie wissen, dass wir russischen Sozialdemokraten, wie übrigens die gesamten Sozialdemokraten, immer gegen die terroristische Methode des Kampfes auftraten, weil sie unzweckmäßig ist, weil die Verwirrung, die sie in unsere eigenen Reihen hineinbringt, viel schlimmer ist als die Verwirrung, die sie in die Reihen des Feindes hineinbringt. (Beifall.) Aber Sie werden mich schon verstehen, wenn ich sage, dass wir keinen Grund haben, den Feind, den wir verloren haben, mit bitteren Tränen zu beweinen. Ich muss das hier vor dem Forum der deutschen Sozialdemokraten Österreichs konstatieren, weil auch die österreichische sogenannte liberale Presse immer in einem Tone der Ehrerbietung von Stolypin als von einem Gentleman zu sprechen pflegte. Ich muss Ihnen nur mit einigen Zahlen zeigen, was das russische Volk unter diesem Gentleman durchzumachen hatte. Nach den unvollkommenen Zeitungsangaben wurden in Russland in den Jahren 1905 und 1906 26.183 Menschen massakriert, niedergemetzelt, 31.117 verwundet, 37.348 fielen als Opfer der Pogroms. Die zarischen Gerichte, von Stolypin inspiriert, haben in diesen fünf Jahren 37.620 politische „Verbrecher“ verurteilt, darunter 31.000 zu schwerem Kerker oder zur Katorga. Auf dem Wege der administrativen Willkür wurden Hunderttausende verbannt, in ihrer ganzen Existenz ruiniert, nach Sibirien verschickt. Die durchschnittliche Zahl der politischen Verbannten in Sibirien und in den wüsten Nordgouvernements des europäischen Russland hat in jedem der letzten Jahre nicht weniger als 25.000 betragen und 6992 wurden durch die Kriegsgerichte Stolypins zum Tode verurteilt und 3741 auch wirklich getötet, von ihnen 3015 politische Verbrecher. Das macht ungefähr, wenn ich nicht irre, zwei österreichische Regimenter aus, und es waren nicht die schlechtesten Regimenter. Wenn sich ein Paläontologe nach ein paar Knochen, die er auffindet, den ganzen Typus eines Tieres vorstellen kann, so können Sie sich nach den paar Zahlen, die ich Ihnen angegeben habe – und diese Zahlen stellen auch menschliche Knochen dar – die ganze politische Atmosphäre vorstellen, in der das russische Proletariat zu leben und zu kämpfen, zu atmen oder zu ersticken verdammt ist. Eine unzählige Masse von Zeitungen und Zeitschriften, von Organisationen, politischen und gewerkschaftlichen, legalen und illegalen, wurde in dieser Zeit unterdrückt, durch Schikanen ruiniert oder durch Verhaftungen vernichtet. Die Zahl der Geheimdruckereien allein, die in diesen fünf Jahren von der Polizei unterdrückt wurden, beläuft sich auf zweihundertzweiundfünfzig. Wenn man sich vorstellt, welche Selbstaufopferung es kostet, eine Geheimdruckerei in Russland einzurichten, so gibt diese Zahl die Vorstellung von der Energie, von der Ausdauer der russischen Arbeiter.

Nun wird ein politischer Skeptiker sagen: „Was hat denn eine Revolution für einen Wert, die zu keinem Resultat führt?“ Nun, Genossen, ist es nicht richtig, dass kein Resultat da wäre. Das Russland, das wir jetzt vor uns sehen, ist ein ganz anderes Russland als das vor der Revolution. Wir leben nicht mehr in dem politischen Dunkel, die Klassen haben für sich Parteien gebildet, die Parteien kämpfen um politischen Einfluss vor den Augen der Masse, und was das für eine Quelle der politischen Aufklärung für das Proletariat bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Wir sind selbstverständlich nicht zufrieden mit dem Resultat. Aber die Mutter Geschichte, die wir manchmal auch Stiefmutter nennen können, ist einmal so, dass sie uns nicht die freie Wahl lässt Wir wurden von der Geschichte auf die Bahn der Revolution hingewiesen, wir haben mit Begeisterung diesen Weg beschritten und wir beklagen uns nicht. Stünden wir in diesem Kampfe wie in einem Zweikampf ehrlich Brust an Brust der Regierung gegenüber, so würde der Kampf für uns besser stehen. Aber hinter dem Rücken der zarischen Regierung steht die konzentrierte kapitalistische Reaktion ganz Europas. War es denn nicht das französische Ministerium des gewesenen rabiaten Ministerstürzers Clemenceau, das im Jahre 1906 der zarischen Regierung eine direkte Kriegsanleihe gegen das russische Volk bewilligte, war es nicht die englische liberale Regierung, die 1907 die sogenannte asiatische Vereinbarung mit der zarischen Regierung getroffen hat, die dieser die Möglichkeit gab, das aufstrebende verjüngte persische Volk auf die infamste Weise niederzutreten ? Und war es nicht die Potsdamer Zusammenkunft, die die letzte Phase der zarischen Politik in Persien einleitete, die das Selbstbewusstsein des Zarismus hob? Darum fühlen wir uns im Kampfe mit dem Zarismus als ein unabtrennbarer Teil der ganzen Internationale, weil unser Feind auch ihr intimster Feind, die brutale Verkörperung der internationalen Reaktion ist.

Deshalb legen wir um so größeres Gewicht auf die Pflege der internationalen proletarischen Solidarität, und die ideale wie die materielle Unterstützung, die uns von dieser Internationale zuteil wurde, ist für uns immer von der größten Bedeutung. Die russischen Arbeiter werden nie vergessen, dass die österreichische Arbeiterschaft ihnen zu Hilfe kam, nicht nur in den Zeiten der Revolution, wo wir sozusagen als Günstlinge der Geschichte in den Strahlen der Revolution dastanden, sondern auch in den schwierigen, düstersten Zeiten der Konterrevolution Die russischen Arbeiter haben mit Begeisterung besonders von zwei Reden vernommen, von der machtvollen Anklagerede des Genossen Adler im ersten österreichischen Parlament des allgemeinen Wahlrechtes wegen der Verurteilung unserer zweiten Dumafraktion und von der flammenden Rede des Genossen Ellenbogen in der Delegation wegen der Folterungen der politischen Häftlinge. In Dankbarkeit bringe ich diese zwei Reden in Erinnerung.

Die schwerste Zeit ist hoffentlich hinter uns. und wir können konstatieren, dass die russische Arbeiterklasse diese schwerste Prüfung ehrlich bestanden hat. In die zweite Duma schickte das russische Proletariat ungeachtet des Zensus etwa sechzig Abgeordnete. Ungeachtet dessen, dass Stolypin das Wahlrecht durch einen infamen Staatsstreich geraubt und ein neues Wahlrecht oktroyiert hat, im Vergleich zu dem Ihr altes Kurienparlament seligen Andenkens sich als eine Burg der Demokratie ausnehmen konnte, ungeachtet dessen, dass die zwei früheren Fraktionen ihre Laufbahn auf der Katorga, in Sibirien oder in der Emigration endeten, ungeachtet dessen, dass sämtliche Parteiführer, die zentralen wie die lokalen, eingesperrt oder ausgewiesen wurden, ungeachtet dessen, dass das russische Proletariat keine Versammlungs-, keine Pressefreiheit besaß, hatte es in die Staatsstreichduma aus eigener Kraft ohne jede Organisation fünfzehn Deputierte gewählt. Das waren für unsere Organisation neue Leute. Sie haben sich aber als wirkliche Repräsentanten der Sozialdemokratie erwiesen und ließen ihre revolutionäre Fahne nicht fallen. Wir haben im nächsten Jahre die Wahl zur vierten Duma und das Proletariat wird dabei hoffentlich seinen Mann stellen, aber der große Kampf wird nicht innerhalb der Mauern des Parlaments durch geführt werden. Die Gegensätze sind so verschärft wie vor der Revolution und die Regierung tut alles, die Gegensätze weiter zu verschärfen. Dumm, niederträchtig, wie die zarische Regierung ist, wendet sie sich mit ihrem ganzen Hasse gegen die Fremden, die Finnländer, die Juden, die Polen, das litauische Volk, die Kaukasier. Sie reizt große Schichten des Volkes auf wie das Bauerntum.

Das Aufleben des Selbstbewusstseins des Volkes, das wir jetzt beobachten, ist zugleich eine Verschärfung der politischen Gegensätze, die Vorbereitung der Revolution. Die Revolution können wir nicht künstlich hervorrufen, wir können sie nur voraussehen und uns vorbereiten. Was wir machen können, ist Aufklärung, Sammlung der Kräfte; aber diese vorbereitende Arbeit vollzieht sich unter dem Losungswort, dass die Revolution nicht für immer tot ist. In unserem Kampfe fühlen wir uns als Ihre Beauftragten, weil er auch Sie von einem drückenden Alb befreien wird, und so ist unser Wunsch: Es lebe die internationale, es lebe die deutschösterreichische Sozialdemokratie! (Anhaltender Beifall.)


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