Franz Mehring: Zünftlerisches und Kapitalistisches

[Die Neue Zeit, X. Jahrgang 1891-92, I. Band, Nr. 10, S. 289-292]

 Berlin, 25. November 1891

Seit einer Woche tagt der Reichstag und zwar vor leeren Bänken und leeren Tribünen. Es ist eine melancholische Zumutung, in diesen sechzig oder siebzig Gestalten, welche die Öde des weiten Saales nicht sowohl beleben, als noch viel öder erscheinen lassen, die Vertreter deutscher Nation erblicken zu sollen. Und schwämmen nicht die paar sozialdemokratischen Hechte in dem Karpfenteiche, so würde er vollends versumpfen. Eine eigene Ironie der Geschichte will, dass gerade die vielgeschmähten Umstürzler des Reiches das politische Ansehen des Reichstages erhalten müssen. Und eine nicht minder drastische Ironie ist es, das gerade jene Waffe, welche die Vertreter der Arbeiterklasse von dem deutschen Parlamente fern halten sollte, sie zu Herren der parlamentarischen situation gemacht hat. Wegen der Diätenlosigkeit können die bürgerlichen Mehrheitsparteien kein beschlussfähiges Haus herstellen, aber trotz der Diätenlosigkeit sind sozialdemokratische Abgeordnete stets auf dem Posten. Und da sie bei jeder Abstimmung den Reichstag durch einen Antrag auf Auszählung stellen können, so verschafft ihnen diese von ihren Gegnern geschmiedete Waffe sowohl die gebührende Rücksicht, welche ihnen in Parlamenten mit Tagegeldern, wie dem sächsischen Landtage, in verbissenem Hasse versagt wird, als auch die Möglichkeit zu erreichen, was sie auf parlamentarischem Boden überhaupt nur erreichen können und wollen. Mit der Versagung der Diäten hat Bismarck einzig das Gegenteil von dem erzielt, was er bezweckte, aber hierin erschöpft sich ja freilich überhaupt das „Genie“ der bürgerlichen Staatsmänner

Mit der Beratung der Novelle zum Krankenkassengesetze ist der Reichstag noch nicht zu Ende, aber dem Spuk des Zünftlerwesens hat seine gestrige Sitzung den Todesstoß versetzt. Die Absage der Regierung an den Befähigungsnachweis und die obligatorische Innung war wieder einmal eine jener kleinen Abschlagszahlungen auf die Riesenschuld von Jahrzehnten, wie sie der „neue Kurs“ liebt. Es ist das Tempo des österreichischen Landwehrmarsches. Herr von Bötticher sagte sich mit staatsmännischer Würde von einem reaktionären Ideale los, das er zu bismärckischen Zeiten mit gleich staatsmännischer Würde zu erwägen pflegte, Von einem reaktionären Ideale, das der konservative Sozialpolitiker Huber vor genau einem Vierteljahrhundert in seiner Schrift „Handwerkernot und Handwerkerhilfe“ als „abgestandene Phrase“ kennzeichnete und mit dem Bibelworte beleuchtete: Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg zeigen? Während der vierundzwanzig Jahre, in denen die deutsche Nation unter Bismarck an der Spitze der Zivilisation marschierte, führte ein Blinder die Blinden, und dasselbe Zunftwesen, welches der konservative, aber in Handwerkerfragen sachkundige Huber vor so langer Zeit schon einen „Holzweg, “ eine „leere Strohdrescherei,“ eine „feige kindische Furcht,“ ein „klägliches Betteln“ nannte, das glänzte als ein besonders kostbares Juwel in dem Raritätenkasten der „Sozialreform von Oben.“

Wie der Franzose bei jedem Unfalle und Verbrechen fragt: wo ist die Frau?, so muss der Deutsche bei jedem staatsmännischen Schritte der Obrigkeit, die ihm gesetzet ist, sich erkundigen: Wo steckt die Sozialdemokratie? Herr v. Caprivi hat sich ja auch ehrlich zu dieser Rücksicht bekannt, aber sie bestimmte das Tun und Lassen Bismarcks deshalb nicht weniger, ja vielleicht nur um so viel mehr, weil sie damals verschwiegen wurde. Das ganze Kokettieren mit den Innungen lief eben hierauf hinaus: nur dass die Innungen unter dem Sozialistengesetze als Schutzwehren gegen die Sozialdemokratie dienen sollten, während sie vordem zu einer etwas anderen Rolle bestimmt waren. Der Zünftlerkongress, welcher im August 1867 unter hohem obrigkeitlichen Wohlwollen zu Quedlinburg tagte, erklärte Schulze-Delitzsch für einen mammonistischen Verführer und trug dem „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ ein halb verschämtes und halb auch nicht verschämtes Wahlbündnis an. Und doch gebietet die Gerechtigkeit gerade Denen, welche die Misshandlung der Arbeiterfrage durch den unglücklichen „König im sozialen Reiche“ am schärfsten verurteilen, das um so offenere Anerkenntnis, dass die wirklichen Verdienste von Schulze-Delitzsch auf dem Gebiete der Handwerkerfrage liegen. Indem er mit seinem Genossenschaftsstatut glücklich die Klippe umschiffte, die das allgemeine Landrecht und später noch schroffer das deutsche Handelsgesetzbuch einem volkstümlichen Bankwesen entgegen stellten, befriedigte er .das längst vorhandene und nur von einer perfiden Gesetzgebung künstlich niedergehaltene Bedürfnis eines geregelten Kreditwesens für das Kleingewerbe. Freilich, wie immer in solchen Fällen, lenkte die ökonomische Entwicklung vielmehr ihn, als dass er die ökonomische Entwicklung lenkte. Denn als das vorhandene Bedürfnis aus den von ihm begründeten Vorschussvereinen in tropischem Wachstum und unter Umgestaltung der ursprünglichen Verkehrsformen eine große Anzahl kleiner Banken entstehen ließ, da sah er auf diese Entwicklung Anfangs mit Misstrauen und Zagen, und als er endlich begriff, das er ein größeres Ding in die Wege geleitet, als er je beabsichtigt hatte, da überschlug er sich sofort nach der anderen Seite und wollte nun gleich die ganze soziale Frage gelöst haben, was ihn denn seinen schnell erworbenen Ruhm noch viel schneller kostete.

Die Arbeiter haben nicht auf ihn gehört, aber noch viel weniger sich, im Guten oder Schlimmen, um die Zünftler gekümmert, und die nachgerade unabweisliche Erkenntnis, dass mit diesem, aus historischem Moder beschworenen Gespenste aber auch rein gar nichts anzufangen sei, hat wohl nicht zuletzt die Regierung bestimmt, endlich den „Holzweg“ zu verlassen, vor dem Huber sie seiner Zeit so eindringlich warnte, Aber nun kommt sie nach beliebter deutscher Manier zu spät; nun ist auch schon der Weg verfallen, den Schulze-Delitzsch bahnte, Über die kleinen Banken stürzt sich die große Börse, und die politischen Erben von Schulze-Delitzsch haben sich auf die Seite der Siegerin geschlagen. Während die anderen bürgerlichen Parteien sich eben mit Messern und Scheren aufmachen, um die Krallen des kapitalistischen Molochs ein wenig zu beschneiden, schart sich die freisinnige Partei zu heldenmütiger Verteidigung um den Mammonstempel, und die delphische Pythia kann nicht mit einem stolzeren Selbstbewusstsein tiefsinniger Weisheit ihre Sprüche verkündet haben, als mit welchem die freisinnige Presse jedem Zweifler an der ewigen Notwendigkeit des Börsenspiels die Anfangsgründe menschlicher Erkenntnis abspricht. Es ist wahr: in den konservativ-nationalliberalen Anträgen zur Reform der Börse steckt keine Überfülle von Weisheit; sie entspringen nicht einem klaren, politischen Willen, sondern nur dem bekannten, philiströsen Biereifer, der niemals früher, als bis ein Kind hineingefallen ist, aber dann auch immer mit tödlicher Sicherheit den Brunnen zudecken – will. Aber immerhin spricht aus ihnen ein gewisses Gefühl der Scham über die scheußlichen Ausbrüche der großkapitalistische Korruption, welche wir in den letzten Wochen erlebt haben, und insofern sind sie um Einiges erträglicher, als das salbungsvolle Predigen der freisinnig-kapitalistischen Blätter gegen die „Börsenhetze,“

Viel herauskommen wird natürlich weder bei der geplanten Gesetzgebung zu Gunsten des absterbenden Handwerks, noch bei den Anträgen zur Eindämmung der immer größere Kreise des nationalen Lebens in ihren Strudel reißenden Börse. Es handelt sich in beiden Fällen um naturgemäße Entwicklungsphasen der bürgerlichen Gesellschaft, welche nur in bedingter Weise durch den Willen der Gesetzgebung beeinflusst werden können, und auch das nur bei richtiger Einsicht in die wirkliche Natur dieser Entwicklung, einer Einsicht, welche den bürgerlichen Parteien ja mehr oder minder fehlt, Aber ohne Interesse für die Arbeiterklasse – sind die betreffenden parlamentarischen Aktionen gleichwohl nicht. Denn was. dem absterbenden Handwerke recht sein soll, das muss der aufstrebenden Arbeit vollends billig sein, wie Grillenberger gestern richtig sagte: „Handwerkerkammern, ja wohl, aber dann auch Arbeiterkammern!“ Und wenn die bürgerliche Rechte erklärt: Die Börse ist ein Giftbaum und muss umgehauen werden, – die bürgerliche Linke aber antwortet: Die Börse ist eine echte Wertschöpferin, und ohne sie kann die heutige Gesellschaft nicht bestehen, so braucht man nur dort den Hintersatz und hier den Vordersatz zu streichen, um aus dem heftigen Widerstreit der Meinungen eine erschöpfende und zutreffende Kritik der heutigen Gesellschaft hervorgehen zu sehen. –

Unter den grimmigen Vorkämpfern der Börse kämpft der Recke von Hagen natürlich am grimmigsten. Umso mehr ist anzuerkennen, das er doch noch die nötige Muße gewonnen hat, auf unsere neuliche Kritik seiner „sozialdemokratische Zukunftsbilder“ mit einem längeren Leiter der „Freisinnigen Zeitung“ zu antworten Leider beweist derselbe nichts, als die hoffnungslose Unfähigkeit seines Verfassers, ökonomische Tatsachen ökonomisch zu debattieren. Unsere bescheidenen Zweifel daran, dass „etwas junge“ Arbeiterinnen bei dem heutigen Stande der Löhne für Frauenarbeit sich schon ein „Kapitälchen“ von über 2000 Mark gespart haben können, beantwortet Herr Eugen Richter mit der Behauptung, das er eine junge Dame von 20 bis 21 Jahren kenne, die dies „Kapitälchen“ als Putzmacherin bereits hinter sich gebracht habe. Da wir den persönlichen Bekanntenkreis des Herrn Eugen Richter nicht auf seine Einkünfte kontrollieren können; so müssen wir die Tatsache dahingestellt sein lassen, allein da der Poet Richter seine Heldin Agnes als typisch für die heutigen Arbeiterinnen hingestellt hat, so muss er allerdings, wenn er anders nicht mit den Interessen armer Arbeiterinnen eine verwerfliche Demagogie getrieben haben will, den Nachweis führen, dass Putzmacherinnen und Nähterinnen heutzutage im allgemeinen Durchschnitt so viel verdienen können, das: es ihnen möglich ist, mit 20 bis 21 Jahren – die denkbar größte Sparsamkeit vorausgesetzt – über 2000 Mark auf die Sparkasse zu kragen. Dass Herr Richter in seiner Agnes keine persönliche Freundin, sondern. einen sozialen Typus hat schildern wollen, geht auch noch aus einem andern Umstand hervor. Der Poet erzählt nämlich, das die Freundinnen seiner Heldin ebenso viel verdienten, wie diese selbst; nur dass sie die Überschüsse ihrer Löhne nicht auf die Sparkasse trügen, sondern für „Ausflüge und Vergnügungen“ verausgabten. Oder will uns Herr Eugen Richter einreden, er spreche hier auch nur von persönlichen Bekanntschaften oder Erlebnissen?

Von einigen anderen, noch kindlicheren Einwänden des Herrn Eugen Richter sehen wir um so lieber ab, als uns – wie es im Jargon der bürgerlichen. Presse heißt – von wohl informierter Seite die Nachricht zugeht, das ein alter Freund des Dichters ihm an der Hand der „sozialdemokratischen Zukunftsbilder“ ein Kolleg über ökonomische Dialektik lesen wird. Diesem annoch Unbekannten, dem jedenfalls, wenn er wirklich hoffen sollte, Herrn Engen Richter noch zu belehren, das Lob eines kindlich rührenden Optimismus nicht versagt werden. darf, mag das Weitere überlassen bleiben.


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