Clara Zetkin: Vorschläge

[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 8, 11. April 1900, S 57 f.]

Die proletarische Frauenbewegung Deutschlands hat sich in klarer Erkenntnis ihres Wesens und Zieles in engster innerer Zusammengehörigkeit mit der allgemeinen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung entwickelt. Mit unzweideutiger Schärfe und Bestimmtheit ist ihrerseits wieder und wieder betont worden, dass sie in erster Linie klassenbewusste Arbeiterbewegung ist. Aber gerade wenn sie die dadurch bedingten Aufgaben erfolgreich bewältigen soll, dürfen bestimmte Tatsachen nicht übersehen werden. Dass die Proletarierinnen, die es zum Klassenbewusstsein zu wecken, zum Kampfe für eine neue soziale Ordnung zu führen gilt, in ihrer Eigenschaft als Frauen in staatsrechtlicher Beziehung eine Sonderstellung einnehmen, in der Familie Sonderpflichten zu erfüllen haben und Sondercharakterzüge aufweisen, welche sich durch die gesellschaftlichen Bedingungen erklären, die seit Jahrhunderten die freie Entwicklung des weiblichen Geschlechts hemmten und sie noch hemmen. Die Schwierigkeiten, welche dadurch für das Werk der Aufklärung und Organisierung der proletarischen Frauen erwachsen, werden durch die proletarische Klassenlage noch vergrößert. Polizeiallmacht und Juristenweisheit brauchen und missbrauchen die politische Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts, um die Bewegungsfreiheit der Proletarierin im öffentlichen Leben weit über das Maß dessen hinaus zu beschränken, was der bürgerlichen Frauenrechtlerin gestattet ist. Zu den Aufgaben der Gattin und Mutter gesellt sich für sie die harte, Kraft und Zeit verzehrende Fron ums tägliche Brot. Die Dürftigkeit der Verhältnisse hindert die Entwicklung zu einer frei denkenden, willensstarken Persönlichkeit und lässt nur zu oft unter dem Drucke der Klassenlage und der Geschlechtslage mit geistiger Rückständigkeit die Sklaventugenden der Fügsamkeit, Bedürfnislosigkeit und des Sichabfindens mit einem kulturfremden Dasein gedeihen. Die Rücksicht auf diese Umstände bedingt, dass der proletarischen Frauenbewegung innerhalb der allgemeinen sozialistischen Arbeiterbewegung bestimmte Sonderaufgaben erwachsen, aber auch, dass sie zum Zwecke planmäßiger und erfolgreicher Arbeit eigener Organe bedarf. Der Parteitag zu Gotha hat mit seinen Beschlüssen, die proletarische Frauenbewegung betreffend, dieser Sachlage Rechnung getragen. Er formulierte die Reformen, für welche die proletarische Frauenbewegung in erster Linie zu kämpfen hat, er forderte die Aufstellung weiblicher Vertrauenspersonen. welche in den einzelnen Orten die Tätigkeit der Genossinnen in engster Fühlung mit der allgemeinen sozialistischen Bewegung leiten sollen.

Innerhalb des Rahmens, der ihr durch ihren Charakter und die tatsächlichen Verhältnisse gegeben ist, hat die proletarische Frauenbewegung zu leisten gestrebt, was sie leisten konnte. An allen Aufgaben, die in diesen Jahren der Sozialdemokratie zugefallen sind, hat sie redlich mitgearbeitet; jederzeit hat sie die Interessen der gesamten Arbeiterklasse über die Sonderinteressen der proletarischen Frauen gestellt. Sie hat auch nicht vergebens gewirkt und gekämpft, das beweisen die Verfolgungen, denen sie sich seitens des Kapitalistenstaats erfreut, dafür spricht der wachsende Anteil, den die Proletarierinnen am politischen Leben nehmen.

Es hieße jedoch rasten und rosten, wollten sich die Genossinnen der Erkenntnis verschließen, dass die proletarische Frauenbewegung in Zukunft mehr leisten muss und auch mehr leisten kann, als in der Vergangenheit. Und zwar gilt es nicht nur kräftiger und umfassender als bisher an den allgemeinen Aufgaben der Sozialdemokratie mitzuarbeiten, als vielmehr auch ganz besonders mit gesteigerter Energie für die Sonderinteressen der proletarischen Frauenwelt einzutreten. Je nachdrücklicher die proletarische Frauenwelt den Kampf führt für die volle Gleichberechtigung der Frau in Familie, Gesellschaft, Gemeinde und Staat, je kraftvoller sie für den Schutz des Menschenrechts der Arbeiterinnen gegen das ausbeutende Unternehmertum wirkt, um so größer sind die Scharen von Anhängerinnen, um so besser ausgerüstet die Kämpferinnen, welche sie dem Sozialismus gewinnt.

Die wichtigste Vorbedingung für höhere Leistungen der proletarischen Frauenbewegung in jeder Richtung ist eine planmäßige, einheitliche Regelung der Arbeit auf Grund einer engeren Fühlung, als wie sie gegenwärtig in unseren Reihen vorhanden ist. Sowohl die Beziehungen zwischen den Genossinnen der einzelnen Orte und Bezirke, wie ihre Fühlung mit der Vertrauensperson in Berlin, hier und auch ihre Verbindung mit der allgemeinen Parteibewegung sind bei Weitem nicht regelmäßig, stetig und fest genug. Aus diesem Stande der Dinge ergibt sich eine nur geringe Einheitlichkeit des Wirkens, die ihrerseits zur Zersplitterung und Schwächung der Kräfte führt.

Die Hauptursache dieser unerquicklichen Erscheinungen ist die politische Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts. In dem weitaus größten Teile des deutschen Reichsgebiets dürfen die Genossinnen weder den sozialdemokratischen Vereinen angehören, noch eigene Organisationen gründen, welche eine Tätigkeit entfalten, die durch behördliche Liebesmüh zu einer politischen umgedeutelt werden könnte. Indessen hieße es Vogelstraußpolitik treiben, wollte man verkennen, dass auch noch andere Umstände den Mangel an steter, enger Fühlung und straffem Zusammenarbeiten bedingen, Umstände, die durch geeignete Maßnahmen gemildert und beseitigt werden können.

Dringend not tut es, dass die proletarische Frauenbewegung in dieser Hinsicht Wandel schafft und ihrem Wirken mit der erforderlichen Einheitlichkeit größere Kraft und reicheren Erfolg sichert. Zu diesem Zwecke muss vor Allem das System der weiblichen Vertrauenspersonen ausgebreitet und besser ausgestaltet werden. Eine klare Festsetzung der Aufgaben und Befugnisse der Vertrauenspersonen, ihrer Stellung und ihrer Rechte gegenüber den Organen der allgemeinen Arbeiterbewegung muss erfolgen. Die in dieser Beziehung vorliegenden Aufgaben sind um so dringlicher, als die Aufhebung des Verbindungsverbots für politische Vereine in Preußen die Möglichkeit zu einer anderen Organisation der Partei gegeben hat. In vielen Orten haben bereits Vereine die Funktionen übernommen, welche seither von Vertrauenspersonen und Volksversammlungen ausgeübt wurden, der nächste sozialdemokratische Parteitag muss zu der Frage der Parteiorganisation Stellung nehmen. Da die Frauen auf Grund des Vereinsgesetzes in den meisten Bundesstaaten von der Mitgliedschaft an politischen Vereinen ausgeschlossen sind, so müssen die Genossinnen damit rechnen, dass sie eventuell noch weniger als jetzt unmittelbar mit den Genossen zusammenarbeiten können. Der bessere Ausbau des Systems der weiblichen Vertrauenspersonen drängt sich in der Folge auf; er ist eine wichtige Vorbedingung dafür, dass die Verbindung zwischen der proletarischen Frauenbewegung und der politischen Partei gewahrt bleibt und gekräftigt wird; er ist eine Vorbedingung dafür, dass die erstere imstande, ist, innerhalb der letzteren die Interessen der proletarischen Frauenwelt mit Nachdruck zu vertreten.

Abgesehen von der Frage der Vertrauenspersonen erheischt auch das Was und das Wie der Agitation unter den Frauen des werktätigen Volks eine gründliche Erörterung. Wie kann diese Agitation am wirksamsten und nachhaltigsten betrieben werden? Was muss geschehen, damit wir insbesondere eine größere Anzahl von Kräften heran schulen, die durch ihre agitatorische und organisatorische Tätigkeit die Bewegung unter dem weiblichen Proletariat in allen größeren Städten und Industriezentren in stetem, kräftigem Fluss erhalten? Diese und andere Fragen noch drängen sich den Genossinnen auf.

Größere Kreise derselben empfinden deshalb das Bedürfnis nach einem eingehenden Meinungsaustausch, wie er durch eine Zusammenkunft, bzw. Besprechung ermöglicht wird. Die Berliner Genossinnen sind der Ansicht, dass eine solche Besprechung am besten in Verbindung mit dem Parteitag zu Mainz stattfinden würde, und zwar zwei Tage früher als dieser seine Arbeiten beginnt. Die Wichtigkeit der zu erledigenden Fragen schließt es aus, dass diese während des Parteitags selbst in einer besonderen Sitzung erschöpfend beraten werden könnten. Der Termin der Zusammenkunft bietet aber die Möglichkeit, dass die Ergebnisse der Beratungen, soweit es nötig ist, von dem Parteitag behandelt, dass ihm insbesondere eventuelle Anträge vorgelegt werden können. Dazu wird der Besprechung bei dem niedrigsten Kostenaufwand eine zahlreiche Beteiligung aus den Kreisen der Genossinnen und Genossen gesichert, zumal auch aus Orten und Gegenden, wo die proletarische Frauenbewegung noch schwach entwickelt ist.

Nach der Meinung der überwiegenden Mehrzahl der Berliner Genossinnen darf die Besprechung weder den Charakter eines geheimen Konventikels, noch den einer nach außen hin wirkenden Parade tragen. Sie bedarf keiner applaudierenden Zuhörerschaft, wohl aber einer möglichst großen Zahl praktisch erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Außer den Delegierten sollen deshalb an der Zusammenkunft solche Genossinnen und Genossen mit beratender Stimme teilnehmen können, von deren Beteiligung eine Förderung der proletarischen Frauenbewegung zu erwarten ist. Ihre Zulassung würde auf Grund von Karten stattfinden, welche das Komitee abgibt. das mit den Vorarbeiten für die Besprechung beauftragt wird. So können Alle zum Wort kommen, welche Aufklärendes und Anregendes zu den vorliegenden Fragen zu sagen haben, und denen der ernste Wille eignet, die Bestrebungen der Genossinnen zu unterstützen.

Schließlich sollten nach der Ansicht der Berliner Genossinnen von der Tagesordnung der Besprechung Fragen grundsätzlicher Natur ausgeschieden werden. Über den grundsätzlichen Charakter und die Ziele der proletarischen Frauenbewegung herrschen keinerlei Meinungsverschiedenheiten. Dagegen handelt es sich darum, über praktische Mittel und Wege zu beraten, wie diese Bewegung am nachhaltigsten gefördert, wie sie ihre Aufgaben am erfolgreichsten lösen kann. Am geeignetsten erscheint es, dass sowohl betreffs des Systems der Vertrauenspersonen wie der Agitation etc. bestimmte, scharf umgrenzte Einzelpunkte aufgestellt werden, so dass die Beratungen sich nicht in ein Meer von Allgemeinheiten verlieren.

Soll die Zusammenkunft zu praktisch fruchtbaren, wertvollen Ergebnissen führen, so ist eins unerlässlich. Dass die Genossinnen allerorts sich in nächster Zeit gründlich mit den angeregten Fragen, mit den unterbreiteten Vorschlägen beschäftigen, sie in ihren Zusammenkünften und in der „Gleichheit“ diskutiere, mit Tatsachenmaterial, Erfahrungen und Anregungen an die Öffentlichkeit treten. Alle einschlägigen Beiträge und Einsendungen sind zur Klärung willkommen. Die Berliner Genossinnen hoffen, dass die mit den vorliegenden Ausführungen eingeleitete Diskussion eine feste Grundlage für die Beurteilung der Verhältnisse und die Arbeiten der Zusammenkunft schafft. Sie sind überzeugt, dass die Besprechung selbst ebenso im Interesse der proletarischen Frauenbewegung wie der allgemeinen sozialistischen Bewegung geboten ist. Was sie durch die Zusammenkunft erstreben ist keineswegs „die Gründung eines Staats im Staate“, ist keineswegs die Schaffung einer Sonderbewegung der Frauen, die quertreiberisch zu einer verderblichen Zersplitterung der proletarischen Kräfte führt. Ihrer Eingangs dargelegten grundsätzlichen Auffassung entsprechend wollen sie vielmehr unter Berücksichtigung der existierenden Sonderverhältnisse die proletarische Frauenbewegung in den Stand setzen, ihre vielseitigen Aufgaben zum Nutzen der allgemeinen Bewegung möglichst vollkommen zu lösen. Von dieser Überzeugung durchdrungen rufen sie den Genossinnen allerwärts zu: An die Arbeit! An die Diskussion!


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