[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 25. Jahrgang, Nr. 23, 6. August 1915, S. 149 f.]
Wahrend die Männer vieler europäischen Nationen auf den blutgedüngten riesigsten Schlachtfeldern der Geschichte für ihre Staaten um Weltmacht und Weltherrschaft ringen, müssen die Frauen daheim einen harten Feind bestehen: den Lebensmittelwucher. Er treibt die Preise der unentbehrlichsten Bedarfswaren künstlich in die Hohe, ohne sich darum zu kümmern, dass sie ohnehin schon infolge des Krieges beträchtlich gestiegen sind. Er kennt keine Bedenken vor dem schmalen und häufig noch geschmälerten Einkommen sehr großer Volkskreise: er hat kein Ohr für die Bitten sorgenbeschwerter Hausfrauen, kein Herz für die Not darbender Mutter und Kinder; ihm ist die Rücksicht auf die Widerstands- und Verteidigungskraft des Heimatlandes fremd, die Achtung vor der Volksgesundheit, der Quelle künftiger Tüchtigkeit, ist ihm toter Buchstabe. Der Lebensmittelwucher hat nur ein Dichten und Trachten: die Stunde so vollständig als möglich auszunutzen, um Einzelnen einen Sondergewinn zuzuschanzen.
Es handelt sich dabei um eine internationale Erscheinung, die wohl in der Treibhaushitze der Kriegsatmosphäre geil aufgeschossen ist, sich aber nicht einmal auf die kriegsführenden Länder beschränkt. Aus der Schweiz erklingen die beweglichsten Klagen darüber, dass wucherische Preistreibereien die Lebenshaltung für die breitesten Massen unerschwinglich verteuern. Nicht anders stehen die Dinge in den Niederlanden, wo Händler Obst, Beeren, Gemüse in Deutschland einkaufen – trotz des Verbots der Ausfuhr! – und statt den heimischen Markt damit zu versorgen, mit fettem Profit nach England schaffen. Der Vorgang ist geradezu ein Schulbeispiel dafür, dass in der vom Privateigentum und Privatinteresse regierten Welt das Geschäft vor dem Vaterland geht. Auf der Internationalen Konferenz sozialistischer Frauen zu Bern waren es die englischen Delegierten, die eine Resolution scharfen Protestes gegen die Preistreibereien beantragten, durch die einzelne Kapitalisten und Kapitalistengruppen den Lebensbedarf des Volkes bewuchern. Sie begründeten diese Resolution ebenso sachlich wie überzeugend durch Beweise, und aus allen vertretenen Ländern erhoben sich Genossinnen, um aus ihrer Heimat die gleiche Erscheinung durch reiches Tatsachenmaterial zu belegen.
Es liegt in der Natur der sozialen Dinge, dass auch das Deutsche Reich sich nicht den unvermeidlichen Folgen der kapitalistischen Wirtschaft zu entziehen vermochte, die seine Grundlage bildet. Mit dem ersten Kriegstag, ja noch vor ihm, in der Zeit der Kriegsgerüchte und der Mobilisation, setzten wilde Preistreibereien ein, und zwar – bezeichnend genug – namentlich mit dem unentbehrlichsten aller Lebensmittel für den „Nähr- und Lehrstand“ daheim, wie für den „Wehrstand“ im Felde: mit dem Getreide. Die Regierung anerkannte das Vorhandensein dieser ebenso schmachvollen als gefährlichen Erscheinung und suchte sie durch die Festsetzung von Höchstpreisen zu bannen. Allein was bei ihrem Eingreifen durch Vertreter der verschiedensten Bevölkerungsschichten und vorurteilslose Fachmänner vorausgesagt wurde, hat sich erfüllt. Dieses Eingreifen erfolgte zu spät, zu zaghaft und zu unvollständig – der Festsetzung von Höchstpreisen fehlte die Ergänzung durch den Verkaufszwang –, als das es imstande gewesen wäre, der Preistreiberei ganz ein Ziel zu setzen. Immerhin hielt es sie in gewissen Schranken. Ohne die Höchstpreise für Getreide und die in Verbindung damit stehenden Verordnungen des Bundesrats waren sicherlich die Gewinne der Großgrundbesitzer, der Händler und namentlich der Spekulanten, die Dividenden der Dampfmühlenaktionäre noch mehr angeschwollen, hatten aber auch die Verbraucher Brot, Mehl, Teigwaren usw. noch erheblich teurer bezahlen müssen, als es der Fall war. Für große Kreise des Volkes würde bitteres Entbehren des Nötigsten an Stelle sorgenvollen Berechnens und Sparens getreten sein. Nun, wo nach einjähriger Dauer des Krieges noch immer keine Aussicht auf den von ungezählten Volksmassen aller Länder heiß ersehnten Frieden zu winken scheint, wenden sich in Erwartung der bevorstehenden Getreideernte einflussreiche gesellschaftliche Machte gegen die geltenden Höchstpreise Sie mochten diese am liebsten ganz beseitigt sehen, oder aber sie ersehnen wenigstens für die Zukunft ihre Steigerung. Sie berufen sich darauf, das infolge des Krieges der Mangel an Arbeitskräften und Gespannen, die höheren Ausgaben für Düngemittel und Viehfutter usw. die Gestehungskosten der neuen Getreideernte verteuert haben. Das stimmt gewiss, doch nicht in dem Maße, dass eine weiter Steigerung der Höchstpreise notwendig und gerecht wäre. Man vergesse nicht, das diese erst festgesetzt wurden, als eine geradezu zügellose Spekulation Getreide und Mehl bereits ganz außerordentlich verteuert hatte. In der freien Kommission des Reichstags erklärte denn auch seinerzeit ein Vertreter der Landwirtschaft, die von der Regierung angesetzten Höchstpreise seien „reichlich hoch“, doch trage die Landwirtschaft keine Schuld daran.
Der Höchstpreis des Brotkorns wurde bekanntlich im November 1914 in Berlin mit 229 Mk. für die Tonne festgelegt, im Osten war er etwas niedriger, im Westen hoher. Dank der vorgesehenen regelmäßigen Steigerung betragt er jetzt 241 Mk. Die große Mehrheit des deutschen Volkes ist mit dem erwähnten Vertreter der Landwirtschaft der Meinung, das diese Preise wirklich „reichlich hoch“ sind. Sie verlangt billigeres Getreide, billigeres Brot. Billigeres Brot bedeutet mehr Brot, eine bessere Ernährung, eine gemilderte Sorgenlast, eine große Sicherheit für die Gesundheit, denn für das Volk ist das Brot „der Stab des Lebens“, wie die Engländer sagen. So ertönt nicht bloß aus den Arbeitermassen, nein, bis tief in die bürgerlichen Schichten hinein die Forderung nach niedrigeren Höchstpreisen für Getreide, aber auch nach dem Verkaufszwang, der erst diese Maßregel voll wirksam werden lässt. Die Teuerungspreise für Brot, Mehl und Teigwaren drücken um so fühlbarer auf das arbeitende Volk, als auch die Kosten des übrigen Lebensbedarfs gewaltig in die Höhe gegangen sind. In erster Linie muss dabei an die Kartoffel gedacht werden, die für Millionen bei der Ernährung das Brot nicht ergänzt, sondern leider ersetzen muss. Trotz der bekannten Maßnahmen der Regierung macht sich – wie es in einem Aufruf des Parteivorstands und der Generalkornmission der Gewerkschaften heißt – auf dem Kartoffelmarkt „der unerhörteste Wucher geltend“. Die Händler halten ihre Vorräte zurück und geben sie nur mit 200 bis 300 Prozent über dem Einkaufspreis ab. Es droht Milchknappheit und ein weiteres Steigen der hohen Milchpreise. Der Preis für Butter ist um 40 bis 50 Prozent in die Höhe gegangen, der für Käse gar um 50 bis 100 Prozent. Die Folge davon ist, das mehr Milch zur Butter- und Käsebereitung verwendet wird, das wenig Milch auf den Markt kommt und mit Teuerungspreisen bezahlt werden muss Dieser Sachverhalt wird besonders zu einer schweren Gefahr für die Säuglinge der besitzlosen und wenig bemittelten Volksschichten. Hier ist die Mutter oft genug nicht imstande, ihr Kind an der Brust zu nähren, und als Stellvertreterin kann nicht eine „kräftige Amme vom Lande“ gemietet werden. Er bedroht aber auch die Gesundheit der Erwachsenen, denen reichlicher Genuss von Milch und Milchgerichten einen Ersatz für das sündhaft teure Fleisch bieten könnte. Die Fleischpreise haben um nahezu 100 Prozent angezogen und steigen weiter. Noch mehr als seit Jahren schon ist Fleisch ein unerschwinglicher „Luxus“ für viel zu viele geworden, denen eine unerbittlichere Herrin als die kirchliche Satzung nicht bloß den Freitag zum Fasttag macht. Den Aufschlag, den das Fleisch in einem Jahre erfahren hat, finden unsere Leserinnen in der Beilage verzeichnet. Wie ungeheuerlich die Preise einiger anderer Lebensmittel gestiegen sind, zeigt diese Übersicht:
| Mai 1914 | Mai 1915 | Mithin Aufschlag: | |
| ein Kilogramm | |||
| Erbsen | 39,9 Pf. | 123,6 Pf. | + 83,7 Pf. = 209,8 Proz |
| Speisebohnen | 45,1 „ | 128,4 „ | + 83,3 „ = 184,7 Pf |
| Linsen | 55,0 „ | 160,4 „ | + 105,4 „ = 191,6 „ |
| Esskartoffeln | 7,6 „ | 14,9 „ | + 7,3 „ = 96,1 „ |
| Butter | 261,4 „ | 354,4 „ | + 93,0 „ = 43.0 „ |
| Weizenmehl | 37,4 „ | 55,2 „ | + 17,8 „ = 47,6 „ |
| Roggenmehl | 29,2 „ | 48,2 „ | + 19,0 „ = 65,1 „ |
| Weißbrot | 52,5 „ | 71,4 „ | + 18,6 „ = 35,2 „ |
| Roggenbrot | 28,2 „ | 43,1 „ | + 14,9 „ = 52,8 „ |
| Reis | 48,6 „ | 122,0 „ | + 73,4 „ =151,0 „ |
| Kaffee | 308,2 „ | 335,6 „ | + 27,4 „ = 6,9 „ |
| Zucker | 50,1 „ | 58,2 „ | + 8,1 „ = 16,2 „ |
| Gerstengraupe | 43,6 „ | 115,7 „ | + 72,1 „ = 165,4 „ |
| Vollmilch l | 20,9 „ | 24,3 „ | + 3,3 = 15,8 „ |
| Eier, Stück | 7,2 „ | 11,6 „ | + 4,4 „ = 61,1 „ |
Es kann nicht bestritten werden, das die Teuerungspreise zu einem großen Teile das Werk von Treibereien sind, die – wie das „Berliner Tageblatt“ richtig sagt – „sich allmählich zu der schwersten inneren Gefahr ausgewachsen haben“. In der Zweiten sächsischen Kammer hat unlängst der Minister des Innern, Graf Vitzthum von Eckstadt, den Lebensmittelwucher als ein Verbrechen am Vaterland bezeichnet. Wie in mancher anderen Angelegenheit, so beweisen Militärbehörden auch in der Frage der Volksernährung einen weiteren und schärferen Blick für materielle Notwendigkeiten [eine knappe Zeile Zensurstreichung] als die Zivilgewalten. Sie suchen die kapitalistische Wirtschaft vor den Folgen der allzu tollen Auswüchse des Eigennutzes einzelner Kapitalisten zu bewahren. In Bayern und Württemberg sind die stellvertretenden Generalkommandos entschieden gegen den Lebensmittelwucher aufgetreten. Auffällig, aber erklärlich genug versagen dagegen die meisten Gemeindeverwaltungen in dem Kampfe gegen diesen Volksfeind so gut wie vollständig. Ein solcher Kampf aber ist Notwendigkeit und Pflicht, und er ist bereits von Körperschaften der verschiedensten Art und Richtung wie von einem großen Teil der Presse aufgenommen worden. Nach den Nachrichten, die zur Stunde vorliegen, wo diese Nummer gedruckt wird, will der Bundesrat die alten Höchstpreise für Getreide festhalten und dem Lebensmittelwucher durch eine Verordnung entgegenwirken. Die konsequentesten und entschiedensten Forderungen erheben, wie recht und billig, der sozialdemokratische Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften. „Namens des werktätigen Volkes, dem der Krieg ohnehin schon große Opfer auferlegt, protestieren sie gegen jede Erhöhung von Höchstpreisen“. Sie fordern, „dass ohne Rücksicht auf die Profitinteressen der Produzenten und Händler mäßige Höchstpreise für alle Lebensmittel festgesetzt werden, die so zu bemessen sind, das die ausreichende Ernährung des Volkes gesichert und jede Bereicherung auf Kosten der Volksernährung ausgeschlossen wird. Durch Beschlagnahme und Verkaufszwang muss das Zurückhalten von Vorraten zum Zwecke der Preistreiberei vereitelt werden.“ Parteivorstand und Generalkommission suchen die Volksmassen zu mobilisieren, deren Stimme den erhobenen Forderungen Nachdruck verleihen muss. In einem Aufruf fordern sie die Parteigenossen im Lande auf, „dem Lebensmittelwucher mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzuwirken. Vor allem müssen die Arbeitervertreter in den Landtagen und Gemeinden ihren ganzen Einfluss einsetzen, um die Versorgung des Volkes mit Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen sicherzustellen.“ Ein Flugblatt soll den Massen ihr Recht und ihre Pflicht zum Bewusstsein bringen, sich mit allem Nachdruck gegen den Lebensmittelwucher zu wenden. Die zehrenden Sorgen des grauen Alltags und die Mutterliebe, die Erkenntnis der Mutterverantwortlichkeit müssen die Frauen des werktätigen Volkes bestimmen, sich mit aller Kraft am Kampfe gegen den Lebensmittelwucher zu beteiligen. Wer zählt die qualvollen Stunden, in denen sie wieder und wieder nachgerechnet haben, ob die kargen Mittel bei den Teuerungspreisen ausreichen können, genügend Brot in die bittende Hand der Lieblinge zu legen? Wer die heimlich geweinten Tranen, wenn alles kluge Haushalten und eigenes Entbehren doch die Kinder nicht vor dem Darben zu schützen vermochte? Aus Not und Liebe erwachse den Frauen, den Müttern der Wille und die Kraft, auch im Kampfe gegen den Lebensmittelwucher voranzugehen. [über 10 Zeilen Zensurstreichung]
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